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Stefan Steinmetz
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Das Lehm(25) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Trischa war zurück. Sie hatte drei Kopien in Lehmingen hinterlassen.
„Ich hatte vielleicht Angst“, sagte sie und schmiegte sich an Themas. Sie versteckte ihr Gesicht an seiner Schulter. „Halt mich! Halt mich ganz, ganz fest!“
Er drückte sie. „Das hast du gut gemacht. Du warst sehr tapfer, Trischa.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin kein bisschen tapfer. Ich habe schreckliche Angst, Themas! Ich fürchte mich zu Tode!“
„Es wird klappen“, sagte er und drückte sie noch fester. „Trischa, wir schaffen das!“
„Hoffentlich“, fiepte sie.

*

Abends war Bürgerversammlung. Die letzte Nacht im Lehm. In der Nacht nach dem folgenden Tag würden sie fortgehen. Themas war zappelig vor Ungeduld. Er war nervös und ängstlich. Je näher der Termin rückte, desto mehr Furcht empfand er. Er konnte Trischa gut verstehen. Die fürchtete sich noch mehr als er. Sie würden ihr Leben aufs Spiel setzen und das ihrer Geschwister.
Aber wir werden frei sein!, dachte Themas. Wenn ich bloß nicht so viel Schiss hätte!
Gleichzeitig drückte es ihm das Herz ab, wenn er daran dachte, Vater und Mutter zu verlieren.
Er lief quer über die Straße und wartete vor Banbirks Haus, bis Trischa heraus kam. Sie kuschelte sich an ihn. „Halt mich!“, bat sie. Er fühlte ihr Herz schlagen.
„Angst?“, fragte er.
Sie nickte: „Ja, und wie!“
„Ich auch.“ Er drückte sie. „Sei stark. Wir schaffen es, Trischa. Du musst ganz fest daran glauben. Komm jetzt! Wir wollen es unseren Zweitlingen sagen. Geh du zu Truschka. Ich sage es Thimas. Morgen Abend um Mitternacht verlassen wir das Lehm.“
Er ging zu seinem Elternhaus und setzte sich vor den Kerker unter der Treppe. Thimas kam ans Gitter: „Hallo Themas. Hast du mir ein neues Buch mitgebracht?“
Themas schüttelte den Kopf: „Nein. Heute habe ich nichts für dich außer einer Nachricht. Morgen Nacht werde ich dein Verlies aufsperren und wir werden aus dem Lehm fliehen. Trischa und ihre Schwester werden uns begleiten.“
Sein Bruder starrte ihn durch das Gitter an. „Themas! Ist das dein Ernst?“
„Mein voller Ernst! Vor einiger Zeit habe ich Tante Brilla und Onkel Jidler in Landsweiler getroffen. Sie gaben wir wertvolle Tipps für die Flucht. Ich habe dir nichts gesagt, weil ich ...“ Themas stockte. „Ich wollte nicht ...“
„Du wolltest mir keine unnötige Hoffnung machen“, sagte Thimas. „Für den Fall, dass ich vor dem Fluchttermin als Gabe erwählt würde.“
„Ich brachte es nicht übers Herz“, sagte Themas. „Bitte verzeih mir!“
„Es gibt nichts zu verzeihen, Bruder.“ Die Stimme von Thimas klang weich. „Erzähl mir alles, bitte.“
Themas erzählte seinem Zwilling alles. Zum Schluss weinte Thimas.
„Frei!“, flüsterte er. „Wir werden frei sein! Frei und ohne Todesangst!“
„Ja“, sagte Themas. „Vielleicht solltest du es nicht den anderen eingesperrten Kindern sagen. Es wäre grausam, denn sie müssen alle zurückbleiben in ihren Gefängnissen.“
„Es wäre grausam, es ihnen nicht zu sagen“, sagte Thimas. „Sie bekommen eh mit, wenn wir geflohen sind. Die Suchmannschaften und all das; die große Aufregung. Sie müssen es erfahren, Themas. So haben sie wenigstens ein kleines bisschen Hoffnung. Sie können träumen und uns in Gedanken begleiten.“
„Ist gut“, sagte Themas. „Lass es sie wissen.“ Er holte etwas aus seiner Hosentasche: „Hier, zieh die morgen Abend an. An die Hand- und Fußgelenke. Es sind Eisenketten. Sie werden uns schützen. Das Lehm fürchtet Eisen. Du musst die Knöchelketten so anlegen, dass sie beim Gehen nicht den Boden berühren, sonst würde das Lehm erwachen.“
„Ich habe oft genug gesehen, wie die Lehma ihre Fußketten trägt“, sagte Thimas. „Ich weiß, was du meinst. Ich werde es richtig machen.“ Er schaute Themas durch das Eisengitter an: „Glaubst du, wir werden es schaffen?“
„Ja“, antwortete Themas. „Ich glaube fest daran, dass wir durchkommen, wenn wir uns an Tante Brillas Rat halten und die Dammstraße meiden. Draußen in der weglosen Wildnis schläft das Lehm bei Neumond tief und fest. Man darf es nicht wecken. Wir müssen leise sein.“

*

Am nächsten Tag war Themas zappelig vor Nervosität. Er hatte alles vorbereitet. In seinem Rucksack steckten die Klamotten für alle vier Flüchtlinge. Er hatte all seine Hefte im Dorf verteilt. Eins steckte in einem Kleiderstapel seiner Mutter, zwischen den dickeren Blusen, die sie im Herbst immer trug. Wenn es in einigen Wochen kühler werden würde, würde sie das Heft finden.
Er hatte in einem unbeobachteten Moment den Schlüssel zum Verlies aus der Lehmastatue stibitzt und eingesteckt.
Nun streifte er ruhelos durch Lehmborn. Trischa war nicht da. Sie musste ihrer Mutter beim Einkochen von Marmelade helfen. Themas war allein.
Er beschloss, draußen vorm Dorf ein wenig auf der Mundharmonika zu spielen, um sich zu abzulenken. Die Musik würde ihn entspannen.
Er marschierte am Priesterhaus vorbei und nahm den Weg hinaus in die Sandebene. Hinter einem kleinen Baumhain setzte er sich auf einen kniehohen Sandhügel, der mit Gras bewachsen war. Er setzte die Mundharmonika an die Lippen und begann zu spielen.
Er saß noch nicht lange dort, als jemand zu ihm kam und einige Schritte vor ihm im Sand stehen blieb. Es war Grutie Umpfbeetl, die Lehma.
Die schon wieder, dachte Themas. Man könnte meinen, sie sei hinter mir her. Lauert sie mir auf? Ahnt sie etwas? Will sie mir eine Falle stellen? Oder hat sie ehrliches Interesse an meiner Musik?
Er schaute Grutie an, blickte in ihre Augen, Augen von fremdartiger Farbe und doch die Augen eines zutiefst einsamen Kindes.
„Themas Irrlucht“, sagte Grutie. „Darf ich dir zuhören, wenn du spielst?“ Sie klang schüchtern, beinahe ängstlich.
Nein, entschied Themas, sie will mir nichts Böses. „Sicher darfst du zuhören“, sagte er und lächelte sie aufmunternd an.
Sie setzte sich vor ihm in den Sand und schaute zu ihm auf: „Danke, Themas.“
Er sah sie da sitzen. Wieder hielt sie sich aufrecht und sie hatte die Beine so angewinkelt, dass ihre bloßen Füße auf den Sohlen standen. Die Arme schlang sie um die Knie.
Sie muss aufpassen, wie sie sich hinsetzt, überlegte er, damit ihre Eisenketten den Boden nicht berühren.
Grutie saß da und schaute zu ihm hoch. Sie sah klein und verlassen aus. Von ihrer sonstigen hochnäsigen Art war nichts zu spüren.
„Wie ist es draußen?“
Ihre Frage überraschte ihn. „Wie soll es schon sein?“
Grutie schaute ihn an. „Ist es dort ...“ Sie machte eine vage Geste „... schön?“
Er zuckte die Achseln: „Kommt drauf an, was man unter schön versteht.“
„Kann man dort gut leben?“
Themas war auf der Hut. Jedes Wort konnte ihn Kopf und Kragen kosten. „Es leben eine Menge Menschen dort draußen und offensichtlich führen sie ein gutes Leben.“
Sie schaute ihn mit schief gelegtem Kopf an: „Erzählst du mir davon? Bitte!“
Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie war vollkommen anders als sonst. Es war, als wäre sie komplett umgedreht worden. Nun … warum nicht die Wahrheit sagen? Wenn sie danach fragte?
„Viel habe ich nicht gesehen“, begann er. „Nur Landsweiler und davon auch nicht viel. Meistens treibe ich mich auf der Hauptstraße herum, wo all die Ladengeschäfte sind und natürlich am Bahnhof, wegen der Eisenbahn.“
„Ist es wahr, dass die Häuser dort alle mehrstöckig sind?“
„Die meisten sind zweistöckig, ein paar dreistöckig“, antwortete er. „Die Ladeninhaber wohnen oft über ihren Geschäften im oberen Stockwerk. Die Häuser sind schön. Viele sind aus Sandstein errichtet, andere aus Ziegelsteinen. Hinter den großen Schaufenstern stellen die Händler ihre Waren aus. Die Hauptstraße hat ein Kopfsteinpflaster.“
„Erzählst du, bitte?“, bat Grutie. Ihre Stimme war ganz leise.
Themas erzählte. Es war ein seltsames Gefühl über all die Dinge im Draußen zu sprechen, während Grutie vor ihm im Sand saß und ihm andächtig zuhörte.
„Neben dem Laden mit Töpferwaren und Geschirr ist das Schaufenster von Meyer. Ein Sandsteinhaus“, erzählte er.
„Dort hast du die Mundharmonika gekauft stimmt’s?“, fragte Grutie.
Er nickte. „Ja, genau.“
Sie lächelte ihn an. Sie sah richtig lieb aus. Nicht wie sonst.
Alle halten sich von ihr fern, dachte er. Er erinnerte sich daran, wie die Kinder vor Grutie zurückgewichen waren, als die kleine Lehma sich dazusetzte, um seinem Mundharmonikaspiel zu lauschen.
Was muss das für ein Leben sein, so allein und isoliert, von allen gleichzeitig verehrt und gefürchtet? Kein Wunder, wenn sie manchmal so eklig und bockig ist. Und so verwöhnt und herrschsüchtig. Ich glaube nicht, dass sie sich wirklich wohlfühlt. Niemand hat sie gefragt, ob sie die neue Lehma werden will. Sie wurde ausgesucht. Es wurde ihr befohlen. Das Lehm selbst hat es ihr mitgeteilt und sie vereinnahmt. Vielleicht gefällt es ihr überhaupt nicht.
Grutie schaute zu ihm auf, sie blickte ihn aus ihren lehmfarbenen Augen an.
„Es ist immer bei mir“, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gehört. „Immer. Ich bin nie allein. Es spürt mich und ich spüre das Lehm. Ich kann es sogar fühlen, wenn ich im Innern eines Hauses bin; durch die Sohlen meiner Füße. Es steigt in mir auf. Es ergreift Besitz von mir. Es ist in mir. Manchmal lenkt es mich und ich kann nichts dagegen tun.“
„Spricht es wirklich zu dir?“, fragte Themas. „Kannst du hören, was es sagt?“
Gruties Blick senkte sich. „Keine richtigen Worte ... Es … es sind eher Bilder und Gefühle, die mir übermittelt werden. Es ist schwer zu erklären. Manchmal sehe ich alles deutlich. Dann wieder ist es undeutlich und verwischt. Gelegentlich kann ich auch etwas wie Sprache wahrnehmen.“ Sie schaute ihn an. „Das Lehm ist so fremdartig. Ich kann es nicht verstehen. Nicht wirklich. Es ist so anders als wir Menschen. Oft fürchte ich mich. Ich begreife nicht, warum es unbedingt Gaben haben will. Es will alles Zweitgeborene. Es will immerzu haben. Es will immerzu herrschen. Es will alles kontrollieren und bewachen.
Auch mich überwacht es ständig. Es kommt aus dem Boden in mich hinein. Ich muss immer barfuß laufen, damit es Kontakt zu mir aufnehmen kann, wenn ihm danach ist. Ich darf niemals Schuhe tragen. Auch im Winter nicht. Dann ist es oft sehr kalt. Das ist nicht schön.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht schön. Es … die Gaben, die es verlangt ...“ Grutie schaute auf ihre Füße im Sand. „Es versteht uns nicht. Uns Menschen. Wir sind ganz anders als das Lehm. Es hält es für normal, dass ein oder mehrere Teile eines Ganzen sich für das Gesamte aufgeben. Das Lehm versteht unser Sterben nicht, glaube ich, und ich weiß nicht, wie ich es ihm zeigen könnte. Es scheint nicht zu merken, wie schrecklich für unsereinen der Tod sein kann, wenn man leiden muss. Dann wieder kommt es mir vor, als wüsste das Lehm das ganz genau und als ob es mit Absicht die Opfer quält.“ Gruties Blick wurde leer. „Es ist kalt. Es ist grausam. Es ist ohne Erbarmen. Es will haben. Es will besitzen. Es will beherrschen. Was es besitzt, gibt es nicht mehr her. Auch mich nicht. Ich bin die Lehma. Die Leute glauben, das bedeutet, ich sei eine Priesterin, eine Herrscherin, aber in Wirklichkeit bin ich eine Sklavin. Eine Gefangene. Und alle weichen vor mir zurück. Alle.“
Themas schluckte. Er lauschte mit angehaltenem Atem. Wie traurig die kleine Lehma klang.
„Alle verehren mich“, sagte Grutie. „Das Lehm hat es mir vorausgesagt, als es mich erwählte. „Sie werden dich verehren und dir dienen. Sie werden dir gehorchen und deinen Befehlen folgen. Befiel und alle werden tun, was du verlangst. Du wirst über sie herrschen.“ Sie presste die Lippen aufeinander. „Wenn ich zu Besuch bei meinem Eltern bin, behandeln sie mich mit Ehrfurcht.“ Sie schaute Themas an. Er sah blanke Verzweiflung in ihren Augen stehen. „Ehrfurcht, Themas Irrlucht! Ehrfurcht kommt von Furcht. Sie fürchten mich. Meine Eltern fürchten sich vor mir. Seit ich die Lehma bin, haben meine Mama und mein Papa mich nicht mehr in die Arme genommen. Nie mehr! Sie fürchten mich, weil ich die Lehma bin, die höchste Priesterin im Lehm, die Botschafterin des Lehms, die Überbringerin seiner Nachrichten und Wünsche und diejenige, die die Gaben für das Lehm auswählt.“
Grutie stieß einen zittrigen Seufzer aus. „Ich war doch noch so klein, als das Lehm mich erwählte! Seitdem bin ich allein. Ganz allein. Niemand nimmt mich in die Arme. Die Priester sowieso nicht. Die verehren mich und sie dienen mir. Sie machen mir das Essen. Sie waschen meine Kleider. Sie machen mein Bett. Wenn wir durchs Lehm wandern, tragen sie mein Gepäck. Aber sie nehmen mich nicht in die Arme. Niemand tut das.
Weil sie Angst vor mir haben. Ich habe gesehen, wie die Kinder vor mir zurückwichen; gestern, als du Mundharmonika gespielt hast.“
Grutie atmete heftig ein und aus. „Das Lehm hat mich erwählt, weil ich … weil ich … ich habe immer gerne bestimmt, wenn ich mit den anderen Kindern spielte. Ich wollte gerne die Anführerin sein und sagen, was jeder tun muss. Das Lehm hat mir Einflüsterungen gegeben, von Macht und Herrschaft. Das Lehm weiß genau, wen es auswählen muss.“
Themas starrte das Mädchen an. Er konnte nicht glauben, was er gerade gehört hatte. War das wirklich Grutie Umpfbeetl?
Sie ist elf!, dachte er. Gerade mal elf!
Sie war noch ein Kind. Elf Jahre alt. Er selbst ging stramm auf die fünfzehn zu. Er kam sich Grutie gegenüber sehr erwachsen vor. Doch vor ihm saß kein Kind im Sand. Die Augen Gruties waren die Augen eines alten Menschen, eines Menschen, der müde und unglücklich war.
„Themas Irrlucht?“, sagte Grutie leise. „Bitte, lass uns aufhören, von diesen Dingen zu sprechen. Bitte, spielst du für mich?“
Er nickte stumm und setzte die Mundharmonika an die Lippen.
Er spielte eine Stunde lang. Die ganze Zeit saß Grutie still vor ihm im Sand und hörte zu. Ganz zum Schluss spielte er das Lied, dass er für sie erfunden hatte. Er sah, wie ihre Augen größer wurden und einen Glanz annahmen. Sie hob eine Hand. Es sah aus, als wolle sie die Melodie anfassen. Sie lauschte andächtig.
Schließlich hörte Themas auf zu spielen. Er war mit seinem Repertoire durch. „Das war alles, was ich kann“, sagte er und steckte die Mundharmonika ein.
Grutie sah zu ihm auf. „Danke, Themas Irrlucht.“ Sie stand auf. Ihre eisernen Ketten klirrten leise. Themas erhob sich ebenfalls. Grutie stand vor ihm. Sie war viel kleiner als er.
„Danke“, sagte sie noch einmal. „Danke, dass du für mich gespielt hast. Danke, dass du nicht vor mir zurückgewichen bist.“ Sie stand da mit hängenden Armen und schaute zu ihm auf: „Themas. Ich … ich will nicht mehr so sein. Ich … ich werde mich ändern. Ich werde nicht mehr herrschsüchtig sein. Ich werde keine Befehle mehr geben. Ich will nett sein. Ich will den Menschen danken, wenn sie etwas für mich tun. Ich will nicht mehr eklig sein. Ich werde mich ändern. Ich verspreche es.“
Sie schaute ihn aus großen Augen an. „Aber Themas, ich muss … ich kann nicht … was das Lehm verlangt, das muss ich tun. Ich muss in seinem Namen sprechen und ...“ Ihre Stimme erstarb.
Themas konnte nicht anders. Er hob die Hand und streichelte ihr über die Wange. Sie legte den Kopf schief und lehnte sich an seine Hand, um die kleine Zärtlichkeit so lange wie möglich auszukosten. Ihre Augen wollten ihn schier auffressen.
„Danke, Themas Irrlucht“, sagte sie noch einmal. „Es ist so lieb von dir, dass du mir eine Mundharmonika mitbringen und mit mir üben willst. Ich freue mich auf meine eigene Mundharmonika und darauf, mit dir das Heft zu studieren. Ich freue mich darauf, mit dir zu lernen. Danke, dass du mit mir … danke! Es bedeutet mir sehr viel, Themas. Du bist sehr lieb. Vielen Dank.“
Themas wusste nicht, was er sagen sollte. Grutie tat ihm leid. Sie würden nie zusammen auf der Mundharmonika üben. Er würde in der folgenden Nacht das Lehm verlassen. Sie würden einander nie wiedersehen. Er schämte sich, weil das Mädchen so dankbar war.
„Themas?“ Sie schaute ihn aus ihren fremdartig gefärbten Augen an. Er sah Zweifel und Angst in diesen Augen stehen. Ahnte sie etwas? Hatte er sich unbewusst verraten? „Themas Irrlucht?“
„Ja, Grutie?“
„Wirst du wirklich mit mir auf der Mundharmonika üben?“
Jetzt steckte er in der Klemme. Die Wahrheit konnte er nicht sagen, ohne sich zu verraten. Doch er wollte sie nicht anlügen. Er wollte ihr nicht wehtun.
„Wirst du, Themas?“, bohrte sie nach. Sie sah sehr klein und sehr verletzlich aus.
Er gab sich einen Ruck. „Ja, Grutie“, sagte er. „Wenn du zu mir kommst, werde ich mit dir üben. Jederzeit, Grutie. Wann immer du möchtest.“
Plötzlich umarmte sie ihn heftig. Sie presste ihr Gesicht an seine Brust und drängte sich an ihn. „Danke, Themas“, sagte sie. „Danke. Danke. Danke!“
Er legte die Arme um sie und drückte sie. Sie gab einen Seufzer von sich, einen Laut von solcher Verzweiflung und Einsamkeit, dass es ihm ins Herz schnitt.
„Themas! Themas!“, sagte sie und drängte sich ganz fest an ihn. Er hielt sie fest. So standen sie fast eine Minute lang.
Dann löste sich Grutie von ihm. Sie schaute zu ihm auf und blickte ihm tief in die Augen. „Danke, Themas“, flüsterte sie. „Du bist so lieb. Danke.“ Sie drehte sich um und lief weg. In langen Sätzen eilte sie über den Sand. Sie sprang leichtfüßig über Heidekrautpolster. Sie flog dahin. Ihre bloßen Füße schienen den Boden nicht zu berühren.
Er schaute ihr nach. Er fühlte sich nicht gut. Am liebsten wäre er hinter ihr her gerannt und hätte sie eingefangen, um ihr die Wahrheit zu sagen.

28.08.2017 05:24 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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