Plötzlich war Mook Orpek neben ihm. Der oberste Lehmpriester fasste seinen Arm: „Auf ein Wort, Themas Irrlucht.“ Der Priester schob Themas zum Rand der Dammstraße, wo es keine tiefen Karrenspuren gab. „Hier läuft es sich leichter, nicht wahr?“ Mook lächelte freundlich. „Du gehst heute zum ersten Mal in deinem Leben mit ins Draußen, Themas. Bist du aufgeregt?“ Sein Lächeln verbreiterte sich: „Ganz sicher bist du das! Jeder ist aufgeregt beim ersten Mal. Ich war es auch. So viel Neues stürmt auf einen ein.“ Er gab Themas einen freundschaftlichen kleinen Schubs: „Aber neugierig bist du auch, gelt?“
Themas nickte: „Ja, und wie! Ich kann mir das Draußen nicht richtig vorstellen und was man mir erzählt hat, klingt manchmal so komisch, dass ich es kaum glauben kann. Zum Beispiel, dass die Leute in Landsweiler grellbunte Kleider anhaben sollen.“
„Haben sie!“ Mook Orpek nickte heftig. „Sie sehen aus wie Gockelhähne in ihren hochmütigen Gewändern. Sie folgen nicht unseren Regeln, die da lauten: Du sollst dich bescheiden kleiden und nicht Buntes und Schrilles lieben.“ Mook grinste: „Du wirst heute einige arg seltsame Gestalten zu Gesicht bekommen, mein Junge. Warte erst einmal ab, bis du einen Eisenbahner in seiner Uniform siehst! Oder Frauen in ihren so genannten 'feinen Kleidern'. Sie sehen zum Schieflachen aus. Selbst die Arbeitskleidung, die sie alltags tragen, ist manchmal von unerträglicher Buntheit.“
Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinander her. Sie achteten auf die Straße vor sich, um nicht in den Dung von Kamelen zu treten.
Themas fasste sich ein Herz: „Kaufen die da draußen nicht sehr gerne unsere Wolle? Vor allem die der Kamele?“
„Tun sie, mein Junge.“ Mook Orpek sah Themas an. „Stell dir vor, die haben nichts Besseres zu tun, als die Wolle zu färben! Die schöne rote Wolle der Kamele!“ Als er den Gesichtsausdruck von Themas sah, nickte er bedeutungsschwer: „Ja, das tun sie! Es sind seltsame Leute. Drum wollte ich auch mit dir sprechen, bevor wir da sind.
Themas, achte bitte darauf, mit wem du im Draußen sprichst! Die meisten Menschen in Landsweiler sind nett und freundlich. Sie sind seltsam aber harmlos. Doch es gibt welche, die unseren Glauben nicht achten und unsere Lebensart verachten. Vielleicht wird man versuchen, dir weiszumachen, dass das Lehm nicht gut ist. Die wildesten Lügen könnte man dir erzählen. Ich bitte dich, nicht auf diese Leute zu hören. Wenn einer daher kommt und so zu dir spricht, dann drehe dich um und lass ihn einfach stehen. Willst du mir das versprechen, mein Junge?“
Themas nickte. „Solch einem Menschen würde ich nie im Leben zuhören!“ Die kleine Lüge kam ihm leicht über die Lippen.
Mook war zufrieden. „Das ist fein, Themas Irrlucht. Wirklich fein. Geh und schau dir die seltsame Welt da draußen ruhig genau an. Solange du bösen Menschen kein Gehör schenkst, besteht keine Gefahr.“ Er schlug Themas auf die Schulter: „Ich wünsche dir einen schönen Tag, mein Junge.“ Er ließ Themas allein und begab sich schnellen Schrittes zur Spitze der Karawane.
Kaum war der Priester fort, gesellte sich Clometsch Borkruther zu Themas. Der Ziegelmacher erklärte ihm, wo Themas seinen selbstgesammelten Rötel verkaufen konnte. „Versuche es ruhig abseits vom Markt. In der Hauptstraße gibt es weit hinten, in der Nähe des Bahnhofs, einen Laden, wo man Schreibwaren kaufen kann: Stifte jeglicher Art und Papier, Hefte und Blöcke, Schreibfedern und Tinte. Der Inhaber des Geschäfts macht seine Rötelstifte selbst in einer kleinen Werkstatt hinter dem Laden. Er wird dir für deinen ausgesucht feinen Rötel mehr zahlen als die Markthändler.“
„Danke für den Tipp“, sagte Themas.
Clometsch zwinkerte ihm zu: „Nicht weit von dem Laden entfernt gibt es eine Bude, an der man Eis kaufen kann, Eis zum lutschen. Mit Erdbeergeschmack oder Himbeere. Die haben mehrere Sorten. Versuch es mal. Es schmeckt himmlisch.“
„Das werde ich mir merken“, versprach Themas. „Leider kann man Eis nicht mit zurück ins Lehm nehmen. Ich hätte Trischa Banbirk gerne etwas mitgebracht. Ich werde vielleicht Bonbons für sie kaufen von meinem selbstverdienten Geld.“
„Tu das, Junge!“ Clometsch ging zu seinen Kamelen zurück.
Zurück blieb ein Themas, der jetzt noch neugieriger auf das Draußen war. Dieses Eis klang hochinteressant. Er beschloss, unbedingt davon zu kosten. Wenn er seine zwei Säckchen ausgesuchten Rötel verkaufte, würde er versuchen, Münzen dafür zu erhalten. Mit Münzen konnte man alles kaufen.
Nur nicht im Lehm, dachte er, während er neben den Zugkamelen her schritt und darauf achtete, nicht zu weit an den Rand der Dammstraße gedrängt zu werden.
Im Lehm gab es kein Geld. Im Lehm gab es auch kein Eis. Und keine Bonbons. Im Lehm gab es nichts zu naschen. Er musste an die Worte des Dorfpriesters denken, als er im Unterricht davon erzählt hatte. „Wir Menschen im Lehm führen ein einfaches, gottesfürchtiges Leben. Wir sammeln keine Reichtümer an und unsereins ist nicht darauf aus, mehr zu besitzen als sein Nächster. Wir schmücken uns nicht mit Buntem und Angeberischem. Wir sind einfache Menschen mit einfachen Kleidern und einfachen Herzen.“
Gottesfürchtig? Pah!, dachte Themas. Im Lehm wird nur ein Gott angebetet: Das Lehm! Und die Lehma ist die Hohepriesterin des Lehms, eine kleine herrschsüchtige Trine. Sie ist unberechenbar und hochmütig und herrschsüchtig. Genau wie das Lehm!
Er erschrak bei seinem Gedanken. Dann fühlte er plötzlich eine Aufwallung rebellischer Gefühle.
Ist doch wahr!, dachte er. Tante Brilla hat es gesagt. Sie hat auch gesagt, dass ich anfangen würde, so du denken.
„Wenn du erst mal vierzehn oder fünfzehn Jahre alt bist“, hatte die Tante ihm erklärt, „wirst du anfangen, alles zu hinterfragen. Du wirst dich nicht mehr länger mit den hohlen Phrasen der Priester zufriedengeben. Du wirst weiter sehen und schärfer. Du wirst nicht mehr alles hinnehmen, was man dir vorsetzt. Ich spüre es, Themas. Du wirst erwachen.
Nicht alle tun das. Es gibt Menschen, die überspringen diese Periode in ihrem Leben. Sie sind Kinder und dann werden sie zu großen Kindern. Sie fragen nie. Sie nehmen alles hin. Sie leben ihr einfaches, kleines Leben.“
Themas erinnerte sich deutlich an das Seufzen seiner Tante. Sie hatte ihn mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht angeschaut und ihm mit der Hand über die Wange gestrichen: „Vielleicht ist das nicht das Schlechteste. Diese Menschen leiden nicht. Sie leben und fragen nicht. Aber du wirst fragen, Themas und du wirst schnell feststellen, dass du nur dich selbst fragen darfst. Weil Fragen gefährlich sind. Nur mich und deinen Onkel darfst du fragen.“ Die Tante hatte erneut geseufzt. „Nicht mehr lange.“
Damals hatte Themas die Worte von Tante Brilla nicht recht verstanden. Erst nach der Flucht von Onkel und Tante war ihm klargeworden, dass Brilla bei ihrem Gespräch gewusst hatte, dass sie mit ihrem Mann und ihren Zwillingen das Lehm verlassen würden.
Es hatte ihn tief getroffen. Er hatte seine Tante und den Onkel geradezu abgöttisch geliebt, beinahe mehr als seine Eltern. Er hatte viel Zeit bei Brilla und Jidler verbracht. Onkel Jidler hatte ihm mehr beigebracht als sein Vater. Von ihm hatte er Fischen gelernt und wie man aus Binsen Dinge flocht. Onkel Jidler hatte Themas gezeigt, wie man Kupfer trieb und aus dem roten Metall Gebrauchsgegenstände hämmerte. Die Tante hatte ihm den Umgang mit Nähnadel und das Stricken und Häkeln beigebracht und sie hatte ihm immer wieder hinter vorgehaltener Hand Dinge über das Lehm und das Leben der Menschen erzählt, die er nie von den Priestern gehört hatte.
Wenn er heute darüber nachdachte, hatten Onkel und Tante von Anfang an alles getan, um ihn über das Lehm aufzuklären. Jidler und Brilla hatten nicht behauptet, dass das Lehm gut sei und die Menschen schützte. Sie hatten vielmehr angedeutet, dass es den Leuten im Lehm nicht gut ging. Es waren Onkel und Tante gewesen, die ihm die rebellischen Gedanken eingepflanzt hatten.
Tante Brilla hatte nicht mit ihm gemault, wenn er Fragen über „das-unter-der-Treppe“ stellte. Nur seine Mutter hatte ihn deswegen ausgeschimpft.
„Weil sie Angst hat“, hatte Tante Brilla ihm erklärt, als er zwölf war. „Angst um dich, Themas!“
Themas schrak auf. Unruhe kam auf. Er schaute nach vorne und sah den Wald. Sie hatten den Rand des Lehms erreicht. Menschen und Kamele schritten über die Dammstraße ins Draußen. Die Straße schien ein Dutzend Schritte vorm Rand zu enden. Sie verlief sich im Sand. Mook Orpek schritt ohne Zögern über den Sand und zwischen niedrigen Heidekrautpolstern hindurch auf die Wiese zu, die hinter der Grenze anfing. Die Karawane folgte ihm.
Der Priester blieb im Gras stehen und ließ den Zug von Kamelen, Karren und Leuten passieren. Als Themas an ihm vorbei kam, schloss er sich ihm an.
„Nun sind wir draußen, Themas Irrlucht“, sprach er salbungsvoll. „Draußen in der Fremde. Hüte dich, mein Junge! Aber sei ruhig neugierig. Schau dir alles an. Du hast Rötel gesammelt, habe ich gehört?“
Themas nickte: „Ich habe den meisten beim Rötelmeister abgegeben. Zwei Säcklein habe ich behalten. Es ist ausgesucht feiner Rötel, gut für die Rötelstiftemacher. Ich möchte die Säckchen verkaufen.“
Der Priester lächelte ihn an: „Tu das, mein Junge. Von deinem ersten selbstverdienten Geld kannst du dir etwas kaufen. Weiß du schon, was du haben möchtest?“
Themas zuckte die Achseln: „Ich werde nach einer kleinen ledernen Tasche für meinen Vater schauen. Dort kann er seine Kleinwerkzeuge unterbringen. Und für meine Mutter möchte ich vielleicht Tuch kaufen, damit sie Kleidung daraus nähen kann. Nichts Buntes!“ Er grinste den Priester schief an. „Wir wollen ja nicht wie Gockel herum stolzieren!“ Er lachte. Orpek auch.
„Ja“, meinte Themas, „dann schau ich noch, ob ich Trischa etwas mitbringen kann. Sie mag Bonbons. Für den Fall, dass ich meinen Rötel nicht verkaufen kann, hat meine Mutter mir ein paar Münzen mitgegeben.“
„Und für dich?“, fragte der Priester. Er sah nicht so streng aus wie sonst. Sein Gesicht wirkte gütig und voller Verständnis. „Ein Junge wie du will doch sicher auch etwas aus dem Draußen haben.“
„Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung“, gab Themas zu. „Mir ist es wichtiger, meinen Eltern und meiner Freundin etwas zu schenken. Vielleicht finde ich Bleistifte. Unser Dorfpriester hat mir mal einen gezeigt. Man kann damit besser schreiben als mit einem Rötelstift.“ Themas zuckte die Achseln: „Nur, dass ich nicht mehr viel zu schreiben habe, seit meine Schulzeit vorbei ist. Ich weiß nicht. Ich denke, ich schaue mich um und wenn ich etwas finde, kaufe ich es vielleicht. Aber ich muss nicht. Man muss nicht so gierig sein und unbedingt etwas haben wollen. Man kann auch ganz gut verzichten.“
Mook Orpek lächelte ihn an: „Du hast gerade etwas sehr Schönes gesagt, mein Junge. Du bist bescheiden. Das ist gut.“ Er klopfte Themas auf die Schulter: „Komm, junger Freund. Wir sind gleich da. Genieße deinen ersten Tag im Draußen. Schau dich gründlich um. Rede nicht mit bösen Leuten und du wirst ein paar interessante Stunden erleben. Du kannst ruhig für dich allein umher spazieren. Sieh dir alles in Ruhe an, Themas. Ich wünsche dir einen schönen Tag.“
„Danke“, erwiderte Themas. Er sah den Priester nach vorne streben.
Die Karawane zog über die Wiese dahin und dann durch dichten Wald. Der Weg war breiter als die Dammstraße. Nach kurzer Zeit wich der Wald und sie kamen bei einer größeren Ansiedlung an. Sie passierten ein großes Ortsschild aus dunkelblau emailliertem Blech. LANDSWEILER stand in weißen Frakturlettern auf dem Schild.
Themas schaute die Häuser an. Er bekam Grund zum Staunen. Es gab Häuser, die aus rötlichen Ziegeln erbaut waren, wie die Häuser im Lehm. Aber da waren auch andere. Manche waren aus Holz gebaut, andere in Fachwerkbauweise errichtet. Einige größere Gebäude waren aus Sandstein erbaut. Themas staunte. Er hatte noch in in seinem Leben mehrgeschossige Häuser gesehen. Im Lehm gab es nur flache Gebäude und die Häuser der Bürgermeister hatten ein zweites Stockwerk. Höher kannte er es nicht.
Mook Orpek und Mork Ärlemon führten die Kamelkarawane zum Marktplatz am Rand der Siedlung. Dort warteten Händler auf Kunden und Lieferanten. Auf dem Gelände, das gut und gerne hundert mal dreihundert Meter maß, wurde alles mögliche gehandelt, angefangen mit Holz über Holzkohle und Ziegel und Steine zum Hausbau. Man kaufte und verkaufte Tuch und Strickgewebe, lose Wolle und Glasscheiben. Es gab Stände, die irdene Haushaltsgegenstände anboten und welche, die Gläser feilboten. Es gab fertig gespaltenes Brennholz und Bretter und Balken. Man konnte Leder kaufen oder eintauschen oder fertige Waren wie Schuhe, Taschen und Gürtel.
Überall liefen Menschen herum. Es waren so viele, wie Themas noch nie zuvor auf einem Fleck gesehen hatte, höchstens beim Sommerfest im Zentrum des Lehms. Ihm wurde schwindlig von dem wilden Gewusel. Clometsch Borkruther erklärte ihm, dass am Markttag alle Leute mit der Eisenbahn nach Landsweiler gefahren kamen. Rund ums Lehm gab es kleine Ortschaften, wo die Holzfäller lebten. Am Marktsamstag kamen die Leute nach Landsweiler.
Er schaute die Kleidung der Menschen an. Vom Schnitt her unterschied sie sich nicht sehr von den Sachen, die im Lehm getragen wurden. Es gab Hosen und Hemden, Pullover und Jacken. Frauen trugen Kleider und Röcke und Blusen und Kletterwesten. Der große Unterschied bestand in der Farbigkeit der Sachen.
Themas sah Männer in tiefblauen Hosen und hellblauen Hemden. Er sah Frauen in buntgemusterten Kleidern. Überall schrien ihn die Farben an: Karminrot, Sonnengelb, Grasgrün, Tannengrün, Dunkelblau, Himmelblau, Rosa und Lila und alle möglichen Zwischentöne. Es gab karierte Stoffe, die aus unzähligen farbigen Fäden gewebt waren und Blaudruckkleider mit weißen Ornamenten.
Themas machte sich davon. Er wollte raus aus dem Gewurle. Er ließ den Markt hinter sich und folgte einem Schild, das zum Bahnhof wies. Es führte ihn zur breiten Hauptstraße von Landsweiler. Rechts und links erhoben sich zwei- und dreistöckige Wohnhäuser. Im Erdgeschoss hatten sie oft einen Laden. Die Läden hatten hohe Schaufenster. Themas wunderte sich, wie man so große glatte Glasflächen herstellen konnte. Im Lehm gab es nur kreisrundes Butzenglas, das man mittels Blei zu kleinen Fenstern zusammenfügte.
Themas kam zum Bahnhof. Dort konnte er der Abfahrt eines Nahverkehrszuges beiwohnen. Fünf kleine braune Wägelchen wurden von einer kleinen dreiachsigen Dampflokomotive gezogen. Danach kam ein langer Güterzug vorbeigefahren, gezogen von einer Garratt-Maschine. Bei dieser Lok befand sich der Kessel tiefliegend zwischen zwei Drehgestellen. Die Lok war im Vergleich zu ihrer kleinen Schwester, die den Personenzug zog, ein Gigant.
Ein Bahnbediensteter erklärte dem staunenden Themas, dass die Garratt fast sechzig Tonnen wog. Sie zog einen ewig langen Zug mit offenen Waggons hinter sich her, auf denen Baumstämme vertäut waren. Neben der Gelenklokomotive sah die kleine dreiachsige Personenzuglok, die gerade mit vier Waggons am Haken in den Bahnhof einfuhr, aus wie ein Zwerg.
Garratt2 by Stefan Steinmetz, auf Flickr
Garratt5 by Stefan Steinmetz, auf Flickr
Themas war fasziniert. Hier sah er zum ersten Mal in seinem Leben Dampfmaschinen. Es war geradezu unglaublich, fand er, dass diese eisernen Riesen ihre riesige Kraft aus simplem Wasser gewannen. Man brachte Wasser zum Kochen und trieb die Maschinen mit dem dabei entstehenden Dampf an.
„Aus einem Liter Wasser entstehen eintausend Liter Dampf“, sagte der Mann von der Eisenbahn. Er trug eine grüne Uniform. „Der Dampf wird in die Zylinder geleitet und treibt das Gestänge an, das wiederum die Räder in Bewegung setzt. Wir haben eine Bahnlinie, die im Kreis um das geschlossene Gebiet herum führt und das Holz abholt, das in den anderen kleinen Orten im Wald geschlagen wird. Auch Personenzüge verkehren auf der Kreisbahn. Sie ist doppelgleisig angelegt. Es ist nur eine Kleinbahn mit 600mm Spurweite. Im Wald sind die Kurven eng. Da hat es keinen Platz für die Regelspur.“ Der Mann zwinkerte Themas zu: „Willst du später mal Lokomotivführer werden, Junge?“ Dann erst erkannte er an den Kleidungsstücken von Themas, dass er jemanden aus dem Lehm vor sich hatte. „Hmm … wohl eher nicht, was? Du kommst aus dem Lehmsumpf. Deinesgleiche hält nicht viel von Maschinen. Einen schönen Tag noch.“ Der Eisenbahner ließ Themas allein.
Themas blieb fast eine Stunde am Bahnhof und sah den Zügen zu. Dann kehrte er zur Hauptstraße zurück. Er fand den kleinen Kiosk, der Speiseeis verkaufte. Clometsch Borkruther hatte nicht übertrieben. Es gab etliche Geschmacksrichtungen von Johannisbeere über Kirsche und Erdbeere und Waldheidelbeere. Dazu noch Schokoladeneis und Nusseis. Themas kaufte sich ein Tütchen mit Erdbeereis und Himbeereis. Während er sein Eis genüsslich lutschte, sah er sich um.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs. Alle schienen auf dem Samstagsmarkt zu sein. Von seinen eigenen Leuten sah Themas niemanden. Er wunderte sich ein wenig. Was, wenn er weglaufen würde? Wenn er mit ins Draußen gekommen wäre, um dem Lehm auf immer zu entfliehen? Sollte es so einfach sein? Wieso waren dann nicht schon früher Menschen während des Besuchs im Draußen geflohen?
Gerade als er bei diesem Gedanken angekommen war, schien ihm, als sähe er in einiger Entfernung ein bekanntes Gesicht. Als er genauer hinschaute, war niemand mehr zu sehen. Hatte er sich geirrt?
Themas aß sein Eis zu Ende. Dann wandte er sich nach links. Er schlenderte an der Reihe der Schaufenster vorbei und betrachtete die Auslagen. Nicht weit vom Bahnhof entfernt entdeckte er den Schreibwarenladen, den Clometsch Borkruther ihm empfohlen hatte. Er verkaufte seine beiden Rötelsäckchen zu einem guten Preis und erstand mehrere Bleistifte, nebst Anspitzer und ein paar Heften und einem Block Zeichenpapier.
Gleich neben dem Schreibwarengeschäft befand sich ein Laden, der optische Geräte feilbot. Themas schaute ins Schaufenster. Dort gab es Ferngläser, Brillen, Mikroskope und Vergrößerungsgläser zu sehen.
Er nahm eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Themas schaute genauer hin. Dann sah er es. In der Schaufensterscheibe gespiegelt sah er ein paar Häuser weiter unten den Kopf von Helger Badin, dem Windmüller. Helger spitzte aus einer Nebengasse heraus und beobachtete ihn.
Also doch!, dachte Themas. Sie haben jemanden auf mich angesetzt, der aufpassen soll.
Plötzlich gefiel es ihm nicht mehr auf der Hauptstraße. Er betrat den Optikerladen und erstand ein kleines Vergrößerungsglas, das man in ein Lederetui schieben konnte. Danach kaufte er ein paar Häuser weiter unten ein Tütchen mit Bonbons. Anschließend lief er die Hauptstraße hinunter zum Markt.
Ab und zu schaute er sich verstohlen um und richtig: Helger Badin war ihm auf den Fersen und beobachtete ihn. Und er war nicht allein. Einmal sah Themas auch Nimber Ackermann aus Südlehmingen in einer Schaufensterscheibe gespiegelt.
Zwei große Männer, dachte Themas bei sich, während er so tat, als betrachte er die Auslagen im Schaufenster. Keine Frauen. Männer sind stärker. Sie könnten mich fangen und festhalten und zum Lehm zurück schleppen, wenn ich Anstalten machen würde, abzuhauen.
Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Dass er unter ständiger Beobachtung stand, fand er ekelhaft. Er hatte geglaubt, dass man ihm vertraute. Stattdessen hatte man ihm zwei Überwacher zugeteilt. Wahrscheinlich hatte Mook Orpek es persönlich angeordnet. Der Oberpriester wollte nicht riskieren, eins seiner Schäfchen zu verlieren.
Etwas blinkte am Boden. Themas bückte sich und hob es auf. Genau an dieser Stelle hatte er vor einer halben Stunde ein bekanntes Gesicht gesehen. Er nahm seinen Fund in Augenschein. Es war ein Blusenknopf aus Bronzeguss. Themas steckte ihn ein. Vielleicht konnte seine Mutter etwas damit anfangen.
Auf dem Markt erstand Themas von seinem ersten selbstverdienten Geld eine kleine Ledertasche für seinen Vater und eine Rolle feinstes Leinentuch. Der Stoff war naturfarben und nicht grell eingefärbt.
Bald danach machte sich die Karawane bereit für den Weg zurück ins Lehm. Themas zeigte seine Einkäufe Clometsch dem Ziegelmacher. Der bewunderte alles gebührend und beglückwünschte Themas.
„Ich habe einen Knopf auf der Straße gefunden“, berichtete Themas. „Ich habe ihn eingesteckt. Mutter kann ihn sicher gebrauchen.“ Er holte den kleinen bronzenen Knopf hervor.
Clometsch betrachtete ihn: „Sieht aus wie aus unserer Bronzegießerei. Ganz schlicht und nicht mit unnötigen Verzierungen wie es die Leute im Draußen mögen.“
„Jetzt wo du es sagst ...“ Themas nahm seinen Fund genauer in Augenschein. Es war ein fingernagelgroßes Bronzescheibchen mit zwei Löchern für den Faden, mit dem man den Knopf annähte. Am äußeren Rand des Knopfs befand sich ein deutlich sichtbarer Kratzer.
Themas starrte den Knopf an. Der Kratzer! Er kannte diesen Knopf. Er war dabei gewesen, als er den Kratzer abbekam. Das Bügeleisen war ihr aus der Hand gerutscht und auf die grobe Arbeitsjoppe gefallen und seine Kante hatte den Kratzer hinterlassen. Den Kratzer am Knopf der Jacke von seinem Onkel!
Themas gab sich Mühe, nicht zu erschrocken auszusehen. Er versuchte, sich möglichst unauffällig zu benehmen. Noch einmal schaute er den Knopf an. Er kannte ihn. Mit klopfendem Herzen steckte er ihn ein. Es war der Knopf von der Jacke seines Onkels.
Onkel Jidler!, dachte er. Onkel Jidler war in Landsweiler! Ihn habe ich in der Menschenmenge gesehen!
Sein Onkel Jidler Lerong war in Landsweiler gewesen. Sein Onkel, der vor einem Jahr aus dem Lehm geflohen war.
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