Registrierung PM-BoxMitgliederliste Administratoren und Moderatoren Suche Häufig gestellte Fragen Zur Startseite  

Stefans Geschichten » Willkommen auf der Homepage von Stefan Steinmetz » Die kleine Privat-Ecke » Das Lehm » Das Lehm(26) » Hallo Gast [anmelden|registrieren]
Druckvorschau | An Freund senden | Thema zu Favoriten hinzufügen
Neues Thema erstellen Antwort erstellen
Autor
Beitrag « Vorheriges Thema | Nächstes Thema »
Stefan Steinmetz
Administrator




Dabei seit: 10.02.2006
Beiträge: 1744

Das Lehm(26) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Sie saßen beim Abendessen. Themas war still und in sich gekehrt. Immer wieder warf er seinen Eltern Blicke zu. Er wusste, dass er sie zum letzten Mal sah. Ihm war eigenartig zumute. Er war euphorisch, weil er sich darauf freute, dem Lehm zu entkommen und seine geliebte Tante und den geliebten Onkel wiederzusehen und für immer mit ihnen zusammen zu sein. Gleichzeitig drückte es ihm das Herz ab, zu wissen, dass er seine Eltern verlieren würde.
Ob sie ihm ins Draußen folgen würden, wenn sie das geheime Heft gelesen hatten? Themas hoffte es von ganzem Herzen, aber er schätzte die Chancen darauf nicht sehr hoch ein. Seine Eltern waren gehorsame Gemeindemitglieder.
Themas ging früh zu Bett, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Er lag unter der Decke und wälzte Gedanken. Er dachte an Grutie Umpfbeetl. Die kleine Lehma hatte ihn in den vergangenen Tagen überrascht. Sie hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht. Konnte es wirklich sein, dass Grutie sich ändern wollte?
Themas kaute auf seiner Unterlippe. Was, wenn sie etwas ahnt? Wenn sie denkt, ich wolle abhauen? Hat sie sich so aufgeführt, um mich umzustimmen? Um mich dazu zu überreden, das Lehm nicht zu verlassen? Spielt sie ein falsches Spiel?
Er kannte Grutie Umpfbeetl nur als herrschsüchtiges, hochnäsiges Ding, das voller Hinterlist steckte. Jedenfalls hatte Grutie sich meist so benommen. Und nun sollte das alles vorüber sein? Es war schwer zu glauben. Aber Grutie hatte ihm nichts vorgespielt, als sie ihn draußen vorm Dorf umarmt hatte; oder besser: als sie sich an ihn geklammert hatte.
Die hatte sich wieder und wieder bei ihm bedankt, weil er nicht vor ihr zurückwich wie die anderen. Weil er sich mit ihr abgab. Er hatte kein intrigantes, durchtriebenes Biest in den Armen gehalten, sondern ein zutiefst einsames Kind, das sich verzweifelt nach Zuwendung sehnte, ein Kind, das einfach nur als Mensch wahrgenommen werden wollte, ein Kind, das Anschluss wünschte, das dazugehören wollte.
Themas dachte, er sei zu aufgeregt, um einzuschlafen. Doch er schlief über diesen Gedanken ein.
Als er mit einem Ruck aufwachte, war er orientierungslos. Wo war er? Wie spät war es? Er fuhr hoch. Hatte er verschlafen? Er stand auf und tappte zu der kleinen Luke in der Dachschräge. Er schaute hinaus. Weiter vorne erkannte er das Bürgermeisterhaus. Oben in dem kleinen Turm auf dem Haus von Prick Holfer brannte das Nachtlicht.
Themas zog sich an. Er holte den Rucksack unter seinem Bett hervor und zog ihn über. So leise er konnte, verließ er das Haus. Mit weichen Knien schlich er die Treppe hinunter zum Kerker seines Zwillingsbruders: „Thimas?“
„Ich bin wach, Themas.“
„Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?“
„Kurz vor Mitternacht. Du bist pünktlich.“
Themas atmete auf. Er holte den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. In der Dunkelheit der Neumondnacht war das nicht leicht. Der Himmel war voller Sterne, doch ihr Licht war zu schwach, um Einzelheiten zu erkennen. Themas wünschte, er hätte eine kleine Laterne zur Verfügung, aber es war viel zu gefährlich, Licht zu machen. Er drehte den Schlüssel im Schloss und zog die Gittertür auf. Sie quietschte hörbar.
„Mist!“, wisperte Themas. Er hob die Tür an und zog sie langsam auf. Das Quietschen wurde leiser, aber es hörte nicht auf. Er meinte sogar, ein zweifaches Quietschen und Knarren zu hören, als würde eine weitere Tür am Haus geöffnet. Wenn man die Haustür aufstieß und dabei nicht die Klinke anhob, knarrte die Tür in ihren Angeln.
Ich sehe Gespenster, dachte Themas. Ich höre Geräusche, die nicht wirklich sind.
Das Herz schlug ihm hart gegen die Rippen. Er war vor Aufregung ganz zittrig.
Endlich war das Gitter offen. „Komm raus, Thimas.“
Sein Bruder kroch aus der Öffnung unter der Treppe. Sie erhoben sich. Thimas stand unsicher auf den Beinen.
Er kann nicht gut stehen, weil er in seinem Gefängnis immer nur saß und lag, überlegte Themas. Hoffentlich kann er einigermaßen laufen.
Sie standen voreinander und schauten sich im Sternenlicht an. Unvermittelt fielen sie sich in die Arme.
„Danke!“, murmelte Thimas. „Danke, dass du mich rettest!“
Themas sah sich um. Wo waren Trischa und ihre Schwester? „Lass uns rüber zu Banbirks gehen. Sie müssten jeden Moment kommen. Sie sollten ...“ Er brach ab. Eine Gestalt kam über die Straße auf sie zu; eine einzelne Gestalt. Themas starrte in die Finsternis. Wer kam? Er erkannte Trischa.
„Trischa!“, wisperte er. „Wo ist Truschka?“
Sie kam zu ihm und warf sich in seine Arme. Sie zitterte am ganzen Leib, als hätte sie schlimmes Fieber. Er hielt sie fest.
„Trischa!“, flüsterte er. „Trischa, was ist los? Ist etwas passiert? Hast du die Tür nicht aufbekommen?“
„Ich … ich ...“, flüsterte Trischa. Ihre Stimme bebte. „Themas, ich kann nicht! Ich kann nicht mitkommen!“
„Trischa! Was sagst du da?!“
„Ich kann nicht!“, wimmerte das Mädchen. „Ich habe zu viel Angst. Das Lehm wird uns töten! Ich kann nicht! Themas, ich kann nicht mitkommen!“
Themas fühlte, wie eine kalte Hand nach seinem Herzen griff. „Trischa“, flüsterte er. „Es wird schon klappen. Wir werden entwischen. Komm mit uns!“
Sie fing an zu weinen. „Ich kann nicht!“, schluchzte sie. „Ich habe solche Angst, dass mir schlecht wird.“
Er packte sie bei den Schultern. „Nein, Trischa! Hör auf! Du machst dich selbst verrückt! Reiß dich zusammen! Du musst es nur wollen!“
Plötzlich vernahm er eine Stimme hinter sich: „Hör auf, Themas! Du kannst sie nicht zwingen. Lass sie! Sie hat zu viel Angst. Wenn sie dermaßen verängstigt ist, wird sie es nicht nach draußen schaffen.“
Themas fuhr herum. Seine Mutter stand hinter ihm. Ihr Nachthemd leuchtete im schwachen Licht der Sterne. „Mama!“
Sie kam zu ihm: „Ich wusste, dass du es tun wirst! Ich habe es die ganze Zeit gespürt!“ Sie umarmte ihn und drückte ihn an sich.
„Mama, ich ...“, fing er an.
Sie ließ ihn los und legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen: „Scht! Es ist gut, Themas. Es ist gut, was du tust.“ Sie wandte sich Thimas zu: „Ich verliere dich lieber auf diese Art als auf die andere! Statt ins Lehm gehst du aus dem Lehm, mein verlorener Sohn.“ Sie umarmte Thimas.
„Mama“, flüsterte Thimas. „Mama!“ Er fing an zu weinen. Die Mutter ebenfalls.
Themas wandte sich an Trischa: „Trischa, bitte! Gib dir einen Ruck! Ich kann nicht ohne dich fortgehen.“ Er fasste ihre Hände: „Trischa! Du und ich …! Bitte Trischa!“
„Ich habe solche Angst“, wisperte sie. „I-I-Ich kann nicht z-z-zum Haus g-g-gehen. Ich kann n-n-nicht!“
„Hast du den Schlüssel? Gib ihn mir, Trischa. Ich hole deine Schwester.“
Sie schüttelte den Kopf: „Ich habe mich nicht g-g-getraut, ihn aus der Statue zu holen.“
Themas zischte einen Fluch. Was sollte er tun?
„Nimm unseren Schlüssel“, sagte seine Mutter. „Sie sind alle gleich. Sie passen überall.“ Sie ließ seinen Zwillingsbruder los und strich Themas über den Kopf: „Geh, Junge! Eile dich! Ihr müsst fort, ehe das Lehm aufmerksam wird.“
Themas überquerte die Straße in geduckter Haltung. Er kniete vor dem Verlies unter der Treppe von Banbirks Haus: „Truschka? Bist du wach?“
„Ja“, kiekste es von drinnen. Er hörte die Angst aus der Stimme des Mädchens heraus. Sie musste halb irre vor Furcht sein, weil Trischa sie nicht befreit hatte. Sie steckte in ihrem Gefängnis fest, aus dem man sie nur herauslassen würde, um sie vom Lehm ermorden zu lassen.
„Ich hole dich raus. Du musst ganz leise sein!“ Er schloss auf und zog an der Gittertür. Auch diese quietschte grässlich laut in den Angeln. War das Absicht? Sollte das ein Alarmzeichen sein? Themas verfluchte die Tür. Er öffnete sie langsam. Wenn er sie nicht zu schnell bewegte, kreischte sie nicht so aufdringlich.
Endlich war sie offen. Truschka kam herausgekrochen. Sie krallte sich an ihm fest und schluchzte trocken. Er fühlte ihr Herz schlagen.
„Es ist gut, Truschka“, murmelte er. „Beruhige dich. Es wird alles gut.“
„Sie hat mich nicht herausgelassen!“, wisperte das Mädchen. Seine Stimme zitterte ebenso wie ihr Körper. „Nicht herausgelassen! Sie ist einfach vorbei gelaufen und hat mich zurückgelassen!“
„Jetzt bist du draußen.“ Themas half ihr aufzustehen und stützte sie, während sie zum Irrlucht-Haus liefen. Sie kamen am Haus der Honicks vorbei. Ein bleiches, kleines Gesicht schwebte in der Dunkelheit hinter der Gittertür. Große Augen schauten zu ihnen heraus. Es war Drisies Zwillingsschwester. Das neunjährige Mädchen saß in seinem Kerker fest, ohne Chance, seinem entsetzlichen Schicksal zu entgehen. Eines Tages würde man es aus dem Gefängnis herauszerren und irgendwo vorm Dorf dem Lehm übergeben. Das Mädchen wusste das. Es wusste, dass es nur lebte, um irgendwann einen grausigen Tod zu sterben.
Themas blieb stehen. Alle Schlüssel waren gleich, hatte seine Mutter gesagt. Sie passten überall. Das hatte er gerade bewiesen, als er mit dem Schlüssel seiner Mutter das Verlies der Banbirks aufgeschlossen hatte.
„Warte hier!“, wisperte er Truschka ins Ohr. Mit einigen schnellen Schritten war er beim Haus der Honicks. Er bückte sich und schaute zu dem kleinen Mädchen im Kerker hinein: „Du musst ganz still sein, hörst du?“
Sie nickte stumm und schaute ihn aus großen Augen an. Themas probierte den Schlüssel. Er passte. Auch diese Gittertür kreischte in den Angeln. Themas gab nichts darauf. Er riss sie auf.
„Komm!“, flüsterte er. „Rasch!“ Er half dem Kind beim Aufstehen und führte es zu Trischas Zwillingsschwester. Zu dritt liefen sie zu den Anderen.
Trischa riss ihre Zwillingsschwester in die Arme. „Truschka! Oh Truschka, es tut mir leid! Ich hatte solche Angst! Ich wollte im Lehm bleiben. Ich ...“ Schluchzend umklammerte sie ihre Schwester. „Truschka, vergib mir! Bitte verzeih mir! Ich wollte dich nicht zurücklassen! Ich hatte Angst! Oh Truschka! Meine Schwester!“ Truschka sagte nichts. Sie drängte sich nur an Trischa und weinte still.
„Kinder, ihr müsst gehen!“, flüsterte die Mutter von Themas. Sie umarmte Thimas, als wolle sie ihn nie wieder loslassen und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. „Mein verlorener Sohn!“
„Mama, hör zu“, sagte Themas. „Oben unterm Dach ist ein Heft versteckt, in dem aufgeschrieben ist, wie man dem Lehm entkommen kann. Ich habe es von Tante Brilla und Onkel Jidler. Sie leben in einer kleinen Stadt im Draußen zusammen mit vielen Menschen, die das Lehm verlassen haben.“
Er beschrieb mit knappen Worten, dass die vielen angespülten Kleider keineswegs bedeuteten, dass ihre Besitzer dem Lehm zum Opfer gefallen waren. Die Flüchtlinge hatten sie hinterlassen, um zu verhindern, dass man sie im Draußen suchte und verfolgte.
„Wir werden ebenfalls Kleider hinterlassen“, wisperte Themas. „Ich werde nicht das rotwollene Hemd ins Lehm werfen das ich trage, sondern das alte helle, das mir zu klein geworden ist; das mit dem kleinen Flicken auf der rechten Schulter. Wenn das angeschwemmt wird, weißt du, dass wir entkommen sind.
Wir werden nicht die Dammstraße benutzen. Dort ist das Lehm sogar bei Neumond ein wenig wach und lauert. Wir gehen querfeldein durch die Wildnis.
Mama, lest das Heft! Es zeigt den Weg aus dem Lehm.“ Themas beschrieb den hohlen Baum an der Straße nach Landsweiler und dass dort stets etwas Geld hinterlegt war, damit Flüchtlinge eine Fahrkarte für den Frühzug kaufen konnten.
„Sobald man draußen ist, muss man so schnell wie möglich weg von Landsweiler, Mutter! Sie suchen einen überall! Dem Lehm ergebene Männer verfolgen die Flüchtlinge, um sie zurück zu bringen. Man muss fort vom Lehm, damit sie einen nicht kriegen.“
Die Mutter umarmte ihn und gab ihm einen Kuss. „Ich werde dieses Heft zusammen mit deinem Vater lesen, Themas. Geht jetzt, Kinder! Das Lehm kann jeden Moment auf euch aufmerksam werden.“
„Auf Wiedersehen, Mama“, flüsterte Themas. „Bitte kommt uns nach ins Draußen! In Rodental gibt es ein Stadtviertel, in dem fast nur Menschen leben, die dem Lehm entkommen sind. Bitte kommt!“ Er wandte sich um und winkte seinen Freunden: „Gehen wir! Dort entlang! Am Haus des Lehmpriesters vorbei vors Dorf.“
Sie setzten sich in Bewegung. Trischa und Truschka hielten sich aneinander fest wie Ertrinkende. Sie stützten einander. Thimas nahm Drisies Schwester an die Hand und führte sie. Themas setzte sich an die Spitze der Gruppe.
Themas drehte sich noch einmal um. Seine Mutter stand in der Dunkelheit vorm Haus und winkte ihm. Themas winkte zurück. Er hatte das Gefühl, als reiße sein Herz entzwei.
Mama!, dachte er voller Trauer und Schmerz. Mama, bitte kommt uns nach, du und Papa! Bitte-bitte!
Er wandte sich ab und versuchte, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Er ging. Er konnte die Blicke seiner Mutter auf seinem Rücken spüren. Er hätte schreien können, so weh tat es, die Mutter zu verlassen.
Bitte bleibt nicht im Lehm! Bitte nicht!
Er führte seine kleine Schar die Straße hinauf zum Ortsrand.
Sie kamen am Haus des Bürgermeisters vorbei. Hoch droben in dem kleinen Turm auf dem Dach leuchtete das einsame Nachtlicht. So klein die Laterne war, ihr Licht war heller als das diffuse Sternenlicht. Die Laterne würde ihnen hinterher leuchten, wenn sie ins Lehm gingen und sich dort Richtung äußerer Grenze bewegten, langsam und vorsichtig, damit das Lehm nicht aufwachte.
Als sie auf Höhe des zweistöckigen Gebäudes waren, löste sich eine kleine Gestalt aus den Schatten und trat ihnen in den Weg. Es traf Themas wie ein Schock. Im fahlen Licht der Turmlaterne erkannte er eine rotwollene Tunika und bloße Füße. Vor ihnen stand Grutie Umpfbeetl, die Lehma.
Sie hat hier auf uns gewartet!, schoss es Themas durch den Kopf. Also doch! Sie hat etwas geahnt und uns aufgelauert! Gleich wird sie das ganze Dorf zusammen schreien.
Er hörte, wie Trischa entsetzt die Luft einzog. Drisies Schwester gab einen feinen Jammerlaut von sich. Er hörte das blanke Entsetzen heraus.
Themas rutschte das Herz in die Hose. Es war aus. Sie waren entdeckt. Es war vorbei.
Sie hat gespürt, dass was im Busch ist, überlegte er voll Bitterkeit. Sie hat versucht, mich umzustimmen, damit ich im Lehm bleibe. Sie wollte mit mir gemeinsam Mundharmonika spielen lernen. Aber jetzt verliert sie mich. Sie wird unsere Flucht verhindern. Sie wird nicht zulassen, dass wir das Lehm verlassen. Sie ist die Lehma. Sie muss tun, was das Lehm verlangt.

29.08.2017 12:16 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
Neues Thema erstellen Antwort erstellen
Gehe zu:

Powered by Burning Board Lite 1.0.2 © 2001-2004 WoltLab GmbH