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Stefan Steinmetz
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Dabei seit: 10.02.2006
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Das Lehm(24) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Es waren nur noch wenige Tage bis Neumond. Themas wurde mit jedem Tag, der verging, nervöser. Trischa war nach Lehmingen am Mittensee gegangen. Sie würde erst kurz vor Neumond zurückkehren.
Er machte sich daran, seine Kopien zu verteilen. Er besuchte Freunde und Bekannte und sah zu, dass er in einem unbeobachteten Moment ein Heft an einem Platz deponieren konnte, wo man es irgendwann finden musste.
Themas hoffte inständig, dass die Beschenkten ihre Kopie erst finden würden, wenn er das Lehm verlassen hatte. Wenn einer sein Heft früher entdeckte, bestand die Gefahr, dass er den Fund den Priestern meldete und der Verdacht auf Themas fiel. Themas lebte in beständiger Angst vor Entdeckung. Doch er hatte die Kopien machen müssen. Er wollte möglichst vielen Menschen die Chance schenken, das Lehm hinter sich zu lassen.
Das Lehm war bösartig und grausam. Das Lehm verlangte Menschenopfer. Etwas, das das Leben von Kindern forderte, konnte nicht gut sein. Es war recht, dem Lehm zu entfliehen.
Themas hätte sich freuen müssen. Stattdessen wurde ihm schwer ums Herz. Er würde in Kürze seine Heimat verlieren und zwar auf immer. Er war erstaunt, wie hart ihn das traf. Am schlimmsten war für ihn, dass er Vater und Mutter zurücklassen musste. Wann immer er daran dachte, zog es ihm das Herz zusammen. Er liebte seine Eltern von ganzem Herzen. Hätte er nicht ganz sicher gewusst, dass er im Draußen zu seiner geliebten Tante und seinem geliebten Onkel kommen würde, hätte er die Flucht womöglich nicht gewagt.
Als er nach dem Mittagessen das Dorf verlassen wollte, um draußen auf seiner Mundharmonika zu spielen, kam plötzlich Remie Karmeck aus ihrer Haustür gelaufen. „Kommt alle her!“, rief sie. „Das müsst ihr euch ansehen! Ich kann es nicht glauben! Das ist ungeheuerlich!“
Themas erschrak. Es überlief ihn siedendheiß. Remie war die Mutter von Mirkus und Hurckie. Sie und ihr Mann galten als sehr gläubig. Sie waren eine Stütze der Gemeinde, wie sich der Dorfpriester ausdrückte.
Sie hat es entdeckt!, dachte Themas. Sie hat das Heft gefunden, dass ich auf ihrem Speicher deponiert habe! Himmel! Was soll ich machen?
Er fühlte Panik in sich aufsteigen. Von überall her liefen die Nachbarn zusammen.
„Kommt alle her!“, rief Remie. Sie fuchtelte mit den Armen.“Kommt und seht! Ihr werdet es nicht glauben!“
Verflixt noch mal!, dachte Themas. Das darf doch nicht wahr sein! Jetzt falle ich auf!
Von rechts kam eine kleine Gestalt in wadenlanger Tunika angelaufen. Themas hörte das leise Klirren von eisernen Knöchelketten. Es war Grutie Umpfbeetl, die Lehma.
Themas lief ein kalter Schauder über den Rücken. Die Lehma!
Was soll ich nur tun?, fragte er sich, während eisiges Entsetzen in ihm hoch kroch.
Sie würden ihn festnehmen und vors Lehmgericht stellen. Er würde dem Lehm anheim fallen! Sie würden ihn dem Lehm übergeben. Das Lehm würde ihn verschlingen. Es würde nicht schnell gehen. Themas wusste ganz genau, dass das Lehm ihn schrecklich lange leiden lassen würde. Er dachte an den armen Zweitling von Olrek Holfer. Das Lehm hatte ihn grausam zu Tode gequält. Er sah die weit aufgerissenen Augen des Jungen vor sich, sah wie die Lehmranken in seinen Mund eindrangen und den Jungen erstickten, sah vor seinem innerem Auge, wie sie sich immer wieder zurückzogen und das arme Opfer einatmen ließen, nur um sofort wieder seine Kehle zu verstopfen. Es hatte ungeheuer lange gedauert, bis der arme Junge endlich erstickt war.
Themas begann zu zittern. Er hatte Todesangst. Er blickte sich um. Sollte er versuchen, fortzulaufen? Vielleicht konnte er sich draußen im Knorrengebüsch verstecken und in der Nacht versuchen zu fliehen.
Doch das war sinnlos. Grutie Umpfbeetl würde das Lehm warnen. Das Lehm würde ihn sich holen.
Mittlerweile waren rund zwei Dutzend Leute vorm Haus der Karmecks versammelt.
„Hier!“, rief Remie Karmeck und hielt ihnen etwas hin. „Schaut, was ich gefunden habe! Darf es so etwas geben?!“
Themas zitterte so sehr, dass sein Blick verschwamm. Er sah etwas Gelbliches in Remies Hand. Das Heft! Sie hatte es auf dem Dachboden entdeckt! Es war aus! Er war des Todes!
„Seht nur!“, rief Remie. „Es war unter den anderen Kartoffeln, die ich im Garten geerntet habe.“
„Ach du liebes Lehm!“, rief Trinka Stuffke, die Frau des stellvertretenden Bürgermeisters. „Ist denn das zu glauben?!“
„Beim Lehm!“, rief Moehnie Borkruther. „Unfassbar!“
Grutie Umpfbeetl quetschte sich zwischen den Menschen hindurch: „Lasst mich vorbei! Macht Platz!“ Sie drängelte sich vor, bis sie Remie Karmeck gegenüber stand. „Was ist denn?“
Remie hielt ihr das Heft hin: „Sieh nur, liebe Lehma, was ich gefunden habe. Ist das nicht außergewöhnlich?“
Themas war näher getreten. Er konnte nicht davon laufen. Ihm war schlecht. Seine Beine fühlten sich an, als seien sie mit wabbeliger Gallerte gefüllt. Er sah das Ding in Remies Hand. Es war klein und rundlich. Das war kein Heft aus Papier.
Themas sah, wie Grutie Umpfbeetl es in die Hand nahm und anschaute. Sie fing an zu lachen. „Das stammt aus deinem Garten, Remie Karmeck?“
„Aber ja, ehrwürdige Lehma“, beeilte sich Remie zu sagen. „Ist das nicht unglaublich? Ich denke, das Lehm hat das hervorgebracht. Ein Zeichen vielleicht?“
Wieder lachte Grutie laut auf. „Das sollten wir allen Leuten im Dorf zeigen, liebe Remie. In Karmecks Garten wachsen Schildkröten!“ Die Leute rundum stimmten in ihr Lachen ein.
Themas glotzte dümmlich auf das Ding in Gruties Hand. Es war kein Heft, es war eine Kartoffel. Sie sah aus wie eine fette, kleine Schildkröte mit vier Stummelbeinchen und einem dicken Kopf. Der Kopf hatte sogar Augen in Form von Keimspitzen.
Die Leute drängten sich um die kleine Lehma. Jeder wollte die außergewöhnliche Kartoffel anschauen.
Themas wurde schwindlig vor Erleichterung. Kein Heft! Nur eine Kartoffel, die komisch gewachsen war. Er war gerettet. Ihm würde nichts passieren.
Erst jetzt fiel ihm ein, dass er sowieso nicht in allzu großer Gefahr geschwebt hatte. Keiner hatte bemerkt, wie er sein Heft auf den Dachboden der Karmecks geschmuggelt hatte. Er war mit Mirkus und Hurckie oben gewesen, um das kleine Holzschiffchen von Mirkus zu holen. Sie wollten es in einem Bach schwimmen lassen. Weder Mirkus noch Hurckie hatten mitbekommen, wie Themas die Kopie unter den Sachen von Mirkus versteckt hatte.
Themas atmete auf. Er war außer Gefahr. Ihm wurde ganz leicht zumute. Keine Gefahr! Gerettet! Noch einmal davongekommen! Dem Himmel sei Dank!
Er spürte, dass ihn jemand anschaute. Als er den Kopf hob sah er in die lehmfarbenen Augen von Grutie Umpfbeetl. Die Lehma blickte ihn an. Schon wieder!
Was will sie von mir?, fragte er sich. Immerzu starrt sie mich an. Immer nur mich! Als ob sie etwas ahnt!

*

Später half er seiner Mutter beim Schnippeln von grünen Bohnen. Die wurden in tönernen Gefäßen eingesäuert. Themas liebte saure Bohnen über alles. Ob es im Draußen welche geben würde? Würde er wenigstens saure Bohnen haben? Er fühlte, wie sich ihm der Hals zuschnürte.
Seine Mutter blickte von ihrer Arbeit auf. „Themas? Hast du etwas?“
Er schüttelte den Kopf: „Nein, Mama. Es ist nichts.“
Sie legte ihr Messer hin, wischte sich die Hände an der Schürze ab und kam um den Küchentisch herum. „Themas? Was ist mit dir? Seit Tagen benimmst du dich komisch. Du hast doch etwas, Junge!“
„Nein, Mama“, sagte er. Voller Entsetzen spürte er, wie sich Tränen aus seinen Augen drängen wollten. Nein! Bloß nicht! Nicht vor Mama weinen!
Er stand auf. Seine Mutter nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. „Du weißt, dass du zu mir kommen kannst. Mit allem, egal was es ist, Themas!“
„Ich weiß, Mutter“, würgte er hervor und erwiderte die Umarmung. Es schnitt ihm ins Herz. Er bekam fast keine Luft mehr. Er würde seine Mutter verlieren. Vielleicht auf immer. Die Chancen, dass sie und sein Vater fliehen würden, wenn sie das Heft entdeckten, standen nicht besonders gut. Seine Eltern waren konservativ. Themas glaubte nicht daran, dass sie das Lehm verlassen würden. Er würde in der Fremde fast ganz allein sein.
Er musste an seinen Vater denken. Der hatte ihm alles gezeigt, was er konnte und Themas alles gelehrt, was ein Junge im Lehm wissen musste; sein großer, starker Vater, der immer für ihn da war.
Nur wenn Themas „das-unter-der-Treppe“ erwähnte, hatte sein Vater abgewehrt. „Darüber dürfen wir nicht sprechen, Themas! So will es das Gesetz des Lehms.“ Er erinnerte sich an den Schmerz in den Augen seines Vaters, als der das gesagt hatte.
Seine Mutter klopfte Themas auf den Rücken. „Warum gehst du nicht ein wenig raus, Junge? Geh an die frische Luft. Die wird dir gut tun. Nimm deine Mundharmonika mit und spiel den Kindern etwas vor.“ Sie hielt ihn an den Schultern und schaute ihn an. Sie musste zu ihm auf schauen. Themas war gewachsen und überragte seine Mutter eine Handbreit. „Deine Trischa kommt ja bald wieder, mein Lieber. Gräme dich nicht.“

Wenn du wüsstest!, dachte Themas, als er durchs Dorf ging. Er hatte vorgehabt, draußen vorm Dorf zu musizieren. Stattdessen drehte er eine Tour durch Lehmborn und schaute sich alles an. Ihm wurde klar, dass er das alles nie wiedersehen würde, wenn er floh.
Er spazierte an Banbirks Mühle vorbei und am Haus des Lehmpriesters mit den hellblau blühenden Rankpflanzen. Er besuchte die Bienenstöcke der Familie Bestar und ging an der Bronzegießerei vorbei, wo Onkel Jidler und Tante Brilla bis vor einem Jahr gelebt hatten.
Ohne dass er sie eingeladen hatte, schlossen sich ihm mehrere Kinder an. Sie liefen mit ihm durchs Dorf und fragten, ob er auf seiner Mundharmonika spielen wollte.
„Ja, bald“, versprach er. „Ich muss nur einmal kreuz und quer durch Lehmborn wandern.“
„Warum denn?“, fragte die fünfjährige Arlie Badin. Sie ging an der Hand ihrer achtjährigen Schwester Muline. „Weißt du nicht mehr, wie alles aussehen tut, Themas?“
Er lächelte das kleinen Mädchen freundlich an: „Ich will mir mein Dorf ansehen, liebe Arlie, um Eindrücke zu sammeln; Ansichten und Gefühle und Einzelheiten wie die schönen himmelblauen Rankblüten am Haus von Nelder Borkruther, unserem Lehmpriester, oder die weiß gestrichenen Fensterläden der Stuffkes und der Apfelbaum im Vorgarten der Familie Holfer. Aus diesen Eindrücken kann ich Melodien gewinnen.“
Arlie schaute ihn mit großen Augen an. „In echt?“
„Aber ja“, bestätigte Themas. „Den Trick habe ich von Philka Kahleg aus Lehmtal. Die kann viel besser Mundharmonika spielen als ich. Sie hat mir verraten, dass sie oft loszieht und sich ihr Dorf anschaut und das Lehm draußen vor der Ortschaft. Sie hat Lieder über die weite Heide komponiert und über den im Wind fliegenden Sand und die klaren Bäche und das blaue Wasser des Mittensees. Das will ich auch lernen.“
Arlies Augen wurden noch größer: „Man kann Häuser und Heidekraut zu Musik machen?!“ Das kleine Mädchen war baff.
„So könnte man sagen“, meinte Themas. Sie waren in der Dorfmitte angekommen auf dem großen Platz vorm Bürgermeisterhaus. Er setze sich in den Sand und holte die Mundharmonika hervor. Die Kinder setzten sich in einem Halbkreis um ihn herum. Ein paar legten sich auf den Bauch. Themas begann zu spielen. Er fing mit ein paar einfachen Kinderliedern an. Bei manchen sangen seine kleinen Zuhörer mit.
Themas nahm eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Jemand kam aus dem Bürgermeisterhaus. Es war Grutie Umpfbeetl. Die Lehma setzte sich dazu. Themas sah, wie die Kinder, die ihr am nächsten saßen, ein Stück vor Grutie zurückwichen. Sie taten es so, dass man es fast nicht merkte, aber sie nahmen Abstand von der kleinen Lehma.
Überm Spielen sah Themas das Mädchen mit dem lehmfarbenen Haar und den lehmfarbenen Augen an. Hatte Grutie etwas gemerkt? Sie tat, als wäre alles bestens, doch Themas glaubte, tief in ihren Augen eine versteckte Traurigkeit zu sehen. Was mochte das für ein Gefühl sein, wenn einen alle Menschen verehrten und gleichzeitig fürchteten? Bestimmt war das nicht leicht zu ertragen. Wie sich Grutie wohl fühlte?
Als er sein Kinderliedchen beendet hatte, hockte sich Arlie neben ihn. Sie zupfte ihn am Ärmel: „Tust du jetzt Musik über das Dorf kompostieren?“
Themas unterdrückte ein Lachen. „Ja, Arlie. Jetzt werde ich etwas komponieren. Das sagt man so. Das ist ein Angeberwort und es bedeutet: sich was ausdenken.“ Er schaute zu Grutie Umpfbeetl hinüber, die still und in sich gekehrt im Sand saß. Sie saß auf dem Po und hatte die Beine angewinkelt, so dass ihre bloßen Füße auf den Sohlen standen. Sie lag nicht ausgestreckt auf dem Boden. Sie streckte nicht mal die Beine aus. Sie hatte die Arme um ihre Knie geschlungen.
Themas wurde klar, warum. Das Mädchen trug Eisenketten an den Hand- und Fußgelenken. Hätte sie sich auf den Bauch gelegt, die Arme vor sich und die Beine hinter sich ausgestreckt, hätten die Ketten den Boden berührt und das Lehm an seiner Oberfläche verbrannt. Themas wurde sonderbar zumute, als er Gruties Blick sah, die Traurigkeit und Sehnsucht in diesen fremdartig aussehenden Augen. Grutie war eine Ausgeschlossene. Sie war allein unter Erwachsenen. Sie konnte nicht mehr mit Kindern ihres Alters spielen. Sie musste ständig im Lehm herum reisen und repräsentieren. Sie konnte nicht mal am Boden fläzen. Sie musste aufrecht sitzen, damit ihre Knöchelketten den Boden nicht berührten.
Themas schaute die bloßen Füße des Mädchens an. Seit Grutie zur Lehma erwählt worden war, ging sie barfuß, damit sie in direktem Kontakt mit dem Lehm war. Das war bestimmt nicht immer angenehm. Das Heidekraut war teilweise knorrig und hatte harte Holzteile, die böse zwickten, wenn man barfuß drauf trat. Und die Nebenpfade waren teilweise mit spitzigen Steinen gespickt. Ohne Schuhe waren das recht unangenehme Wege.
Grutie bemerkte seinen Blick. Sie schaute ihn an. In ihren Augen stand nichts von der Eingebildetheit, die er so hasste. Er erkannte eine Sehnsucht in diesen lehmfarbenen Augen, die sein Herz anrührte. Grutie war ganz allein, begriff er. Sie hatte niemanden mehr, an den sie sich mal ankuscheln konnte. Sie konnte keine Freundin umarmen und mit ihr im Kreis herum tanzen. Die Priester schenkten ihr keinerlei Zärtlichkeit und sie lebte von ihren Eltern getrennt. Grutie war allein – ganz allein.
„Themas Irrlucht?“, fragte die kleine Lehma. Ihre Stimme war nicht hoch und beinahe schrill, wie sonst, wenn sie irgendwelche Verkündigungen vom Stapel lies. Sie war hell wie ein Glöckchen und leise. „Spielst du bitte?“ Hör nicht auf, weil ich mich dazu gesetzt habe!, flehten ihre Augen. Bitte nicht! Oh bitte spiele, Themas! Bitte-bitte!
Themas war perplex. So kannte er Grutie Umpfbeetl nicht. Zum ersten Mal nahm er den Mensch in der kleinen Lehma wahr. Grutie war ein zutiefst einsames Mädchen, das sich verzweifelt nach Gesellschaft und Zuneigung sehnte. Sie war ganz allein und alle ehrten und fürchteten sie. Was musste das für ein Gefühl sein?!
Er setzte die Mundharmonika an die Lippen und legte los. Er begann mit einem Ziehton. Er wusste, dass das kleine Instrument dann traurig klingen würde. Philka hatte es ihm erklärt. Wenn man ein Lied mit Ziehen anfing, spielte man auf der unteren Stimmplatte die Hauptmelodie und unten befanden sich etliche Mollakkorde.
Themas schaute Grutie Umpfbeetl an, ihre lehmfarbenen Haare, ihr schmales weißes Gesicht, in dem die lehmfarbigen Augen brannten wie Kerzen, ihre Tunika, die aus Kamelwolle gewebt war und ihre kleinen Füße, die vom Sand schmutzig waren. Vor ihm saß ein kleines Mädchen, das allein war und sich bittersehnlichst wünschte, dazugehören zu dürfen.
Er spielte eine traurige Melodie, die er nie zuvor gespielt hatte. Sie kam direkt aus seinem Herzen. Die Kinder lauschten gebannt. Grutie schaute ihm die ganze Zeit in die Augen. Themas sah in die ihren. Er erkannte ungeweinte Tränen darin. Er ließ die Mundharmonika schluchzen und flehen. Er legte seine ganze Seele in das Spiel. Mehrere Minuten lang spielte er ein Lied, dass von Grutie Umpfbeetl erzählte, einem kleinen, einsamen Mädchen, dem das Herz wehtat, weil es von allen und allem ausgeschlossen war, einem Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünschte, als einfach nur dazuzugehören und das doch immer nur abgewiesen wurde, einem Mädchen, vor dem die Menschen zurückschreckten, weil es Angst und Tod verkündete, einem Mädchen, das entsetzlich allein war auf der Welt
Als er das Instrument von den Lippen nahm, herrschte Stille auf dem Platz. Die Kinder schauten ihn stumm an. Die kleine Arlie Badin fand als Erste ihre Stimme wieder. „War das schön!“, rief sie. „Das war ja so schön, Themas!“ Die Kleine schaute ihn aus großen Augen an: „Hast du den Dorfplatz verkomponiert?“
„Nein“, sagte ihre Schwester. „Das war unser Dorf. Alles! Themas hat unser Dorf zu Musik gemacht.“
Themas korrigierte Muline nicht. Er sah zu Grutie hinüber. Sie blickte ihn auf eine Art an, dass ihm ganz anders wurde. Es war ein bisschen so, wie wenn er Trischa in die honigfarbenen Augen schaute. In seinem Innern regte sich etwas. Er konnte erkennen, dass Grutie wusste, was sein Lied bedeutete, dass er ein Lied für sie allein gespielt hatte.
„Danke, Themas Irrlucht“, sprach sie mit dieser ungewohnt leisen Stimme. „Vielen Dank für dein wundervolles Spiel. Kannst du noch ein bisschen spielen?“ Ihre Augen waren ein einziges Flehen. „Bitte, Themas!“
Er nickte und setzte das Instrument an die Lippen. Vor seinem inneren Auge erstand ein Bild der weiten Heide draußen vorm Dorf. Die Sonne ließ den Sand aufblitzen und der Wind zauste an den verdrehten Knorrenbüschen. Vögel flogen über den blauen Himmel. Themas fing an zu spielen. Die Kinder lauschten gebannt. Grutie saß still da. Ihre Augen ließen seine nicht eine Sekunde los.

24.08.2017 20:35 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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