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Stefan Steinmetz
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Das Lehm(9) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Den ganzen Nachhauseweg ging Themas der bronzene Knopf nicht mehr aus dem Kopf. Er war sich absolut sicher, dass er von der Jacke seines Onkels stammte. War er abgefallen? Oder hatte Onkel Jidler ihn absichtlich dort mitten auf dem Bürgersteig liegen gelassen?
Themas versuchte sich zu erinnern, wie die kurze Begegnung abgelaufen war. Er hatte im Augenwinkel ein bekanntes Gesicht gesehen. Als er genauer hinschauen wollte, war die Person verschwunden. Warum? Wollte sein Onkel nicht, dass er ihn sah? Aus Angst, Themas könne ihn bei den Lehmleuten verraten?
Nein, entschied Themas. Das kann es nicht sein.
Es kam ihm eher so vor, als habe der Onkel versucht, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Dann musste er die beiden „Leibwächter“ gesehen haben und er hatte sich rasch versteckt. Es war keine gute Idee, sich als Geflohener im Draußen erwischen zu lassen. Die Priester verlangten, dass eine solche Person festgenommen werden sollte. Man sollte sie ins Lehm zurückbringen, um über sie Gericht zu halten.
Nächstes Mal versuche ich, meine Wache abzuhängen, nahm Themas sich vor. Vielleicht ist Onkel Jidler wieder in Landsweiler. Dann können wir miteinander sprechen.
„Na, wie war es?“
Themas schrak aus seinen Gedanken auf. Der oberste Lehmpriester ging neben ihm. Mook Orpek schaute ihn freundlich an. „Hast du gefunden, was du gesucht hast?“
„Ich habe Bonbons für Trischa und eine prima Ledertasche für meinen Papa. Und Mama bekommt eine ganze Rolle guten Leinenstoff. Damit kann sie Kleider für die Familie nähen.“ Themas präsentierte dem Priester die Lupe, die er im Optikerladen erstanden hatte: „Die ist für Trischa. Sie hat dreifache Vergrößerung. Ich bin gespannt, ob ihr das Geschenk gefällt.“
„Ganz bestimmt“, meinte Orpek jovial. „Mädchen mögen es, wenn ihnen Jungs Geschenke machen. Und du? Hast du auch etwas für dich gekauft, Themas?“
„Ein paar Bleistifte und Papier“, antwortete Themas. „Ich habe mir gedacht, ich versuche mich mal im Zeichnen. Unser Dorfpriester hat meine Zeichnungen in der Schule immer gelobt. Er meinte, ich hätte Talent. Ich könnte mit Bleistift und Rötelstiften Bilder aus dem Lehm auf Papier festhalten. Die könnte man im Schulunterricht verwenden. Ich könnte den Zentralsee zeichnen und das Kliff und die Natur und die Tiere im Lehm. Und die große Lehma-Statue.“
„Das klingt nach einer guten Idee“, lobte der Priester. „Materialien für den Unterricht sind immer gefragt. Du hast dir also ein Geschenk gemacht, das du für die Allgemeinheit einsetzen kannst. Das ist sehr schön, Themas. Wie fandest du es im Draußen?“
Themas merkte auf. Die Frage war ganz beiläufig gestellt, aber er bemerkte, dass Mook Orpek auf der Lauer lag. Jetzt galt es, die richtige Antwort zu geben.
„Ich bin froh, dass ich wieder zu Hause bin“, sagte er. „Da draußen … also das war ganz schön anstrengend.“ Er machte eine vage Geste. „Interessant war es ja. Sicher doch! Ich war neugierig und fand viel Neues. Aber die vielen Menschen! Und diese Kleider! Grauslich! Die sehen wirklich wie Gockelhähne aus!“ Er lachte den Priester an. „Wenigstens waren sie freundlich. Ein Eisenbahner, der quietschgrün angezogen war, hat mir erklärt, wie die Dampflokomotiven funktionieren und dass es eine Eisenbahn gibt, die rund ums Lehm verläuft. Das finde ich komisch. Da fahren die Holzfäller zur Arbeit in den Zügen und das Holz wird nach Landsweiler transportiert und von da aus hinaus ins Königreich.“
Themas musste sich nicht verstellen. Er fand es unverständlich und brachte das auch zum Ausdruck: „Wieso ausgerechnet rund um unsere Heimat? Gibt es nicht genug Holz in den großen Wäldern? Der Dorfpriester hat uns erklärt, dass das Lehm inmitten eines riesigen Waldgebietes liegt. Warum gibt es ausgerechnet rund um uns so viele Holzfällersiedlungen?“
Mook Orpek lächelte breit: „Weil das Holz rund ums Lehm das beste Holz der Welt ist, Themas! Ja, so ist es. In einem viele Kilometer breiten Streifen rund um unsere Heimat wächst das beste und härteste Bauholz der Welt. Das Brennholz, das wir in Landsweiler für unsere Waren eintauschen, wird von weit draußen mit der Eisenbahn herangeschafft. Das Holz direkt beim Lehm ist viel zu schade, um es als Feuerholz zu nutzen.“
„Wieso wächst direkt vor unserer Heimat dieses gute Holz?“, wollte Themas wissen.
„Weil das Lehm selbst den Boden dort draußen auf eine besondere Art fruchtbar macht“, erwiderte der Priester. „Wie du siehst, tut das Lehm sogar den Menschen im Draußen Gutes.“ Seine Stimme klang salbungsvoll und ein bisschen eingebildet. „Wirst du wieder mitkommen nach Landsweiler?“
„Ich denke schon“, gab Themas zur Antwort. „Es hat mir zwar nicht so arg gefallen, aber es gibt trotzdem vieles, was ich mir noch anschauen möchte. Vor allem aber werde ich wieder meinen besten Rötel im Laden beim Bahnhof verkaufen und mit dem Geld Sachen für meine Familie und meine Freunde kaufen.“
„Du bist ein guter Junge, Themas“, sprach der oberste Lehmpriester. „Immer denkst du zuerst an andere. Das ist fein. Es ist also beschlossen. Du kommst die nächsten Male mit ins Draußen. Ich werde deinen Dorfpriester entsprechend instruieren.“
„Vielen Dank“, sagte Themas artig. Er freute sich wie ein Schneekönig. Es hatte geklappt. Er hatte es fertiggebracht, dass er wieder hinaus durfte und zwar gleich mehrmals hintereinander. Er musste unbedingt wieder nach Landsweiler. Er wollte nachprüfen, ob sein Onkel wieder da sein würde.

*

Wieder daheim gab er die Geschenke seinen Eltern. Beide freuten sich sehr über die Gaben.
„Ich gehe nochmal raus“, verkündete Themas. „Ich habe etwas für Trischa mitgebracht.“ Er verließ das Haus. Draußen schaute er sich hastig um. Niemand war zu sehen. Rasch lief er zum Eisengitter unter der Treppe: „Achtung! Futter!“ Er hielt die dicke Pastinake und die
zwei Äpfel, die er heimlich auf dem Markt in Landsweiler gekauft hatte, zwischen die Gitterstäbe.
„Danke“, kam es aus der Dunkelheit. Zwei bleiche Hände griffen nach den Lebensmitteln.
„Wenn wieder Bürgerversammlung ist, komme ich zu dir“, raunte Themas. „Ich war draußen vorm Lehm. Ich habe viel zu erzählen.“ Er machte sich davon.
Im Garten der Banbirks fand er Trischa, die Gemüse fürs Abendessen holte. Er präsentierte seine Geschenke. Trischa freute sich über die Bonbons und lutschte sogleich eins. Sie hielt ihm die Tüte hin: „Nimm eines! Sie schmecken wundervoll.“
Themas wählte ein dunkelrotes Bonbon und lutschte es. Es schmeckte nach Kirsche.
Er sah, wie Trischa das zweite Geschenk in den Händen drehte. Sie wirkte ratlos.
„Du musst es aus dem Lederetui herausklappen“, half er ihr auf die Sprünge.
Das Mädchen klappte die in Messing gefasste Lupe aus dem Etui: „Was ist das?“
„Ein Vergrößerungsglas. Halte es über die Möhre, die du gerade aus dem Boden geholt hast. Du musst es langsam vor und zurück bewegen, bis das Bild in der Linse scharf wird.“
Trischa probierte es. Sie stieß einen erstaunten Ruf aus.
Themas lächelte sie an: „Es hat dreifache Vergrößerung. Alles was du in der Linse siehst, ist dreimal größer als normal.“
„Das ist toll!“ Trischa betrachtete ihre Hand durch die Lupe: „Ich kann die kleinen Härchen sehen und alle Fältchen in der Haut.“ Das Gemüse war fürs Erste vergessen. Trischa wollte alles mögliche durch das Vergrößerungsglas betrachten: Ihre Fingernägel, den Stoff ihres Rocks, Grashalme, Blumen, das Holz des Zauns der den Garten umgab, Sand und kleine Steine und zum Schluss das linke Auge von Themas. Sie war hin und weg. „Das ist total schön! Vielen Dank Themas! Das ist das tollste Geschenk, das ich je erhalten habe!“
Themas war glücklich. Trischa sah goldig aus in ihrer Begeisterung. Sie hatte rote Wangen bekommen und ihre Augen leuchteten. Im schlug das Herz.
„Man kann sogar Feuer damit machen, wenn die Sonne scheint“, erklärte er. Das hatte ihm der Optikermeister im Laden erklärt. Themas tat so, als wüsste er das schon lange. Er brach ein trockenes Ästchen von einem der Himbeerbüsche und hielt es Trischa hin. „Du musst die Linse zur Sonne schauen lassen und sie hoch und runter bewegen, bis der helle Fleck, den das Glas auf dem Ästchen erzeugt, zu einem Punkt wird. Das nennt man den Brennpunkt der Linse. Dort wird das Licht der Sonne gebündelt und dreimal verstärkt. Es wird so heiß, dass trockenes Holz anfängt zu glimmen.“
Trischa tat, was er verlangte. Sie hielt die Lupe mit der flachen Seite in die Sonne und führte das Vergrößerungsglas langsam auf das Ästchen herab. Als die Lupe noch etwa zehn Zentimeter von dem Holz in ihrer linken Hand entfernt war, verengte sich der diffuse Schein, den das Glas erzeugte. Auf dem vertrockneten Stückchen Holz erschien ein gleißend heller Punkt. Nach einigen Sekunden stieg Rauch auf und das Hölzchen fing an zu kokeln.
„Das ist unglaublich!“, rief Trischa aus. „Ein Feuerzeug aus Glas.“ Sie umarmte Themas und bedankte sich überschwänglich.
Was das Herzklopfen von Themas noch mehr beschleunigte.
„Das muss ich all meinen Freundinnen zeigen“, verkündete Trischa. „Die werden vielleicht staunen!“ Sie schob das Vergrößerungsglas in sein ledernes Schutzetui zurück und steckte es ein: „Aber jetzt muss ich Gemüse sammeln. Zum Abendessen gibt es gemischtes Gemüse aus dem Tontopf.“
„Ich helfe dir.“ Themas ging Trischa zur Hand. Er half ihr, Gemüse und Rüben zu ernten. Sie wuschen alles in dem irdenen Becken hinterm Haus, das man mittels einer kleinen Handpumpe aus Bronze mit Wasser aus einem nahen Bach füllen konnte.
Drinnen in der Küche half er ihr, das Gemüse zu putzen und in kleine Würfel und Stücke zu schneiden.
„Meine Eltern sind nicht da“, sagte Trischa. „Sie sind draußen vorm Dorf und helfen dem Bürgermeister, eine Stelle im Lehm zu finden, wo sie einen Teich anlegen können. Sie wollen es mit Fischzucht probieren. Ob das Lehm das zulässt? Es verändert sich doch ständig. Wo heute noch ein kleiner Bach fließt, kann morgen schon trockener Sand sein oder ein tückischer Lehmsumpf, in den man einsinkt, wenn man nicht aufpasst.“
„Haben sie nicht mit dem Priester über ihr Vorhaben gesprochen?“, fragte Themas. „Die Lehma kann doch das Lehm befragen.“ Bei dem Gedanken an Grutie Umpfbeetl rümpfte er die Nase. „Es kann natürlich sein, dass sie es nicht getan haben, weil das eingebildete kleine Biest die Angelegenheit verboten hätte, einfach so, aus Gehässigkeit.“
Trischa schaute ihn aus aufgerissenen Augen an. „Themas Irrlucht!“, sprach sie. „Was ist denn das für ein ungebührliches Betragen? Wie kannst du es wagen, unsere ehrwürdige kleine Lehma als eingebildet zu bezeichnen? Weißt du nicht, dass das eine schwere Sünde ist?“ Sie grinste: „Unsere ehrwürdige Lehma ist nicht eingebildet. Sie ist selbstbewusst. Und sie ist auch nicht gehässig. Sie ist nur ein bisschen arg herrschsüchtig.“ Sie lachte laut los. Themas lachte mit.
Nach einer Minute wurden sie wieder ernst.
„Du musst vorsichtig sein, mit dem was du sagst, Themas“, bat Trischa. Sie sah besorgt aus. „Manchmal redest du zu viel. Wenn das in falsche Ohren gerät, wird es dir übel ergehen.“ Sie machte eine kleine Sprechpause. Dann sagte sie: „Und das will ich nicht! Auf keinen Fall!“ Ihr Blick ging ihm durch und durch. „Es ist gut, dass meine Eltern nicht da sind und dich gehört haben. Sie sind treue Anhänger des Glaubens.“
„Du nicht so sehr“, sagte Themas. „Du hast deinem Zweitling gewinkt.“
Trischa senkte den Blick. Sie blieb eine volle Minute lang still; gab keinen Ton von sich. Dann blickte sie Themas in die Augen: „Themas! Bitte! Das darfst du niemandem sagen! Wirklich niemandem!“ Er sah die Angst in ihrem Gesicht.
„Ich sage kein Wort“, versprach er. „Wirklich nicht, Trischa. Du kannst mir vertrauen. Ich habe vor einer Zeitlang angefangen, meinem eigenen Zweitling extra Essen zuzustecken und letztens, als meine Eltern auf der Bürgerversammlung waren, habe ich mir ein Herz gefasst und mit ihm gesprochen.“
„Ich weiß“, sagte Trischa.
„Du weißt das?“ Themas war verdutzt. „Woher? Hast du mich etwa beobachtet?“
Sie schüttelte den Kopf: „Meine Schwester hat es mir erzählt.“
„Deine …? Ahhh! Ja, stimmt. Mein Bruder hat mir erzählt, dass die eingesperrten Kinder untereinander heimlich kommunizieren. Nachts rufen sie sich gegenseitig Nachrichten zu. Es geht durchs ganze Dorf. Ich habe mich ganz schön gewundert, als ich mit meinem Zwillingsbruder sprach. Er kann ganz normal reden. Ich dachte immer, „die-unter-der-Treppe“ seien zurückgeblieben. Sind sie nicht. Und das macht es noch schlimmer!“
„Ja“, sagte Trischa leise. „Das macht es noch schlimmer!“ Sie schaute Themas an. Blanke Verzweiflung stand in ihren Augen: „Sie wissen Bescheid! Sie haben Angst! Ihr ganzes Leben lang! Das … das ist so schrecklich, Themas! Ich kann es fast nicht aushalten!“
„Seit wann …?“, fragte Themas.
„Ich war neun, als es anfing“, erzählte Trischa. „Ich wurde nachts wach und hörte sie unten weinen. Ich habe mich aus dem Haus geschlichen und bin zu ihr gegangen. Ich setzte mich vors Gitter und versuchte, sie zu trösten. An dem Tag hatte das Dorf die Gabe ans Lehm überbracht. Es war ein Mädchen aus dem Nachbarhaus. Meine Schwester und sie waren befreundet. Wenn man das so nennen kann.“ Trischa atmete tief durch. „Sie kam ans Gitter und drängte sich dagegen. Ich habe sie durch das Gitter hindurch umarmt und getröstet. Wir redeten leise miteinander, bestimmt zwei Stunden lang. Sie erzählte mir von ihrer Angst und ihrer Einsamkeit, davon wie weh es tat, von der eigenen Mutter auf Abstand gehalten zu werden, niemanden zu haben, der einen mal in den Arm nahm und drückte, niemanden, der einen lieb hatte. Wir haben beide zusammen geweint in dieser Nacht.
Seitdem besuche ich sie. Ich passe auf, wenn meine Mutter das Haus verlässt und die Nachbarn nicht gucken. Dann setze ich mich vor die Treppe und tue so, als ob ich eine Handarbeit mache und wir sprechen miteinander.
Nachts schleiche ich mich oft raus und dann können wir uns durchs Gitter hindurch umarmen. Ich habe schreckliche Angst um meine Schwester. Sie ist dreizehn. Sie wird nicht mehr lange leben dürfen. Ich bin so verzweifelt! Wenn ich nur wüsste, was ich tun kann, um sie vor dem Opfergang zu bewahren. Ich würde alles tun, um ihren Tod zu verhindern! Das Lehm ist böse! Es verlangt Menschenopfer. Es ist widerlich und grausam!“
„Ja“, bestätigte Themas. „Ich würde auch gerne ...“
Draußen waren Schritte zu hören.
„Meine Eltern!“, wisperte Trischa. „Kein Wort mehr!“
Sie schnippelten eifrig Gemüse klein. Trischas Eltern fanden sie einträchtig am Küchentisch sitzend vor.

27.07.2017 17:26 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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