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Stefan Steinmetz
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Dabei seit: 10.02.2006
Beiträge: 1732

Der Elfenmacher(1) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Prolog:

Es war März und es war kühl und windig und dunkel und Jacqueline Pfeifer war nicht gut drauf. Erstens fror sie in ihrer dünnen Jacke und zweitens hatte sie ihre Flöte vergessen. Ersteres war unangenehm, zweiteres war noch viel unangenehmer. Die teure Querflöte!
Na es wird sie ja keiner klauen, überlegte Jacqueline. Höchstens Sarah Schuster. Der täte ich das zutrauen, der miesen Zicke.
Aber Sarah Schuster war nicht in der Flötengruppe der Realschule von Achen. Sarah Schuster war nach der Schule nach Hause gegangen.
Jacqueline auch, aber sie war am Nachmittag mit ihrer Monatskarte per Bus von Runsach nach Achen zurückgefahren, um am Flötenunterricht teilzunehmen.
Jacqueline zog den Kragen ihrer dünnen Jacke höher. Mann war das ekelhaft kalt. Und erst dieser blöde Wind. Als hätte sie nicht schon genug Probleme am Hals. Als Zehnjährige hatte man es echt schwer. Alle hackten auf einem herum, man durfte nichts machen, weil man ja „noch zu klein“ war und wurde dumm angemacht, wenn man sich was wünschte. Reitunterricht zum Beispiel. Ihre Freundinnen Kerstin und Zora durften reiten. Und ihre Cousine Savannah auch.
Schön, Savannah war schon elf, aber Kerstin und Zora waren so alt wie Jacqueline – zehn Jahre.
Ihre linke Hand juckte. Jacqueline hob sie zum Mund und leckte mit der Zungenspitze über den tiefen Kratzer, den Churchill ihr verpasst hatte. Das half eine Weile, gegen das leichte Brennen. Die Wunde war nicht tief, aber es war ein großer Kratzer, der sich quer über Jacquelines Handrücken zog. Neben der Sache mit Sarah Schuster noch eine Sache, wegen der ihre Eltern mit ihr gemault hatten.
„Wann lernst du es endlich?“ hatte ihre Mutter geschimpft. „Churchill ist eine Katze, kein Hund. Katzen können es nicht leiden, wenn man sie auf den Rücken legt und am Bauch krault. Das werten sie als Angriff und sie schlagen mit den Krallen aus. Du bist so was von dämlich, Jacqueline! Du siehst und hörst nicht! Tu wenigstens Desinfektionsspray auf den Kratzer, sonst bekommst du eine Entzündung.“
Das hatte Jacqueline getan. Trotzdem brannte die Wunde. Erneut leckte sie über ihre linke Hand. Der Wind fuhr ihr unters Haar und in den Kragen.
„Blödes Wetter“, brummelte sie. „Kann es nicht endlich warm werden? Wir haben übermorgen Frühlingsanfang. Wenn ich bloß die doofe Flöte nicht vergessen hätte.“
Sie hatte nach dem Musikunterricht mit ihren Freundinnen gequatscht und darüber irgendwie die Querflöte vergessen. Jacqueline hoffte zuhause einfach so ins Haus schlüpfen zu können, so dass ihre Eltern nicht merkten, dass sie die Flöte nicht dabei hatte. Ihr Vater war im Moment nicht gut auf sie zu sprechen.
Das lag nicht nur an dem Kratzer, den Churchill ihr verpasst hatte. Schuld war die dämliche Sarah Schuster, diese miese Zicke.
„Schakkeliene! Schakkeliene!“ so rief die Kuh gerne hinter ihr her. Sie hatte die Verballhornung ihres Vornamens zufällig aufgeschnappt, als Jacqueline in Achen ihre Großmutter besucht hatte. Die Oma konnte den französisch klingenden Namen ihrer Enkelin nicht richtig aussprechen. Vielleicht, überlegte Jacqueline, tat sie es auch aus Sturheit. Sie sprach ausländische Worte und Namen immer so aus, als läse sie sie in Deutsch. Die Queen von England war bei ihrer Oma nicht die Kwien sondern die Kwehn und sie hieß auch nicht Elissebess sondern El-i-sa-bett. Und sie war die Schakkeliene.
Blöd dass Sarah Schuster das gehört hatte und ihr seitdem damit auf die Nerven ging.
Noch ekelhafter war, dass Sarah Schuster über ihren Onkel Frank hergezogen hatte, den Bruder ihres Vaters, den Jacqueline abgöttisch liebte. Nur zu gut erinnerte sie sich an Sarahs gemeinen Singsang: „Der Frank Kowak - haut in den Sack. Nun hats der Ingeniör - ganz furchtbar schwör. Keine dicke Kohle mehr - denn er ist Hilfsarbeiteer.“
Die Schustersche Nervensäge hatte keine Ruhe gegeben. „Hilfsarbeiter! Hilfsarbeiter!“ hatte sie gerufen und dazu genüsslich gelächelt. „Hilfsarbeiter in der Dummschulfabrik!“
Blöde Kuh! Erstens wurde in der Fabrik, in der Onkel Frank neuerdings am Band arbeitete, Mobiliar für alle Schulen des Landes hergestellt und nicht nur für Dummenschulen und zweitens, was konnte ihr Onkel dafür, dass die CERENA letztes Jahr dichtgemacht hatte? Damals waren viele Leute in Runsach arbeitslos geworden; auch ihr Onkel und ihre Mutter hatten ihre Arbeitsstellen verloren.
Es endete damit, dass Jacqueline über Sarah herfiel und sie anständig verdrosch. Leider war das nicht das erste Mal. Sie hatte Sarah Schuster bereits zwei Wochen zuvor verprügelt und diesmal endete es nicht mit einer Ermahnung ihrer Klassenlehrerin sondern mit einem blauen Brief, der bei ihr zuhause anflatterte. Jacquelines Vater war auf hundertachtzig gewesen und hatte ihr gedroht, dass er sie ordentlich abziehen würde, wenn diesen Monat noch einmal was vorfiel.
Jacqueline seufzte abgrundtief. Und jetzt hatte die die dämliche Flöte vergessen. Wenn ihr Vater das raus fand, war sie reif. Dann würde ihr Vater ihr den Hintern versohlen.
Hinter Jacqueline wurden Schritte laut. Sie schaute sich um. Da war niemand. Im ersten Moment hatte sie gedacht, eine ihrer Freundinnen aus Runsach hinter sich zu haben. Dann hätte sie jemanden zum Reden gehabt. Aber hinter ihr lag die Straße still und leer. Nur der Wind fuhr um die Ecken und wirbelte eine einsame Plastiktüte an den Hauswänden vorbei. Es raschelte leise.
Jacqueline zuckte die Achseln. Sie setzte ihren Weg fort. Sie leckte über ihre Hand und dachte darüber nach, wie doof es war, dass Katzen es nicht mochten, wenn man sie am Bauch kraulte. Hunde liebten das. Sowieso hätte sie lieber einen Hund gehabt, vielleicht so einen coolen wie der Lottomann, einen Großspitz. Allerdings würde sie ihren Hund nicht Leutnant nennen sondern Schnuffi oder Rex. Aber sie hatten ja eine Katze und wo eine Katze lebte, konnte es keinen Hund geben, hatten ihre Eltern gesagt.
Dabei ging es auch ums Geld. Noch ein Grund, warum ihr Vater so schlecht drauf war. Vor einer Woche war einer der großen Backöfen kaputt gegangen. Irgendwas war ausgefallen und dann hatte sich der Ofen wegen der Hitze verzogen und die Tür war raus gefallen. Der Ofen war total hin, sagte ihr Vater. „Der backt für keinen Bäcker der Welt mehr Brot. So ein Mist! Ausgerechnet jetzt, wo wir den neuen Wagen abzahlen müssen.“
Geld war ein Problem, seit die Mutter nicht mehr als Sekretärin bei der CERENA arbeitete und der Vater das Geld allein mit der Bäckerei verdienen musste.
Jacqueline spitzte die Ohren. Wieder waren Schritte hinter ihr zu hören. Da lief doch jemand hinter ihr her! Sie drehte sich ruckartig um. Nichts. Niemand zu sehen. Das war aber komisch. Sie hörte Schritte, aber sie sah niemanden. Folgte ihr jemand heimlich?
Der Schratzl, hörte sie die Stimme ihrer Großmutter in Gedanken sagen. „Der Schratzl kommt nachts aus seinen Höhlen und holt die Kinder.“ Die Oma war in Runsach aufgewachsen und war erst nach der Heirat mit dem Opa nach Achen gezogen. Mit dem Schratzl machte man kleinen Kindern Angst, die nicht auf ihre Eltern hörten. Nachts kam der Schratzl aus seinem Schratzlloch und holte die kleinen Kinder. Der Schratzl war ein böser Zwerg mit ausladendem Schnurrbart und einem Bärtchen. Ein bisschen sah er wohl so aus wie ein böser Gartenzwerg; nur größer. Jacqueline schnaubte verächtlich. Einer Zehnjährigen brauchte man damit nicht zu kommen. Den Schratzl gab es nicht.
Aber da waren schon wieder diese Schritte hinter ihr. Diesmal hörte Jacqueline sie ganz deutlich, obwohl derjenige, der ihr folgte, sich bemühte möglichst leise aufzutreten. Waren das die Kerle aus dem Oberdorf? Dieser Micha mit seinen dämlichen Freunden? Die machten des öfteren solche blöden Scherze. Sie versuchten den jüngeren Kinder Angst einzujagen.
Jacqueline schielte über die Schulter.
Wenn ich euch erkenne, sage ich es meinen Cousins. Dann habt ihr die ganze Kowak-Familie am Hals. Die verdreschen euch nach Strich und Faden, ihr Idioten.
Sie sah niemanden und als sie stehen blieb, um zu lauschen, hörte sie keine Schritte mehr hinter sich.
Als ob derjenige, der mir folgt, nicht will dass ich ihn höre. Diese Blödmänner! Ich werde dafür sorgen, dass sie anständig Prügel beziehen. Mistkerle, elende!
Jacqueline lief weiter. Der Wind frischte auf. Ekelhaft. Warum musste die dämliche Bushaltestelle auch so weit draußen am Dorfrand sein? Wieso konnte der doofe Bus nicht in der Mitte des Dorfs halten, wo sie wohnte. Immer musste sie bei Wind und Wetter einen Kilometer weit laufen.
Sie dachte an ihren Vater. Der große Ofen war nicht versichert. Das hatte sie raus gefunden, weil ihre Eltern sich lautstark gestritten hatten. Ihre Mutter hatte ihrem Vater Vorhaltungen gemacht.
Die hohe keifende Stimme ihrer Mutter: „Wie kann man nur so blöde sein, sein Werkzeug nicht zu versichern! Mal wieder typisch für dich. Aber ein teures Auto anschaffen, dass wir uns gar nicht leisten können!“
Die tiefe Stimme ihres Vaters: „Ich konnte ja nicht ahnen, dass jemand einbrechen und den Ofen kaputt machen würde!“
„Du Dämlack! Wer würde denn einbrechen, um einen Ofen zu zerstören?! Der Ofen ist einfach kaputt gegangen. Hättest du ihn mal anständig versichert!“
So war es hin und her gegangen. Jedenfalls war der Ofen hin und Jacquelines Vater hatte kein Geld für einen neuen. Er brauchte aber unbedingt einen neuen Ofen, weil der andere allein nicht reichte, um alles Brot zu backen. Aber da war das neue Auto, dass er abbezahlen musste. Nein, ihr Vater war zurzeit wirklich nicht gut drauf. Wenn der das mit der Flöte spitz kriegte, war Jacqueline eine Tracht Prügel sicher. Davor fürchtete sie sich, denn ihr Vater schlug sie mit dem Gürtel, und danach war ihr Hintern grün und blau geschlagen und schmerzte tagelang.
Allein beim Gedanken daran wurde ihr angst und bange. Am liebsten hätte sie Sarah Schuster gleich am nächsten Tag noch mal verhauen, die doofe Ziege.
Ich werde Marvin und Andy bitten, das für mich zu übernehmen. Ich selber kann die Schuster-Zicke im Moment nicht abwatschen. Aber die zwei können sich noch ein oder zwei Kumpels dazu holten, und der Sarah mal anständig einheizen.
Der Gedanke gefiel Jacqueline. Mario und Andy waren ihre Großcousins oder so ähnlich. Irgendwie waren alle Kowaks in Runsach miteinander verwandt und man stand Verwandten bei, wenn sie Hilfe brauchten. Jacqueline brauchte Hilfe. Sie wollte, dass Sarah Schuster mal so richtig abgezogen wurde, nach Strich und Faden vermöbelt. Von wegen Schakkeliene rufen! Der musste man nur ein paar richtige Schläge aufs große Maul verpassen, dann würde sie die Klappe halten, die blöde Scheiß-Tusse.
Wieder meinte sie Schritte hinter sich zu hören. Jacqueline spürte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Das war doch nicht normal, dass da jemand hinter ihr her schlich. Urplötzlich fielen ihr die Namen der Mädchen ein: Lenya, Chantal, Mandy, Chiara, Erika und Julia. Sechs Mädchen. Sechs Mädchen, die innerhalb eines Jahres verschwunden waren – einfach verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.
Vom Schratzl in seine Erdhöhle verschleppt, flüsterte es in Jacquelines Kopf. Der Schratzl hat sie geholt und unter die Erde entführt. Der böse Zwerg wars.
Jacquelines Herz begann zu klopfen. Nein. Kein Schratzl. Schratzl waren Zwerge und Zwerge verschickten keine Päckchen mit der Post. Sie schluckte. Ihre Angst steigerte sich. Sechs Mädchen verschwunden, alle in ihrem Alter und alle gehörten sie zur Kowak-Sippe. Mädchen zwischen zehn und elf Jahren. Von einem Tag auf den anderen waren sie weg und tauchten nie wieder auf. Was auftauchte war ein bis zwei Wochen nach ihrem Verschwinden ein Päckchen und in diesem Päckchen lag die linke Hand der verschwundenen Mädchen, am Handgelenk abgesägt.
Das war kein Schratzl. Das war ein Mörder, ein Mann der kleine Mädchen umbrachte und danach den Eltern die linke Hand ihres Kindes mit der Post schickte.
Da! Wieder diese verstohlenen Schritte! Diesmal hörte Jacqueline sie ganz genau. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Sie hatte Angst. Sie war ganz allein auf der Straße. Runsach lag wie ausgestorben. Die Straßenlaternen erzeugten orangefarbene Lichtinseln auf dem dunklen Asphalt. Der Wind wisperte und stöhnte. Es klang wie ein lebendiges Wesen.
Jacqueline sah das Haus von Meyers vor sich. Rasch schlüpfte sie in den überdachten Hauseingang. Sie duckte sich und lauschte.
Ja, da waren Schritte. Vorsichtig lugte sie um die Hausecke auf die Straße. Es war niemand zu sehen. Aber sie hörte die Schritte. Eilige Schritte. Schritte, die sich in einer Nebenstraße entfernten.
Jacqueline stand auf. Sie ächzte. Dann grinste sie. Da war tatsächlich einer hinter ihr hergegangen. Seine Schritte hatten sich leise angehört, weil der Wind so laut wehte. Und dieser Jemand war nun in eine andere Straße eingebogen und sah zu dass er schnellstens zu seinem Haus kam. Bei diesem Ekelwetter wollte keiner lange auf der Straße bleiben.
Während Jacqueline ihren Weg fortsetzte, kicherte sie in sich hinein. Sie hatte sich selber ins Bockshorn gejagt. Sie hatte Angst vor der eigenen Angst gehabt. Dabei war bloß jemand anderes durch die abendlichen Straßen getappt.
Der Schratzl war es jedenfalls nicht, dachte sie. Du hast dich geirrt, Oma.
Ihre Großmutter hatte sofort vom Schratzl gesprochen, als vor etwas mehr als einem Jahr das erste Mädchen verschwand.
„Das war der Schratzl“, hatte die alte Frau gesagt und sich bekreuzigt. „Der Schratzl erfüllt das Schicksal. Das Schicksal wacht über die Menschen. Wenn Menschen Böses tun, dann kommt der Schratzl und holt die Kinder. Das Schicksal lässt sich nicht ewig alles gefallen. Allein was der Siegfried auf dem Kerbholz hat! Und die Anderen nicht viel weniger! Irgendwann wurde es zu viel. Jetzt kommt der Schratzl und holt sich die Kinder. Er bringt sie in sein geheimes Schratzlloch und dort bringt er sie auf grauenhafte Weise um. Wirst sehen, es werden noch mehr, Schakkeliene.“
Es wurden tatsächlich mehr. Sechs Mädchen im Lauf eines Jahres und alle aus der Kowak-Familie. Sie selber hieß zwar Pfeifer, aber ihre Mutter war eine geborene Kowak. Alle Mädchen waren mit dem Kowak-Clan verwandt. Das stimmte tatsächlich. Aber das mit dem Schratzl war Quatsch. Es war ein ganz normaler Mann. Na ja, normal war der nicht. Jemand, der kleine Mädchen entführte und umbrachte und ihren Eltern die abgesägte linke Hand schickte, war nicht normal. So einer war total verrückt.
Brachte er sie denn um? Man hatte bis heute keine Leiche gefunden. Dass einem die Hand abgesägt wurde, konnte man leicht überleben. Die Wunde musste nur gut desinfiziert und verbunden werden. Fing jemand Kowak-Mädchen ein, um sie als Sklavinnen zu halten?
Jacqueline stellte sich ihre gleichaltrigen Verwandten in einem Kellerverlies vor, wo sie für einen gemeinen Kindesentführer arbeiten mussten und nie wieder frei kamen. Aber ohne linke Hand konnte man doch gar nicht gescheit arbeiten.
Einem Verrückten wäre das egal, überlegte Jacqueline. Vielleicht ist es etwas Rituelles.
Sie hörte Schritte hinter sich. Es war ja doch einer hinter ihr her! Ruckartig blieb sie stehen. Nichts. Jacqueline schluckte heftig. Ihr Herz begann wieder zu klopfen.
Der Schratzl …
Oder der verrückte Kindesentführer …
Oder …
Jacqueline begann zu zittern. Sie hatte Angst, große Angst. Jetzt hätte sie gerne einen Hund bei sich gehabt. So einen wie der Lottomann. Wenn der Großspitz neben ihr hergelaufen wäre, hätte sie ihn gerufen: „Leutnant! Pass auf!“ Dann wäre ihr Verfolger stiften gegangen.
Aber der Leutnant war nicht mehr da. Der Hund lebte nicht mehr in Runsach. Er war mitsamt seinem Besitzer ins Nachbardorf Rhensach gezogen, weil Onkel Siegfried und andere Kowaks seinem Herrchen das Leben schwer gemacht hatten. Harrer hieß der Mann. Er hatte im Lotto gewonnen und sich ein großes Bauernhaus am Dorfrand gekauft und dazu noch zwei Hektar Land, und letzteres hatte ihren Onkel sehr geärgert.
„Der Hurensohn, der dreckige“, hatte Onkel Siegfried getobt. „Hat sich das beste Ackerland unter den Nagel gerissen, obwohl er es gar nicht bewirtschaftet. Na dem werden wir heimleuchten!“
Dann hatten die Kowaks dem Harrer das Leben sauer gemacht. Onkel Siegfried war mal Bürgermeister von Runsach gewesen und hatte immer noch viel Einfluss und er hatte Harrer vor Gericht gebracht, weil der was an seinem Haus machen ließ, was illegal war und ihn auch wegen anderer Sachen angezeigt und irgendwann hatte Harrer aufgegeben und war abgehauen. Er hatte sie von seinem Lottogewinn ein neues Haus in Rhensach gekauft.
Vor einem Jahr war das gewesen. So ungefähr. Kurz nachdem die CERENA zugemacht hatte und viele Menschen in Runsach ihre Arbeitsstelle verloren hatten.
Und kurz drauf verschwand das erste Mädchen, dachte Jacqueline. Sie schluckte heftig.
Hatte das Verschwinden der Kowak-Mädchen etwas mit dem Lottomann zu tun, mit Harrer? Wollte sich der Mann an den Kowaks rächen, indem er ihre Kinder entführte und die abgesägten Hände an die Eltern schickte? Konnte jemand so grausam sein?
Wieder hörte sie Schritte hinter sich. Jacquelines Angst steigerte sich. Egal ob Lottomann oder Schratzl oder irgendein verrückter Kindermörder. Es war jemand hinter ihr, und sie wollte nach Hause, so schnell wie möglich. Sie beschleunigte ihr Schritte.
Sie kam zur Dorfmitte. Da war die Marienkapelle. Was für ein tröstlicher Anblick. Nur noch über den Dorfplatz und in die Gasse einbiegen, dann war sie zuhause. Jacqueline atmete auf. Sie begann zu laufen. Sie hatte es plötzlich sehr eilig. An die vergessene Flöte dachte sie nicht mehr. Die war nicht wichtig.
Sie passierte die Kapelle. Schon sah sie in weniger als fünfzig Metern Entfernung die Bäckerei ihres Vaters. Sie wohnten obendrüber im ersten Stock. Lichtschein drang aus den Fenstern. Sie war zuhause. Gott sei Dank.
Plötzlich packten sie starke Arme von hinten. Jacqueline wollte schreien. Da legte sich etwas über ihren Mund. Sie zappelte verzweifelt, aber da war so ein komischer Geruch. Er ging von dem Stoffding aus, dass ihren Mund und ihre Nase bedeckte. Jacqueline fühlte sich mit einem Mal ganz furchtbar müde und erschöpft. Sie konnte sich nicht mehr richtig bewegen.
Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

*

Jacqueline erwachte. Es war hell. Direkt über ihr waren Lampen. Sie lag auf einer Art Platte. Daneben stand ein Tisch mit Operationsbesteck. Das kannte sie. Das hatte sie mal im TV gesehen.
Bin ich im Krankenhaus? Was ist los? Wieso bin ich im Krankenhaus? Bin ich hingefallen? Habe ich mir etwas gebrochen?
Sie war verwirrt. Sie erinnerte sich nicht. Wieso war sie in einem Raum mit Lampen an der Decke?
Ich bin ja ausgezogen. Ich habe überhaupt nichts an. Wollen die mich operieren?
Komisch war, dass der Raum überhaupt nicht aussah wie ein Operationssaal im Krankenhaus. Er sah aus wie ein alter Gewölbekeller. Nur die Lampen an der Decke, der Tisch mit den Messern und dem OP-Besteck und die Platte, auf der Jacqueline lag, wirkten wie aus einer modernen Klinik. Das Ganze sah aus, als hätte man in einem Burgverlies einen Operationssaal hergerichtet. Und sie lag auf dem Operationstisch.
Jacqueline versuchte sich zu bewegen. Es ging nicht. Ihre Arme waren rechts und links über ihren Kopf gestreckt. Waren sie eingeschlafen?
Jacqueline blickte an ihrem rechten Arm entlang. Ihr Handgelenk steckte in einer Art Metallklammer fest. Sie wandte den Kopf. Links war es genauso. Sie versuchte ihre Beine anzuziehen und schaffte es nicht. Etwas hielt ihre Füße fest.
Was soll das?, wollte die fragen. Heraus kam nur ein Geräusch das sich wie „Mmgmpf“ anhörte. Da war etwas in ihrem Mund, ein dickes ledriges Ding. Sie konnte es nicht ausspucken.
Jacqueline holte Luft, um laut nach jemandem zu rufen. In dem Ding in ihrem Mund ertönte ein sanft ploppendes Geräusch und sie konnte problemlos durch den Mund einatmen. Sie konnte richtig tief Luft holen. Aber als sie rufen wollte, war das Ding zwischen ihren Lippen verschlossen und ließ nur ein leises Brummen zu.
Ich bin geknebelt, dachte Jacqueline. Sie spürte die Bänder, die rechts und links an ihren Backen entlang liefen, und den Lederball, oder was immer es war, in ihrem Mund festhielten. Ich bin geknebelt und auf einem komischen Tisch festgemacht.
Augenblicklich wurde sie hellwach. Sie versuchte sich aufzurichten. Weit kam sie nicht. Sie konnte einen Blick nach unten werfen. Sie sah ihren Bauch und die Beine. Ihre Fußgelenke steckten in den gleichen Metallklammern wie ihre Handgelenke.
Jemand hat mich ausgezogen und auf einem Tisch festgemacht!
Sie schaute hin und her. Sie lag auf einem Tisch mitten in einem Kellerverlies.
Das ist das Loch des Schratzls! Ich bin im Schratzlloch!
Eine eisige Hand fasste nach Jacquelines Herz. Sie begann zu zittern. Sie war nicht im Krankenhaus. Die Erinnerung kam zurück. Sie war durch das abendliche Runsach gelaufen und jemand hatte sie verfolgt. Sie war bis zum Dorfplatz gekommen. Beinahe hatte sie die alte Kapelle erreicht. Da hatten sie von hinten starke Arme umfasst und ein Stück Stoff, das eklig roch, war ihr aufs Gesicht gedrückt worden.
Betäubungsmittel! Wie im Film! Mich hat einer betäubt und entführt!
Die Erkenntnis kam mit ungeheurer Wucht über sie. Der Entführer! Der Mann, der die Runsacher Mädchen entführte! Sechs Stück in einem Jahr! Immer zwischen zehn und elf Jahren alt! Und nach einer Woche oder zehn Tagen bekamen die Eltern die abgesägte linke Hand ihrer Tochter einem Päckchen zugeschickt!
Jacqueline stieß ein Wimmern aus. Ihre Angst steigerte sich ins Unermessliche. Sie hatte Angst wie noch nie in ihrem Leben.
Jemand beugte sich über sie: „Aah, wir sind aufgewacht. Wie schön.“ Es war ein Mann. Er lächelte. Der Mann hatte einen ausladenden Schnurrbart und einen wuscheligen Kinnbart.
Der Schratzl! Es ist tatsächlich der Schratzl! Er hat mich entführt! Genau wie Oma es gesagt hat!
Jacqueline kam um vor Angst. Das Lächeln des Mannes gefiel ihr überhaupt nicht. Weil die Augen des Mannes dabei so kalt blieben.
Der Mann legte eine Hand auf Jacqueline Brustkorb. Er beugte sich über Jacqueline. Wieder lächelte er. „Ich möchte mich dir vorstellen, kleines Mädchen. Ich bin der Schratzl, der Schratzl aus dem Schratzlloch. Ich habe dich mitgenommen in meine unterirdischen Höhlen. Weiß du auch warum?“
„Mmng!“ sagte Jacqueline.
Das Lächeln des Mannes verbreiterte sich: „Ich habe dich in meine Höhle gebracht, um dich zu verwandeln, kleines Mädchen. Weißt du, was ich aus dir machen werde? Eine Elfe. Eine richtige Elfe. Ich bin nämlich Elfenmacher.“
Jacqueline versuchte verzweifelt zu sprechen, aber der Lederball in ihrem Mund erlaubte ihr nur ein gedämpftes Brummen. Sie brachte keinen gescheiten Laut heraus. Sie fühlte eisiges Entsetzen in sich aufsteigen. Sie war in der Gewalt des Schratzls und der böse Zwerg aus der Unterwelt würde ihr Schreckliches antun.
„Ich werde dich verwandeln“, sprach der Schratzl. „Ich werde ein Elfe aus dir machen.“ Er wandte sich dem Tisch mit den funkelnden Operationsinstrumenten zu und griff sich ein Skalpell. „Dazu muss ich an dir arbeiten, Mädchen. Das muss leider sein. Aber keine Angst, es dauert nicht ewig und nach der Transformation wirst du eine wirkliche, wahrhaftige Elfe sein.“ Er setzte das Messer an.
„Nein! Nein!“ wollte Jacqueline schreien. Heraus kam nichts als ein erbärmliches Murmeln. Sie zog und zerrte an den metallenen Klammern, die sie auf dem Tisch festhielten. Ihr Körper streckte sich in die Länge, als wolle er auf dem Tisch davon krabbeln.
Der Schratzl fing an zu schneiden.
Jacqueline brüllte. Sie schrie wie am Spieß. Heraus kam nichts als ein gedämpftes Winseln.
Mama! Mama! Hilf mir! Der Schratzl hat mich! Mama! Papa! Kommt doch! Holt mich hier weg! Oma! Oma, liebe Oma! Oh es tut mir leid, dass ich dir nicht glauben wollte! Nun weiß ich, dass es den Schratzl gibt! Ich glaube dir! Ich glaube dir! Bitte komm und hilf mir! Du weißt bestimmt, wo der Schratzl sein Schratzlloch hat. Komm und nimm mich weg von dem schrecklichen Zwerg! Bitte Oma!
Jacqueline bog den Rücken durch. Sie zerrte mit aller Kraft an den Metallfesseln. Den Schratzl focht das nicht an. Seelenruhig schnitt er weiter. Er schnitt und nähte, nähte und schnitt. Er tupfte mit Wattebäuschen, die brannten wie Feuer und dann schnitt er wieder.
„Ja mein Kleines, das ist ein wenig unangenehm für dich“, sprach er voller Verständnis. „Aber es muss nun einmal sein. Wenn du die Transformation zur Elfe durchmachen willst, musst du das ertragen. Es wird nicht ewig dauern. Nur ein paar Tage, Liebes.“
Ein paar Tage? Tage? TAGE?!?
Jacqueline schrie und heulte. Ströme aus Tränen rannen ihr über die Wangen. Vom Weinen verstopfte ihre Nase. Trotzdem bekam sie genug Luft zum Brüllen. Der schreckliche Knebel war so konstruiert, dass sie ganz tief Luft holen konnte. Aber wenn sie schreien wollte, ließ er nur ein leises Brummen zu.
Jacqueline wurde vor Angst und Schmerz wahnsinnig. Sie schrie und schrie. Immer wieder schrie sie nach ihrer Mama und nach ihrer Oma.
Mama! Schnell! Ich muss doch die Flöte holen! Ich muss doch mit Churchill flöten! Mama, du musst mich doch ausschimpfen! Ruf Papa! Papa soll mir den Hintern versohlen! Ich muss doch mit Churchill flöten gehen!
Churchill! Churchill! Du musst mich hören! Tiere haben so einen speziellen sechsten Sinn! Sie spüren, wenn ein Erdbeben kommt oder ein Tsunami. Sie spüren, wenn ihre Menschen in Gefahr sind und retten sie vor Feuer, Erdbeben und Mördern. Sogar vorm Schratzl.
Churchill! Schnell! Geh zu Mama! Mach Mama klar, dass sie mich suchen soll. Ich bin im Schratzlloch und der Schratzl tut mir Schreckliches an! Er schneidet mich! Ich habe Angst. Es tut so furchtbar weh! Bitte Churchil, ruf Oma! Schnell! Churchill! Ruf Oma! Oma weiß, wo der Schratzl haust. Oma wird mir helfen. Churchill! Hörst du mich? Churchill!
Churchill! Hör doch! Churchill! Hilf mir! Bittebitte Churchill!
Aber niemand hörte Jacqueline, und niemand kam ihr zu Hilfe.

08.02.2015 18:38 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
carolne1960 carolne1960 ist weiblich
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Dabei seit: 18.02.2013
Beiträge: 116

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Spannender Anfang. Weis nur nicht wo ich Posten soll. Hier oder bei Dani.verwirrt
Aber is ja egal. Hauptsache ich hab wieder was von Dir zu lesen.Drück

__________________
Was ist der Mensch - nur ein flüchtiger Gedanke - nicht zu greifen - nicht zu fassen. Stets schweigend mit sich im Gespräch vertieft durforsch er sich und findet sich nie.
Der Traum ist die wahre Wirklichkeit. großes Grinsen

10.02.2015 13:39 carolne1960 ist offline Email an carolne1960 senden Beiträge von carolne1960 suchen Nehmen Sie carolne1960 in Ihre Freundesliste auf
Hans_D_Bell
Gast


Gemein..... Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

die Geschichte ist mitLeim geschrieben und ich komme nicht mehr davon los.

Wo soll das hinführen?

Stimme aus dem Off: "Zum nächsten Teil natürlich, Dummkopf"

10.02.2015 21:08
Bianca Bianca ist weiblich
Doppel-As


Dabei seit: 10.03.2008
Beiträge: 130

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Na das fängt ja wie immer gut an großes Grinsen bin gespannt auf den nächten Teil...

aber schon ganz schön blutrünstig...

@Carolne: DAni? wer ist denn die Dani?

11.02.2015 09:33 Bianca ist offline Email an Bianca senden Homepage von Bianca Beiträge von Bianca suchen Nehmen Sie Bianca in Ihre Freundesliste auf
Stefan Steinmetz
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Dabei seit: 10.02.2006
Beiträge: 1732

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Hi Bianca: Sie meint www.dani-im-schrank.be
Dort schreibe ich als "Sumpfohreule". Von dort stammt auch mein Avatar. Vor langer Zeit habe ich mal in der Bondage-Szene Geschichten der anderen Art veröffentlicht. smile

11.02.2015 13:23 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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