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Stefan Steinmetz
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Dabei seit: 10.02.2006
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Der Elfenmacher(46) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Es klingelte an der Tür. Siegfried Kowak schrak aus seinen düsteren Gedanken auf.
Nanu? Schon die ersten Besucher? Es sollte doch erst um die Mittagszeit losgehen.
Er lief durchs Haus und öffnete die Tür. Zwei Polizeibeamte standen draußen. „Herr Kowak? Hätten Sie vielleicht etwas Zeit?“
Das hörte sich nicht gut an. Gar nicht gut.

Sie standen draußen vor Runsach an der Kreuzung zweier Feldwege. Siegfried Kowak starrte fassungslos auf den Boden. Er fühlte, wie eine eisige Hand nach seinem Herzen griff.
Nein!, wollte er sagen, doch er brachte keinen Ton heraus. Nein!
Er spürte Tränen aufsteigen. Er schaute den Feldweg entlang. Überall das gleiche Bild.
Nein! Das kann doch nicht wahr sein! Nein!
Vor ihm im Gras neben dem asphaltierten Feldweg ragte ein schwarzer Stumpf aus dem Boden. Es roch nach Rauch und Feuer. Und nach etwas anderem – verbranntem Diesel vielleicht.
„Das kann doch nicht wahr sein!“ flüsterte Siegfried. „Mein Gott! Wer tut so etwas?!“ Vor ihm ragte der Überrest einer der Kreuzwegstationen aus dem Gras, ein kleiner verkohlter Stumpf. Der Rest war komplett verbrannt. Alle Bildnisse, die er in mühevoller Arbeit geschaffen hatte, waren restlos niedergebrannt. Die Polizisten hatten es ihm gesagt. Wer immer den Kreuzweg geschändet hatte, er hatte ganze Arbeit geleistet.
„Es wurde ein Brandbeschleuniger verwendet“, erklärte einer der Beamten. Er war sichtlich betroffen ob des irrsinnigen Zerstörungswerks. „Eine Art Paste aus Schweröl. Der Täter ist in der Nacht von Bildnis zu Bildnis gewandert und hat das Holz von oben bis unten damit getränkt. Dann wartete er die frühen Morgenstunden ab, in denen alle Welt tief und fest schläft und zündete die Kreuzwegstationen an, eine nach der anderen. Vielleicht hat er ein Fahrrad benutzt oder ein Motorrad. Könnte auch ein Auto gewesen sein. Es war eine klare Nacht. Der Widerschein des Feuers war im Dorf nicht zu sehen.“
Der Beamte schüttelte den Kopf: „Ekelhaft! Man fragt sich, mit was für Menschen man zusammen auf der Welt lebt.“
„Über zwei Jahre“, sagte Siegfried mit schwerer Stimme. Es drückte ihm die Luft ab. „Ich habe mehr als zwei Jahre an diesem Kreuzweg gearbeitet. Jeden Tag habe ich geschnitzt, vom ersten bis zum letzten Tag eines Jahres. Mehr als zwei Jahre. Es war ein Geschenk an die Gemeinde.“ Er machte eine hilflose Geste. Blind vor Tränen schaute er die Beamten an: „Warum? Warum tut jemand so etwas?“
Die Polizisten fühlten sich sichtlich unwohl in ihrer Haut.
„Könnte es sein ...“, begann einer.
„Nein!“ Siegfried schüttelte energisch den Kopf. „Leonhard war das nicht. Nein. Das nicht. Der Leo ist nicht ganz richtig im Kopf und er hat mehreren Mitgliedern der Familie Kowak einige wirklich gemeine Streiche gespielt. Aber das da ...“ Er zeigte auf den verkokelten Stumpf im Gras, „war er nicht. Auf keinen Fall. Das war ein anderer.“
Die toten Kinder. All die toten Kinder der Kowaks. Und nun das.
Siegfried schlug die Hände vors Gesicht. Er weinte. Er konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
Ein Fluch, dachte er während des Rückwegs, als er auf der Rückbank des Polizeiautos saß. Ein Fluch liegt auf der Familie Kowak. Genau wie Lieselotte es gesagt hat. Man könnte wirklich glauben, dass sie Recht hat.
Es fing damit an, dass die CERENA zu machte. Dann die Entführungen und daneben noch die bösen Streiche. Nicht das, was der Leo angestiftet hat. Richtig gemeine Sachen sind passiert. Der gestohlene Oldtimer. Das vollkommen zerstörte Auto. Mein Kreuzweg – abgefackelt.
Ein Name fiel ihm ein. Der Name eines Mannes, der durchaus Gründe für eine Rache an den Kowaks haben konnte. Nicht nur der Zwergenpeter hatte Grund, die Kowaks zu hassen. Es gab noch einen Anderen: Stephan Harrer, der Lottomann.
Siegfried spielte mit dem Gedanken, den Polizeibeamten von seinem Verdacht zu erzählen. Aber er war erfahren genug um zu wissen, dass das nichts einbringen würde. Weder beim Zwergenpeter noch beim Lottomann würde die Polizei eine Hausdurchsuchung machen, nur weil Siegfried Kowak einen vagen Verdacht hatte.
Zumal Siegfried dann den Beamten erklären musste, warum Stephan Harrer einen Rochus auf die Familie Kowak hatte. Das würde kein gutes Licht auf die Familie werfen. Im Gegenteil, einige Dinge, die - auch in Siegfrieds Auftrag – vorgekommen waren, waren strafrechtlich relevant. Allein die Sache mit der völlig zerkratzten Karosserie von Harrers Wagen.
Das Dumme war, dass Siegfried nicht mit Sicherheit wusste, wer wirklich hinter all den Aktionen steckte. War es Harrer? Oder war es Lange? Waren sie möglicherweise beide tätig? Der eine als Einmannschlachtschiff, das Zerstörung über die Familie Kowak brachte, der andere an der Spitze einer durchgeknallten Endzeitsekte, der die Kinder der Kowaks raubte und sie einer uralten Gottheit opferte?
Der Tag hat so schön angefangen, dachte Siegfried. So schön.
Er stieg vor seinen Haus aus und bedankte sich bei den Polizisten. Dann ging er auf die Wiese. Er fing an, alles zu kontrollieren: Den Pool für die Kinder, das Zeltgestänge und die Abspannungen, die Grills, die Stühle und Bänke. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn jemand daran herum sabotiert hätte. Doch er fand nichts. Schließlich setzte er sich auf einen Stuhl neben dem Swimmingpool. Er nahm eine Gummiente vom Tisch und ließ sie auf dem Wasser schwimmen. Das hatte er als Kind auch getan. Eine Tante hatte ihm eine solche Ente geschenkt, als er sechs Jahre alt war und er hatte sie in der Ache schwimmen lassen, damals vor vielen Jahren, als er noch ein unbeschwertes Kind gewesen war. Ein Kind, dass nicht in unrechte Dinge verwickelt war. Ein Kind, dass seinen Lebensweg geradeaus ging und nicht den krummen Weg wählte, den Weg der krummen Geschäfte, der krummen Dinger, der gebeugten Gesetze.
Siegfried Kowak fühlte mit einem Mal die schwere Last, der Dinge die er in seinem Leben getan hatte, auf sich liegen. Ein Fluch. Sollte das stimmen? Lastete ein Fluch auf der Familie Kowak? Hatte Lieselotte Recht? Sie hatte gesagt, der Schratzl sei gekommen, weil das Schicksal es sich nicht länger gefallen lasse, wenn man es herausfordere. Sie hatte gemeint, das einige krumme Dinger zu viel in Runsach und Umgebung gedreht worden waren. Gedreht von Angehörigen der Familie Kowak.
Diese vielen krummen Dinger hatten vor Jahren angefangen, einen Riss durch die Familie zu treiben; einen Riss, der inzwischen zu einer Kluft geworden war.

*

Notizbuch II/Numero XVIII:
Alles ist vorbereitet. Auf ein Neues! Diesmal mit anderem Material. Nicht wild und aggressiv soll die Klientin sein, die ich zur Elfe transformieren werde, sondern sanftmütig wie ein Reh, auf dass sie in eine wilde Elfe verwandelt werde.
Das Problem ist das alte: Convertius Magnus drückt sich unklar aus. Es ist nicht allein die lateinische Sprache, die er benutzt. Er schreibt unklar und vage. Man nehme das Alter! Wie er um den heißen Brei herum redet!
„Man nehme eine junge Maid, zehn bis elf Lenze jung. Können auch drei Iden abwärts bis aufwärts genommen werden.“ Ich bin immer davon ausgegangen, dass dies bedeutet, ich kann ein Mädchen fangen, dass noch drei Monatsmitten (Iden) vor sich hat, bevor es zehn wird oder eine nehmen, die das elfte Jahr um drei Monate überschritten hat. Aber kann ich dessen gewiss sein?
Oder muss ich davon ausgehen, dass eine Klientin wahrhaftig erst am Tage ihres zehnten Geburtstages würdig ist und am Tage ihres zwölften Geburtstags ihre Besonderheit erlischt? Als Convertius sein Werk schrieb, da wusste man bei einfachen Menschen doch oft genug gar nicht genau, wie alt ein Mädchen war. Auf dem Land gab es keine Geburtsregister, höchstens dass ein Landpfarrer die Geburten in in sein Kirchenbuch eintrug. Es ist zum Verzweifeln.
Das allergrößte Problem bei der Transformation sind die Membranen, jene Organe die ich operativ erst erschaffen muss, damit die fertige Elfe durch sie im freien Aehter schweben kann. Die Organe müssen, einem pflanzlichen Keimling nicht unähnlich, vorgefertigt werden. Dann wachsen sie von selber zur vollen Funktionsfähigkeit heran.
Schwer! So schwer!
Mehr als ein Jahr harte Arbeit und keine Ergebnisse.
Schwer!
Ich will endlich meine wilde Elfe! Wird sie davon ziehen? Oder bleibt sie in der Nähe im Walde? Dort könnte ich sie Mutter zeigen. Hah! Was für ein Spaß wäre das! Von wegen „sanft wie eine Elfe“! Pah! Ich werde Mutter die Wahrheit ins Gesicht schleudern. Sie wird die Wahrheit erkennen müssen. Sie war im Irrtum. Ein Leben lang.
Ich weiß darum, Mutter. Oh ja! Ich weiß es. Hast du gedacht, ich hätte keine Ohren zum Hören und keinen Kopf zum Verstehen? Du hast keinen Jungen gewollt. Nein. Du wolltest immer nur ein Mädchen. Ich habe zugehört, Mutter. Als du es Tante Marga erzähltest, als du es der Nachbarin unter die Nase gerieben hast, als du mit anderen Verwandten darüber sprachst. So oft hast du es aufgesagt, mir damit das Herz zerrissen.
Deinem Tagebuch hast du´s anvertraut. Ich habe es gelesen, als du im Krankenhaus gelegen bist. Du hast nie einen Buben haben wollen. Ein Mädchen sollte es sein. Ein sanftes, elfenhaftes Mädchen. Ich habe deine Worte gelesen!
Ein ruhiges, liebes Mädchen, sanft wie eine Elfe wolltest du.
Deswegen hast du mich gehasst. Nach meiner Geburt konntest du keine Kinder mehr bekommen und dein „Mädchen, sanft wie eine Elfe“ blieb dir versagt. So hast du mir die Kindheit mit Lieblosigkeit und Ablehnung kalt und hart gemacht.
Pah! Sanft und elfenhaft. Das gibt es nicht! Elfen sind nicht sanft. Elfen sind wild!
Ich werde es dir beweisen, indem ich eine Elfe erschaffe, bevor du stirbst.
Du warst stets im Irrtum. Zwar kann ein Mädchen elfenhaft zart gebaut sein, doch ist eine wahrhaftige Elfe nicht sanft, sondern wild.
Ich werde es dir zeigen, Mutter. Dann musst du einsehen, dass du im Irrtum warst.


*

Stephan Harrer beendete seine Aufzeichnungen. Zeit, in den Keller zu gehen und das böse Paket vorzubereiten. Wenn alles gut lief, würde er es noch heute Nacht abliefern. Er wollte nicht erst tagelang warten. Diesmal sollte es sofort ausgeliefert werden. Keine Post. Handarbeit.
Er würde es persönlich bei der Empfängerin vor die Haustüre stellen.
Stephan freute sich nicht darauf. Aber er war sich absolut sicher, dass es getan werden musste. Es gehörte dazu. Also würde er es machen. Am frühen Abend würde er aufbrechen, sobald es dunkel genug war.

*

Die Geburtstagsfeier von Chayenne war ein voller Erfolg. Alle Kowaks waren gekommen. Bis auf die Eltern von Tinette Sarafina. Die hatten sich entschuldigt. Was ja verständlich war.
Die ganze Familie war zusammen und alle feierten. Alle waren empört über die Gemeinheit, die man Siegfried angetan hatte – den schönen Kreuzweg vollkommen niederzubrennen. Das waren unchristliche Leute, da war man sich sicher.
Trauer überschattete das Fest. Die vermissten Kinder! Aber die Kowaks hielten zusammen. Heute war die Kluft, die sich in der Vergangenheit aufgetan hatte, geschlossen. Alle waren beieinander.
Siegfried Kowak freute sich. Er schaute zu, wie Chayenne mit Kindern aus der Verwandtschaft im Swimmingpool schwamm und tauchte. Taucherbrille, Schnorchel und Schwimmflossen waren ein willkommenes Geschenk für seine Enkelin. Ebenso das fernsteuerbare U-Boot, das richtig tauchen konnte.
Mit der Artex 4000 hatten Siegfried und seine Frau den Vogel abgeschossen. Als Chayenne die Nähmaschine bekam, war sie schlicht närrisch geworden vor Freude. Sie war ihren Großeltern um den Hals gefallen, hatte sie mit Küssen überschüttet und sich wortreich bedankt.
Das Größte war natürlich das nagelneue Fahrrad. Chayenne hatte bereits eine ausgiebige Probefahrt absolviert und alles „superklasse“ gefunden. Sie plante, am Abend in der Dunkelheit das phänomenal helle Diodenlicht des Rades auszuprobieren.
Es könnte so schön sein, dachte Siegfried. Meine Lina ist gesund aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Neue Arbeit für unsere Leute ist in Sicht. Wenn nur nicht der Schatten der Trauer auf uns Kowaks läge. Wenn doch die Polizei endlich den schrecklichen Mörder fassen würde!
Nicht zum ersten Mal dachte er an die Schuld, die er und andere aus der Familie auf sich geladen hatten. Skrupellose Geschäfte am Rande und jenseits der Legalität. Krumme Wege waren sie gegangen. Sollte Lieselotte Recht haben? Waren die ermordeten Kinder die Strafe für vergangene Schandtaten?
Lieber Gott, betete Siegfried, ich will aufhören damit, wenn du nur machst, dass unsere Kinder nicht mehr hingemordet werden. Ich bitte dich von ganzem Herzen. Verschone uns, oh Herr. Ich will dafür Sorge tragen, dass keiner mehr krumme Wege geht, dass alle geradeaus durchs Leben gehen. Das verspreche ich dir.
Er sah Chayenne vom Rand des Pools ins Wasser springen. Wie klein und zart seine Enkelin war. Es durfte doch nicht sein, dass ein solch kleines Kind, ein Kind von solcher Zartheit und Unschuld, büßen sollte für die Taten der Erwachsenen.
Bitte Herrgott, flehte Siegfried in Gedanken. Bitte!

*

Stephan Harrer stand vor dem Haus. Er war von hinten durch die Gärten gekommen, damit ihn niemand sah. Trotz seiner Gehbehinderung war er erstaunlich gut im Übersteigen von Zäunen und Mauern. Er konnte wie ein Schatten in der Nacht gleiten. Bloß der Scheiß-Schnurrbart ging ihm auf den Sack. Ohne den, da war er sich sicher, hätte er sich noch eleganter durch die Dunkelheit bewegt. Das Paket in Händen stand er vor der Treppe, die zur Haustür führte.
Stephan zögerte. Sollte er es wirklich tun? Er wollte nicht. Er hatte keine Lust. Es brachte keinerlei Befriedigung mehr. Es kotzte ihn einfach nur an. Mochte die Frau es verdient haben, er wollte nicht mehr.
Er atmete tief durch. Vielleicht sollte er einfach gehen, das Paket irgendwo vergraben, wo man es nie finden würde. Aufhören. Aufgeben. Es enden lassen. Es war Zeit.
Schon wollte er sich umdrehen, da hörte er ihre Stimme hinter der Haustür. Sie sprach laut. Sie hatte schon immer eine durchdringende Stimme gehabt. Stephan verstand jedes Wort.
Sie telefonierte. Sie krakeelte in den Hörer hinein, als müsse sie die Entfernung zum Empfänger ihrer Schwätzereien mit schierer Lautstärke überbrücken. Jedes Wort verstand er. Jedes einzelne Wort.
Stephan spürte, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Er fühlte eisige Kälte in sich aufsteigen. Er konnte nicht glauben, was er gerade mitanhören musste. Er stand da und schüttelte den Kopf, während er der höhnischen Stimme lauschte, die die unglaublichen Dinge hinaustrompetete.
Stephan stand still, auch dann noch, als die keifende Stimme längst verstummt war. So war das also. Er spürte nichts außer Zorn. Kochenden Zorn. Er bückte sich und legte das Paket direkt vor der Haustür ab. Dann verschwand er im Dunkeln.
In der Marienkapelle öffnete er die geheime Tür zum Erdstall. Bevor er den Gang betrat, zückte er sein Mobiltelefon. Er machte seinen Anruf. Dann betrat er den Erdstall. Er schloss die Tür hinter sich, knipste seine Taschenlampe an und machte sich auf den Rückweg nach Hause.
Dreckskuh, verfluchte! Viel Spaß mit deinem ganz persönlichen Paket!

*

Es war Abend. Noch war es nicht vollkommen dunkel, aber sie hatten bereits die bunten Lampions angezündet und farbige Glühbirnen leuchteten rund ums Festzelt. Alle Leute waren guter Dinge. Die Sorgen des Alltags waren für eine Weile vergessen.
Siegfried Kowak fühlte sich wohl im Kreise seiner großen Familie.
Gerade holte Chayenne ihr neues Rad. „Ich geh jetzt Radfahren“, verkündete sie. „Ich will mein Licht testen.“
„Aber nicht allein“, rief Siegfried. Er wandte sich an Jerome Joel und Marvin, die ihre Fahrräder ebenfalls dabei hatten: „Ihr beide begleitet Chayenne. Bleibt bei ihr. Passt auf sie auf.“
Die Jungen gehorchten ohne Murren. Siegfried sah die drei Kinder losfahren. Vor Chayennes Rad beleuchtete ein breiter Lichtkegel die Straße. Dieses neumodische Diodenlicht war wirklich unglaublich.
Siegfried drehte sich um. Er ging zum nächst stehenden Grill und holte sich eine knusprige Bratwurst im Brötchen. Er unterhielt sich mit seinen Schwiegersöhnen. Wieder hatten zwei Leute Arbeit bei diesem neuen Autoteilezulieferer in Wernsach gefunden. Das war gut. Weniger gut war, dass alle beide daran dachten, dorthin zu ziehen. Wernsach lag zwanzig Kilometer hinter Achen.
„Der tägliche Weg zur Arbeit ist von Runsach aus ganz schön weit“, sagte Werner, der mit Alice verheiratet war. „Wenn wir nach Wernsach umziehen, spart das viel Geld. Benzin ist teuer.“
Siegfried wusste, warum Werner und Alice umziehen wollten. Sie hatten zwei Töchter. Eine war acht, die andere neuneinhalb Jahre alt.
Sie wollen ihre Kinder vor dem Mörder in Sicherheit bringen, der Runsach heimsucht, dachte er. Das Herz wurde ihm schwer. Immer mehr Familienmitglieder flohen aus dem Heimatdorf. Die Familie fiel auseinander. Es war furchtbar. Die Familie war doch alles, was sie hatten! Und nun zerbrach das Stück für Stück.
Zwei Fahrräder kamen aus der Dunkelheit angeschossen. Sie bogen in halsbrecherischem Tempo aufs Grundstück ab.
„Erster!“schrie Marvin.
„Zweiter!“ brüllte Jerome Joel. „Wir haben sie abgehängt, obwohl wir den Umweg über die Obergasse genommen haben.“ Er grinste: „Gleich kommt sie angewackelt und behauptet, das sei nur, weil sie mit der neuen Gangschaltung ihres Rades noch nicht klarkommt.“
Siegfried starrte die beiden Jungen an. Er schaute zur Straße. „Wo ist Chayenne?“ fragte er. Er spürte, wie sein Herzschlag beschleunigte.
„Die ist an der Kreuzung zum Dorfplatz abgebogen“, antwortete Jerome Joel. „Sie wollte unten rum fahren, um abzukürzen. Marvin und ich sind oben rum gefahren, über die Obergasse.“
Siegfrieds Herz schlug noch schneller. „Ich habe euch gesagt, ihr sollt bei ihr bleiben!“ rief er. Er rannte zur Straße und schaute gehetzt hin und her. Es war nichts zu sehen. Kein heller Lichtkegel aus einer Fahrradlampe. „Wo ist sie?“
„I-Ich weiß nicht, Opa“, antwortete Jerome Joel verdattert. Er sah zutiefst erschrocken aus.
„Chayenne ist weg!“ schrie Siegfried. „Chayenne ist weg! Los! Lauft! Sucht sie! Alle! Rennt!“
Sämtliche Männer ließen ihre Gläser und Teller stehen und rannten zur Straße. Sie verteilten sich und liefen los.
Nein! Oh nein!, dachte Siegfried. Er fühlte die Angst in sich hochsteigen wie einen riesengroßen eisigen Ball. Nicht meine Chayenne! Sie hat sich verfahren! Sie ist falsch abgebogen! Vielleicht ist sie gestürzt! Nur hingefallen und hat sich ein Knie aufgeschlagen! Nur gefallen, sonst nichts! Bitte Gott! Bittebitte lieber Gott! Bitte!
Direkt neben ihm klingelte das Mobiltelefon seiner Schwiegertochter Anneliese. Anneliese nahm das Gespräch entgegen. Siegfried sah, wie sie erbleichte.
Nein! Eine eiserne Klaue packte sein Herz und begann es zu zerquetschen. Nein!
Anneliese starrte ihn aus aufgerissenen Augen an: „Sie haben ihr Fahrrad gefunden! Auf dem Dorfplatz! Direkt neben der Marienkapelle! Von Chayenne keine Spur!“
Die eiserne Klaue um Siegfrieds Herz packte noch härter zu.
„Nein!“ presste er hervor. „Nein! Nicht meine Chayenne!“ Er winselte wie ein Hund.

27.03.2015 01:02 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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