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Stefan Steinmetz
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Das Lehm(19) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Themas lief ins Dorf zurück. Er musste mit Trischa sprechen. Auf der Stelle! Er war aufgeregt wie noch nie. Man konnte das Lehm verlassen! Es war möglich!
Beim Gedanken an all die vielen angespülten Kleidungsstücke musste er grinsen. Die Geflohenen hatten ihr Zeug ins Lehm geworfen und waren abgehauen. Das Lehm hatte sie keineswegs erwischt. Er schätzte die Rate der Durchgekommenen auf gut neunzig Prozent.
Sein Herz jauchzte. Frei. Endlich frei! Er und Thimas würden frei sein. Und Trischa und ihre Zwillingsschwester. Frei! Ohne Angst vor dem Lehm. Thimas und Truschka würden sich nicht mehr davor fürchten, als Gabe für das Lehm ausgewählt zu werden.
Themas lief über den Windmühlenhügel zum Haus der Banbirks. Er sah Trischas Zweitling unter der Treppe hervor lugen. Die Ähnlichkeit des Mädchens unter der Treppe mit Trischa war geradezu erschreckend. Themas musste heftig schlucken. Im Vorbeigehen winkte er dem Mädchen zu. Es winkte zurück.
Themas betrat das Haus der Banbirks. Dort erlebte er eine Enttäuschung.
„Trischa ist nicht da“, sagte ihre Mutter. „Sie ist bei Verwandten in Lehmingen am See. Sie wird bei den Fischern lernen. Davon spricht sie doch seit Monaten. Heute hat es sich ganz kurzfristig ergeben. Nelder Borkruther, unser lieber Lehmpriester, machte sich heute in der Frühe auf, ins Zentrum zu ziehen. Er hat Trischa mitgenommen. Sie wird eine Weile in Lehmingen bleiben.“
Themas schaffte es nicht, seine Enttäuschung zu verbergen. Trischa war weg. Das passte ihm ganz und gar nicht.
Frau Banbirk lächelte ihm freundlich zu: „Gräme dich nicht, mein Lieber. Du siehst sie ja bei der nächsten Messe wieder. Dann kommt sie mit uns zurück nach Hause.“
Themas war entsetzt. „Bei der nächsten Messe?“ Bis dahin würde eine Ewigkeit vergehen. Er seufzte abgrundtief.
Er bedankte sich bei Trischas Mutter und ging. In seinem Innern tobte ein Sturm von Gefühlen. Trischa war fort. Ausgerechnet jetzt! Am Morgen mit Nelder Borkruther aufgebrochen. Der Priester hatte sie abgeholt und mitgenommen.
Themas fühlte, wie eine Gänsehaut seinen Rücken hinaufkroch. Hatte der Priester Verdacht geschöpft? Hatte jemand etwas gemerkt und bei Nelder gemeldet? Hatten er und Trischa sich zu auffällig benommen?
Ich kann nichts machen, dachte Themas. Er fühlte sich niedergeschlagen. Ich muss warten, bis sie wieder zu Hause ist. Ich kann nicht einfach losmarschieren und nach Lehmingen wandern. Das würde auffallen. Oh Mist! Was soll ich tun? Es kann doch nicht sein, dass sie ausgerechnet jetzt nicht hier ist! Mist, verflixter! Mist! Mist! Mist!
Er lief durchs Dorf. Er konnte nicht stillsitzen. Er tigerte über die Sandplätze, kickte hier und da einen Stein über die Straße und bemühte sich, nicht grimmig dreinzuschauen. Am anderen Ende der Siedlung verließ er Lehmborn wieder. Er wanderte an einem Bachlauf entlang und tat als suche er nach Rötel.
Er haderte mit seinem Schicksal. Trischa war fort. Ausgerechnet. Und der Schlüssel! Der verfluchte Schlüssel zum Verlies unter der Treppe! Den hatte er bislang nicht finden können und im Heft stand nichts darüber.
Warum nicht?, fragte er sich. Die Antwort kannte er: Würden die Priester ein solches Heft in die Hände bekommen, würden sie dafür sorgen, dass die Schlüssel zu den Kerkern unter den Treppen an anderer Stelle verwahrt wurden.
Die Priester.
Themas blieb stehen. Es durchfuhr ihn wie ein Schock. Die Priester! Hatten die Priester die Schlüssel? Bewahrten sie die Schlüssel in ihre Häusern auf? Trugen sie sie immer bei sich? Holten die Frauen des Dorfes sich ihren Schlüssel beim Priester ab, wenn sie ihr „unter-der-Treppe“ waschen wollten?
„Oh nein!“, wisperte Themas. Er spürte, wie ein saurer Geschmack in seiner Kehle aufstieg. Er dachte angestrengt nach. War nicht immer Nelder Borkruther im Dorf, wenn seine Mutter seinen Zwillingsbruder aus dem Verlies herausließ und ihn wusch?
„Doch!“, flüsterte er. „Immer!“
Oder doch nicht? Vor zwei Monaten war der Priester nicht anwesend, als seine Mutter Thimas aus dem Verlies heraus ließ. Oder? Themas war unsicher. Er zermarterte sich das Hirn. Auf diese Dinge hatte er nie geachtet. Hatte der Priester die Schlüssel? Oder bewahrte seine Mutter ihren Schlüssel auf? Fragen konnte er nicht.
Was jetzt? Was kann ich tun? Ich kann nur warten, bis ich mit der nächsten Karawane ins Draußen gehe. Dann frage ich Tante Brilla. Warum sind uns auch die zwei Dödel dazwischengekommen, als ich sie gerade fragen wollte! Mist! Vielleicht wissen Onkel und Tante, was zu tun ist. Jetzt muss ich warten, bis ich wieder nach Landsweiler komme.
Thimas bleibt eingesperrt. Er kann schon zur nächsten Messe als Gabe erwählt werden, wenn es der Lehma einfällt. Ich kann überhaupt nichts dagegen machen. Ich …
Themas brach in die Knie. „Das darf doch nicht wahr sein!“, presste er hervor. Er schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Er war geschockt und zutiefst aufgewühlt. Er fühlte sich entsetzlich hilflos.
„Nein! Nein!“, sagte er. Seine Kehle brannte. Er schluchzte wie ein kleines Kind. Es schüttelte ihn durch.
Als er sich beruhigt hatte, schaute er sich hastig um. Hatte jemand gesehen, wie er weinte? Hatte man ihn beobachtet? Bei dem Gedanken wurde ihm heiß und kalt zugleich.
Er sah niemanden. Er war allein in der Heidelandschaft. Nur ein paar Vögel schwirrten über den Himmel.
Themas atmete auf.
Also gut, sagte er zu sich selbst. Ich muss abwarten. Ich werde das Heft kopieren. Beim nächsten Besuch in Landsweiler werde ich mehrere Hefte kaufen. Ich schreibe den Bericht von Tante Brilla ab, so oft wie möglich.
Zuerst nach Landsweiler, dann nach Lehmingen und Trischa mit nach Hause nehmen. Herrjeh! Das dauert!
Er musste sich beherrschen, um nicht vor Ungeduld mit den Zähnen zu knirschen. Warten war nicht seine Sache.

*

Themas saß in seinem kleinen Zimmer am Schreibtisch. Er machte eine Zeichnung von der Lehmborner Windmühle. Er hatte die Mühle der Banbirks am Nachmittag von der Straße aus in groben Strichen aufgezeichnet und war jetzt mit der Feinarbeit beschäftigt. Er zeichnete die kleinen Vierecke der Hölzer, die die Windmühlenflügel bildeten akribisch genau nach.
Tante Brillas Heft lag in einem Buch versteckt auf dem Regal. Er konnte es nicht kopieren, bevor er in Landsweiler Hefte erstanden hatte. Beim Papiermacher welche zu holen, wagte er nicht. Es wäre aufgefallen, hätte er mehr als eines erbeten. Dann lieber gar keins.
Drunten wurde die Haustür geöffnet. Themas horchte genau hin. Sie wurde geschlossen. Vorsichtig linste er zum Fenster hinaus. Er sah seine Eltern in Richtung Dorfmitte davon gehen. Sie gingen zur Bürgerversammlung. Gut! Der Weg war frei.
Er lief nach unten und ging zu seinem Zwillingsbruder. Er hatte ein kleines Buch dabei, das Kinder im Schulunterricht benutzten, um Lesen zu lernen. Es erklärte in einfachen Worten das Leben im Lehm. Künstlerisch veranlagte Menschen hatten Illustrationen dazu gemalt.
Thimas freute sich über das Buch.
„Du kannst es leider nicht lange behalten“, sagte Themas. „Ich muss es mir in ein paar Tagen wieder holen. Wenn Mutter dich rauslässt, um dein Verlies zu putzen, könnte sie es entdecken.“
„Das macht nichts“, sagte sein Bruder. „Für ein paar Tage wird es mir gehören und ich kann darin lesen, so viel ich möchte. Du glaubst nicht, wie schön das für mich ist.“
Themas musste hart schlucken, als er seinen Zwilling so reden hörte. Es juckte ihn, Thimas von Tante Brillas Heft zu erzählen, aber er beherrschte sich. Es wäre grausam, Thimas Hoffnung zu machen. Wenn sich herausstellen sollte, dass er nicht an den Schlüssel rankam, hatte sein Bruder keine Chance zur Flucht.
Also unterhielt er ihn mit Berichten über das Dorfleben und seine Zeit in der Ziegelmacherei. Von der Möglichkeit einer Flucht sagte er nichts. Es zerriss ihn innerlich, aber er musste schweigen.

*

Endlich! Karawanentag! Themas durfte mit ins Draußen. Er konnte es nicht erwarten, seine Tante wiederzusehen.
Und morgen geht’s ins Zentrum nach Lehmberg, wo ich Trischa wiedersehe.
Themas freute sich. Aber die Möglichkeit, dass sein Zwillingsbruder als Gabe auserwählt werden konnte, schwebte wie ein Damoklesschwert über ihm.
In Landsweiler seilte er sich möglichst schnell ab. Am liebsten wäre er gleich zum Treffpunkt gelaufen, doch das hätte Misstrauen erwecken können. Also marschierte er schnurstracks zum Bahnhof und tat so, als schaue er den Zügen zu. Er trieb sich eine Dreiviertelstunde bei den Gleisen herum, bevor er zur Hauptstraße ging und die Läden abschritt. Er blickte in die Schaufenster und tat recht interessiert. Gleichzeitig hielt er Ausschau nach Verfolgern. Er konnte keine Beobachter entdecken.
Er linste in jede Seitengasse, an der er vorbeikam. Würde seine Tante auf ihn warten?
Es war die fünfte! Themas sah Brilla ein paar Meter entfernt stehen. Als er auf sie zugehen wollte, machte sie eine Geste: Nein! Zurück!
Themas musste sich beherrschen, um nicht laut zu protestieren. Er wollte zu Brilla. Er wollte sie umarmen und an sich drücken. Er liebte seine Tante und seinen Onkel über alles; fast mehr als seine Eltern. Brilla nahe zu sein und sie nicht berühren zu dürfen, war eine Qual für ihn.
Er machte zwei Schritte und warf einen Blick ins Schaufenster des Ladens direkt neben der Gasse. Dort war Spielzeug für Kinder jeden Alters ausgestellt. Das war gut. Hier brauchte er sich nicht zu verstellen. Was er sah, gefiel ihm. Er nahm alles in Augenschein. Sollten die Beobachter glotzen, bis ihnen die Augen aus dem Kopf fielen.
„Themas?“
„Ich bin hier. Tante, ich will zu dir! Ich will dich umarmen!“
„Nein! Untersteh dich!“
„Aber heute werde ich nicht überwacht! Ich habe genau acht gegeben. Niemand ist mir gefolgt!“
„Das haben Jidler und ich ebenfalls festgestellt.“
„Dann können wir doch ...“ Themas setzte sich in Bewegung.
„Nein! Themas, bleib vor dem Schaufenster stehen!“
„Aber ...“
„Bleib da stehen! Es ist gefährlich! Wir denken, sie beobachten dich diesmal von weiter weg, um keinen Verdacht zu erregen. Es könnte sein, dass sie letztes Mal etwas bemerkt haben und uns eine Falle stellen.“
„Mensch, Tante Brilla! Ich werde verrückt, wenn ich dich nicht …!“
„Du darfst nicht!“
„Tante?“ Themas musste schlucken. „Weinst du?“
„Nein!“, schluchzte Brilla. „Themas, bleib um Himmels Willen da vorne stehen! Sie dürfen dich nicht erwischen! Ach, Junge! Ich würde sterben, wenn dir etwas zustößt! Ich kann den Gedanken nicht ertragen! Bitte, ich flehe dich an, bleib da vorne stehen! Wenn sie dich drankriegen, landest du vor einem geheimen Lehmgericht! Themas, das bedeutet dein Todesurteil! Das Lehm wird dich holen!“
„Tante!“ Nun musste Themas selbst mit den Tränen kämpfen. Es schnitt ihm wie ein Messer ins Herz, seine geliebte Brilla weinen zu hören. „Oh, Tante!“
„Hör zu!“ Brilla putzte sich geräuschvoll die Nase. „Hast du nachgedacht? Hast du eine Entscheidung getroffen, Themas?“
„Ich will raus aus dem Lehm!“, sagte Themas. „Aber alleine gehe ich nicht. Ich gehe nicht ohne Thimas!“
„Thimas?“
„Mein Bruder!“
„Oh Gott!“ Neuerliches Schluchzen drang aus der Seitengasse. „Oh Gott, Themas! Junge!“
„Sag nicht, dass es nicht geht!“, presste Themas hervor. Er beugte sich zur Schaufensterscheibe und näherte sich der Seitengasse ein Stück. „Ich werde auf keinen Fall meinen Zwillingsbruder zurücklassen. Er wird dieses Jahr nicht überleben. Das dreckige Lehm wird ihn bald haben wollen. Ich muss den Schlüssel zu seinem Verlies haben! Wo ist er? Doch nicht etwa im Haus des Priesters?“
„Nein, Themas“, kam es aus der Gasse neben ihm. Die Stimme seiner Tante klang verändert. „Er steckt in der Statue der heiligen Lehma. Deshalb darf in jedem Haus nur die Hausfrau diese Statue anfassen und ihren Standpunkt verändern. Im Sockel der Figur gibt es einen kleinen Deckel. Man kann ihn aufdrehen. Der Schlüssel steckt in der hohlen Statuette.“
„Oh Mann!“, keuchte Themas. „Dem Himmel sei Dank!“ Ihm wurde ganz flau vor Erleichterung. Es war möglich! Und es war so einfach! Himmel-Sakra-Donnerlehm! So simpel! Er hatte das Haus von oben bis unten durchsucht und in jede Lade und jedes Fach gespäht. Aber auf die Idee, die kleine Lehmastatue zu überprüfen, war er nicht gekommen.
„Themas? Junge?“ Das kam von ganz nah. Er blickte nach rechts und sah eine kleine Frauenhand an der Hauskante. Er konnte nicht anders, er machte einen Schritt nach rechts und streckte die Hand aus und dann lag sie in Tante Brillas kleinen, kräftigen Händen. „Themas! Oh Themas!“ Er hörte sie weinen.
„Tante!“ Er drückte ihre Hände. Seine Finger streichelten die ihren.
„Seit wann?“, fragte Brilla. Sie nuschelte. Ihre Nase war vom Weinen verstopft.
„Ein paar Monate“, gab er zur Antwort, während er ihre Hände mit seinen Fingern liebkoste. „Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich konnte nicht anders. Als die Eltern in der Versammlung waren, bin ich vors Haus und habe meinen Bruder kennengelernt. Ich bin nicht der Einzige.“ Er schaffte es nicht, den Trotz aus seiner Stimme herauszuhalten.
„Ach Themas! Themas, Themas, Themas!“ Er spürte, wie sie seine Hand küsste, fühlte ihre Tränen über seine Finger laufen.
„Ich werde ihn mitnehmen“, sagte er, während er sich größte Mühe gab so zu tun, als betrachte er die Auslagen hinter der hohen Glasscheibe. Sein Blick fiel auf ein kleines Instrument aus Messing. Es war eine Mundharmonika. Philka Kahleg aus Lehmtal hatte so eine. Wenn alle Lehmer sich am Messesonntag im Zentrum des Lehms trafen, spielte sie auf dem Instrument.
„Du bist ein guter Junge“, sagte Brilla mit erstickter Stimme. „Ja, nimm deinen Bruder mit, damit das Lehm ihn nicht ermorden kann.“
„Und Trischa!“
„Trischa? Trischa Banbirk, die Müllerstochter?“
„Und ihre Schwester Truschka! Die beiden haben seit Jahren heimlich Kontakt miteinander. Auch Truschkas Leben hängt am seidenen Faden. Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, bis sie ins Lehm gehen muss.“
„Hast du schon mit Trischa gesprochen? Will sie mitkommen?“
„Nein“, sagte Themas und drückte Brillas Hand. „Sie ist auswärts, aber morgen sehe ich sie wieder und nächste Woche werde ich sie fragen. Ich muss halt zusehen, dass ich mit ihr allein bin. Sie kommt mit. Dessen bin ich mir sicher. Sie hat schreckliche Angst um ihre Schwester.“ Er atmete tief ein und aus. „Ist halt blöd, dass wir nicht mit unseren Eltern reden dürfen.“
„Das dürft ihr auf keinen Fall, Themas! Zu gefährlich! Alles, was ihr tun könnt ist, ihnen ein kopiertes Heft hinterlassen. Sie werden selbst entscheiden müssen, ob sie die Flucht wagen wollen. Jetzt hör mir bitte genau zu!
Hast du den alten Baum kurz vor Landsweiler gesehen? Der mit dem verkohlten Ast, in den vor Jahren ein Blitz eingeschlagen ist?“
„Ja“, antwortete Themas. „Der ist mir gleich beim ersten Mal aufgefallen.“
„Auf der Rückseite hat er eine kleine Höhlung über dem zweiten Seitenast. Dort halten wir stets einen Vorrat an Geld bereit für Menschen, die fliehen. Wenn ihr flieht, Themas, müsst ihr so schnell wie möglich fort aus Landsweiler! Ihr müsst den ersten Frühzug nehmen. Denn die Sucher gehen auch nach Landsweiler. Sie würden euch einfangen und ins Lehm zurück schleppen.
Das mit dem hohlen Baum steht nicht im Heft, denn falls Gläubige ein Heft finden, könnten sie es den Priestern melden und das Versteck würde vielleicht ausgeraubt.
Genau deshalb wird auch der Schlüssel im Heft nicht erwähnt.“
„Der Trick mit den Klamotten“, sagte Themas. „Das ist echt toll! Sind wirklich viele rausgekommen, deren Kleider an der Dammstraße angeschwemmt wurden?“
„Ja, Themas. Viele. Sehr viele.“
„Auch Rallie Hoekker?“
Seine Tante stöhnte: „Nein. Sie ist nicht bei uns. Es könnte natürlich sein, dass sie rauskam und alleine weglief, aber das ist unwahrscheinlich. Wir hätten davon erfahren.“
„Dann ist sie tot“, sagte Themas. „Sie und die Zwillinge.“
„Ja“, sagte Brilla leise.
Plötzlich hörte Themas eine andere Stimme: „Lass mich auch mal!“ Eine große starke Hand fasste die seine. Ihm schlug das Herz. Sein Onkel Jidler war in der Gasse. Er stand keine zwei Schritte von ihm entfernt. „Onkel!“, hauchte er. Er spürte ein Würgen im Hals.
„Jidler!“, zischte Brilla. „Du darfst nicht herkommen! Du musst aufpassen!“
„Es ist niemand zu sehen. Sie überwachen ihn nicht mehr!“, brummte der Onkel. „Ich will wenigstens einmal seine Hand halten.“
Themas schaute sich rasch um. Er ließ seine Augen überall herum huschen. Er sah niemanden. Es war keiner da.
Drauf gepfiffen! Er hielt es nicht mehr aus. Mit einem Satz war er in der Nebengasse. Onkel und Tante standen vor ihm, erschrocken und doch blitzte helle Freude in ihren Augen auf.
„Onkel!“ Themas warf sich in Jidlers Arme. „Onkel Jidler!“
„Themas! Themas, mein Junge!“ Jidler erdrückte ihn schier. Er bedeckte sein Gesicht mit Küssen und weinte. „Themas!“
„Tante!“ Nun war Brilla an der Reihe. Er umarmte sie stürmisch und drückte sie an sich. Verwundert stellte er fest, dass sie kleiner war als er. Er war gewachsen, seit sie einander das letzte Mal umarmt hatten.
„Themas!“ Weinend drückte sie ihn an sich, bedeckte sein Gesicht mit Küssen. „Oh, Themas! Du darfst nicht! Das darfst du nicht! Geh wieder …!“
„Nein!“ Themas umarmte Tante und Onkel gleichzeitig. „Nein!“ Nun musste auch er weinen. „Ich habe euch so vermisst! Ich habe euch doch lieb!“
Sie standen in der engen Gasse und umarmten einander.
Tante Brilla löste sich als Erste von Themas. „Du musst jetzt gehen, Junge, sonst schöpft man Verdacht.“ Sie holte ihr Taschentuch hervor und wischte ihm die Tränen ab. „Geh! Bitte! Ich komme um vor Sorge um dich! Es darf dir nichts passieren!“
„Ja“, sagte Themas. Noch einmal umarmte er seine Tante und küsste sie auf die Wange, dann den Onkel. Anschließend stellte er sich wieder vor das Schaufenster. „Nächsten Neumond kommen wir raus“, sagte er.
„Gut“, sagte Onkel Jidler. „Geh jetzt, Junge. Unsere guten Wünsche sind mit euch.“
„Auf Wiedersehen.“ Themas wandte sich ab. Es fiel ihm unendlich schwer, fortzugehen. Nur das Wissen, dass er seine beiden Lieben bald wiedersehen würde, gab ihm Trost.
Er betrat den Laden und kaufte die Mundharmonika. Man versicherte ihm, dass das Intrument komplett aus Messing gefertigt war. Es enthielt nicht das kleinste Eisenstückchen.
Auf dem Weg zurück zum Markt kaufte er zehn Hefte im Schreibwarengeschäft und ein paar Häuser weiter zwei Tüten Bonbons. Niemand schien ihn zu beobachten. Anscheinend vertraute man ihm inzwischen. Themas war es egal. Es war nicht mehr wichtig, ob man ihn beobachtete, wenn er im Draußen war. Es würde keinen nächsten Besuch in Landsweiler geben, nicht mit der Karawane aus dem Lehm.

16.08.2017 16:28 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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