Es war Suppentag bei Kolbes. Polly und Chayenne waren nach der vierten Stunde von der Schule zurückgekommen und Chayenne arbeitete mit Feuereifer in der Kolbeschen Küche.
Polly staunte wie fix das Mädchen das aus dem Garten stammenden Gemüse putzte und zurecht schnitt. Sogar ihre Mutter war baff.
„Du bist aber schnell“, meinte sie.
Chayenne lächelte sie schüchtern an: „Daheim muss ich schnell arbeiten. Es ist ja viel zu tun. Wir sind sieben Leute in der Familie und manchmal haben wir noch Besuch. Weil ich heute für Mittag und Abend koche, ist es auch viel. Mir macht das nichts aus. Ich arbeite gerne.“
Wieder musste Polly sich wundern über die Verwandlung ihrer Klassenkameradin. Es war, als hätte Chayenne sich über Nacht vollkommen verändert. Die neue Chayenne gefiel ihr. Wenn der Angriff des Schratzls dafür verantwortlich war, dann hatte es sich gelohnt.
Die Tür ging auf. Pollys Vater kam mit Stephan herein.
„Hier riecht es aber gut. Der Stephan kann doch bei uns mitessen, oder?“ fragte Georg. „Der wollte gerade anfangen zu kochen. Das dauert ja ewig, bis er was zwischen die Kiemen bekommt. Eugen mag nicht. Er sagt, er hätte erst vor einer Stunde gefuttert.“
„Es ist mehr als genug da“, sagte Sandra. „Geht euch die Hände waschen. Es wird gleich aufgetragen.“
„Wir haben den lose liegenden Teil von Stephans Feldbahngleisen jetzt fest eingeschottert“, erklärte Georg, als die Männer aus dem Bad kamen. „Wir sind so gut wie fertig.“
Sie setzten sich zu Tisch. Die Suppe wurde aufgetragen und man langte tüchtig zu.
„Mann, schmeckt das gut!“ Stephan und Georg sagten es fast gleichzeitig. Georg schaute seine Frau an: „Sandra, die Suppe ist dir fantastisch gelungen.“
Sandra lächelte ihren Göttergatten an: „Danke für das Lob, aber nicht ich habe es verdient, sondern die junge Dame neben Polly, Chayenne Kowak.“
„Deine Suppe ist super, Chayenne“, lobte Georg. „Wirklich.“
„Wollte ich auch gerade sagen“, schob Stephan nach.“Absolute Spitzenklasse.“
Als auch noch Polly und ihre Mutter die „Suppe quer durch den Garten“ lobten, wurde Chayenne rot unter dem Lob.
Nach dem Essen räumten Polly und Chayenne das Geschirr in den Geschirrspüler. Dann verzogen sie sich auf Pollys Zimmer.
„Die haben mich gelobt“, sagte Chayenne mit dieser seltsamen Piepsstimme, die sie manchmal an den Tag legte. „Alle!“
„Es hat ja auch prima geschmeckt“, meinte Polly.
Chayenne stand mitten in ihrem Zimmer und schaute zu Boden: „Daheim lobt mich keiner, wenn ich koche. Es heißt einfach: Mach! Dann setzen sie sich hin und essen. Fertig.“ Sie blickte Polly an. Polly wusste nicht recht, was sie sagen sollte.
Ging es Chayenne zuhause nicht gut? Wurde sie dumm angemault? War sie deshalb solch ein Biest?
Gewesen, korrigierte die kleine Stimme in Pollys Kopf. Ein Biest gewesen. Sie hat sich verändert.
Chayennes Blick fiel auf Pollys neue Nähmaschine: „Eine Artex 4000. Wow! Die hätte ich auch gerne, aber daheim nähe ich immer auf Omas alter PFAFF mit Fußwippe. Oma sagt, was für fünfzig Jahren gut war, ist auch heute noch gut, und so neumodischer Mist kommt ihr nicht ins Haus.“ Das Mädchen wirkte traurig. „Dabei haben Oma und Opa echt viel Geld. Mit der Artex könnte ich viel schneller und besser nähen. Die hat ganz viele Programme für verschiedene Nähte.“
„Lass uns nach draußen gehen“, schlug Polly vor. Sie liefen über die Straße zu Stephan Harrer. Polly öffnete das Gartentor und schleppte Chayenne mit hinter das Haus. Dort arbeiteten Stephan, Eugen und Pollys Vater an der Feldbahn. Sie hatten Schotter rund um die Schienen verteilt und stopften ihn mittels Pickeln unter die Geleise. Der Leutnant war bei ihnen und führte die Aufsicht. Der Großspitz war dermaßen ins Aufpassen vertieft, dass er Pollys und Chayennes Kommen erst wahrnahm, als die beiden um die Hausecke bogen. Sofort raste er auf die beiden Mädchen zu. Er begrüßte Polly freundlich. Dann stellte er sich vor Chayenne und musterte den fremden Eindringling.
Polly führte den Spitz zu ihrer Klassenkameradin. „Das ist die Chayenne“, stellte sie das Mädchen vor. „Die geht mit mir in die gleiche Klasse.“
Der Leutnant stand still in Habacht. Dann schritt er zu Chayenne, hob eine Pfote und stupste Chayennes Bein an. Er ließ sein freundlichstes Begrüßungswinseln hören.
„Das macht der nicht gerade mit jedermann“, sagte Eugen Niedermeyer. „Der Leutnant mag dich.“ Er nahm Chayenne aufs Korn: „Sag mal, bist du nicht die Chayenne Kowak?“
Chayenne nickte: „Ja.“ Sie grüßte artig. Dann ließ sie sich auf die Knie fallen und kraulte den Leutnant, der sich das nur zu gerne gefallen ließ.
„Er mag dich wirklich“, sagte Polly. „Normalerweise ist er gegen Fremde erst mal sehr misstrauisch.“ Sie schaute Chayenne in die Augen: „Wahrscheinlich kann er spüren, dass du ein guter Mensch bist. Hunde können das.“
Chayenne sagte nichts. Nur ihre Augen wurden größer.
Die Mädchen machten sich daran, Stephans Garten zu erkunden. Polly erklärte Chayenne alles. Besonders die Feldbahn hatte es Chayenne angetan. Sie fand es toll, dass jemand ein eigene Eisenbahn im Garten hatte.
Nach einer Weile musste Polly aufs Klo. Sie ging ins Haus und als sie wieder heraus kam, spielte Chayenne mit dem Großspitz am obersten Ende des Geländes. Der Leutnant bellte freundlich.
Polly stand bei den drei Männern, die gerade eine Pause machten, um Limonade zu trinken. „Die Chayenne hat sich total verändert“, sagte sie. „Sie ist so lieb geworden. Richtig sanft.“
„Sanft?!“ Stephan schaute zu dem Kowak-Mädchen hinüber. „Die Wildkatze? Das ist doch diejenige welche, oder? Die dauernd Streit anfängt und kleinere Kinder verhaut.“
Polly nickte: „Aber sie tut es nicht mehr. Sie ist total nett geworden. Freundlich und sanft.“
Stephan Harrer schaute zu Chayenne Kowak hin. Sanft, dachte er. Ausgerechnet das kleine Rabenaas. Siegfried Kowaks Enkelin und sanft!
Er machte sich mit Eugen und Georg wieder an die Arbeit. Pollys Worte ließen ihn nicht in Ruhe. Sanft. Sanft … immer wieder kreiselte das Wort durch seinen Kopf. Sanft …
*
Notizbuch II/Numero XVI:
Die letzte Klientin ist in der Entsorgung. Das ist der unangenehmste Teil meiner Arbeit. Die Körper der Toten los zu werden. Es ist auch der gefährlichste Teil. Ich begrabe sie am anderen Ende meines Landes, dort wo niemand es sehen kann. Dann lasse ich sie unter der Erde, bis die Würmer ihre Arbeit getan haben. Danach hole ich die Knochen heraus und schicke sie durch meinen Spezialhäcksler. Heraus kommt reines Knochenmehl, das ich nachts in der Ache entsorge.
Wenn irgendwann einmal die Polizei auf die Idee käme, mit Leichenspürhunden anzurücken, während eine Leiche im Boden „aufbereitet“ wird, wäre das eine Katastrophe. Schön, ich breche ihnen immer die Zähne aus, damit man sie nicht einwandfrei identifizieren kann, aber trotzdem!
Es ist gefährlich. Allerdings kenne ich keine andere Art, wie ich die Leichen loswerden kann. Ich kann sie ja nicht einfach in die Ache werfen. Im Wald vergraben ist auch keine Lösung. Ich müsste sehr tief graben, damit Wildtiere sie nicht wieder ausbuddeln. Dabei könnte ich gesehen werden. Ich würde mich verdächtig machen.
Also bleibt es bei der gewohnten Routine: Sobald ich sehe, dass die Operation gescheitert ist, mache ich dem Leben der Klientin mit einem Pistolenschuss in den Kopf ein Ende und begrabe sie auf meinem Land. Mir wäre es lieber, wenn ich eine andere Lösung wüsste. Mir fällt aber nichts ein. Am liebsten wäre mir natürlich, wenn ich endlich den Durchbruch schaffen und eine lebende Elfe erschaffen würde. Dann wäre die Beseitigung einer Leiche nicht mehr nötig. Dass es schiefgehen würde, war mir ja zu Anfang gar nicht klar. Es traf mich völlig überraschend. Es ist so enttäuschend. Wahrhaft enttäuschend. Warum ist Convertius Magnus so vage?
Ich habe mir vorgenommen, sein gesamtes Werk noch einmal genauestens zu studieren. Satz für Satz, Wort für Wort werde ich lesen und deuten. Vielleicht habe ich etwas übersehen? Gleich morgen mache ich mich an die Arbeit. Ich will endlich positive Ergebnisse!
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Arne Ellerbrok, Runsach:
Ich habe Peter Lange wiedergetroffen, den Zwergenpeter. Er hat seinen Schlapphut abgelegt, sonst ist er unverändert. Ich traf ihn, als ich einen Spaziergang machte, draußen vorm Dorf. Als ich ihn erkannte, wurde mir bewusst, dass ich den Kerl schon öfter habe ums Dorf schleichen sehen.; halt immer nur von Weitem. Diesmal habe ich ihn anscheinend überrascht. Mir kam es beinahe so vor, als hätte er versucht, mir auszuweichen. Als hätte er Dreck am Stecken.
Als wir aber einander gegenüber standen, war es mit seiner Zurückhaltung vorbei. Geschimpft hat er. Gezetert. Er war gemein bis ins Mark. Ich habe schon einmal geschrieben, dass mir ein solcher Hass bei einem Menschen noch nicht untergekommen ist.
„Habe gehört, es kam eine kleine Hand mit der Post“, meinte er seelenvergnügt. „Die Hand von Clara Malvine Kowak.“ Er grinste tatsächlich übers ganze Gesicht. „Der Schratzl hat sie geholt, nicht wahr? Der Schratzl wars! Hat sie nachts geholt und in sein Schratzlloch gezerrt und dann ...“ Er fuhr sich mit der flachen Hand an der Kehle vorbei. „Zack! Zappzarapp! Aus wars mit der Kowak-Range!“
Ich weiß ja, dass die Kowak-Sippe dem Peter übel mitgespielt hat, aber in dem Moment hätte ich ihn am liebsten nach Strich und Faden verprügelt. Erfreut sich am Tod eines Kindes. Was für ein mieser Hund!
Er gab keine Ruhe. „Es passieren auch andere Dinge, hat man mir zugetragen“, keifte er. Dabei war er so vergnügt wie ein Frosch im Wasser. „Zeugs verschwindet. Zeugs geht kaputt. Hab ich Recht, Zugezogener? Hihi! Ja, ja, der Schratzl … wenn man den erst mal aufgescheucht hat in seinem Schratzlloch, ist´s vorbei mit der Ruhe. Jetzt kommt er regelmäßig und er will seine Rache für die Sünden der Kowaks.“
Er trat auf mich zu und starrte mich mit brennenden Augen an: „Denk ja nicht, dass die Clara Malvine die Letzte war. Es geht weiter, Ellerbrok! Immer weiter. Bis keine Kowak-Range mehr übrig ist. Das sag ich dir, Zugezogener.“
Dann drehte er sich um und er hüpfte davon. Dabei singsangte er die ganze Zeit: „Trari-Trara, der Schratzl der war wieder da.“ Dazu hinkte er wie ein Teufel.
War am Überlegen, ob ich ihn anzeigen soll, aber Achim Meese hat mir ja bei dem Lottomann schon keine Hoffnung gemacht, und das war auch gut so. Stephan Harrer ist unschuldig.
Aber Peter Lange benimmt sich äußerst verdächtig. Seit Wochen schleicht er um Runsach herum. Ich habe mich erkundigt. Auch andere glauben ihn gesehen zu haben, den Zwergenpeter. Es habe welche vorgeschlagen, die Bürgerwehr auch tagsüber Streife gehen zu lassen. Wenn die ihn draußen in den Feldern erwischen, schlagen sie ihn windelweich. Dann zieht er ab. Aber es sind nicht genug Leute vorhanden. Schon so ist die Besetzung der Bürgerwehr arg dünn. Liegt wohl daran, dass nur Kowaken und einige wenige Huber-Schulzes teilnehmen. Andere Leute aus Runsach halten sich vornehm zurück. Sollen die Kowaks doch schauen, wie sie klar kommen. Es betrifft ja nur sie.
Schadenfreude geht um im Dorf. Jedenfalls wenn es die kleinen und größeren Missgeschicke angeht wie zersägte Rennräder oder zerdepperte Autos. Bei den verschwundenen Mädchen hört die Schadenfreude allerdings sofort auf. Nur der ekelhafte Zwergenpeter kann sich darüber freuen.
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