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Stefan Steinmetz
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Die großen Steine(5) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Die großen Steine - Kapitel 5

Caro gab sich größte Mühe, nicht zart zu erröten, was ihr auch hervorragend gelang. Sie errötete nicht im Zartesten. Sie wurde knallrot wie ein Feuermelder.
"Wieso kann ich plötzlich tanzen?" fragte sie, um abzulenken.
Er zuckte die Achseln: "Ich kann zeichnen. Da wo ich herstamme, hätte ich es immer gerne gekonnt, hatte aber nie auch nur das geringste Talent. Hier im Königreich kann ich Landschaften und Architektur zeichnen wie ein Beinaheprofi. Sogar Menschen kriege ich recht passabel hin. Am liebsten zeichne ich mit Rötelstiften. Der Rötel wird hier im Saarland abgebaut, in der Gegend von Oberthal. Mit dem Rötel unserer Gegend hat schon Leonardo da Vinci gezeichnet."
Caro entspannte sich. Sie hatte es geschafft, die Eule abzulenken. Die Hitze wich aus ihren Wangen.
"Morgen muss ich mit der Bahn nach Neunkirchen", sagte Martin. "Hatte heute Morgen Post. Die Besitzer sind bereit, mir das Land zu verkaufen." Er lächelte breit: "Du wirst wohl nicht mitkommen." Er zwinkerte ihr zu: "Du musst ja die Saar rauf und runter patrouillieren, um "rein zufällig" deinem Saarfischer zu begegnen."
Grrr! Ekel-Eule!
"Neinnein!" sprach Caro hastig. "Ich komme mit. Ich will mal mit der richtigen Bahn fahren und ich will sehen, wo Sonja Fitz sich herumgetrieben hat."
Martin grinste: "Wenn du meinst. Bist mir jederzeit als Begleiterin willkommen. Man hat selten so hübsche Gesellschaft."
Jetzt wurde sie wieder rot, aber aus einem anderen Grund.
Am Luftschiffhafen holten sie ihr Gepäck aus dem Zug. Caro wollte sich die Päckchen aufeseln und zu ihrem Häuschen schleppen.
"Aber, aber!" sprach Martin. "Wozu gibt es Wagen?" Er zeigte zum Bahnhäuschen. Dort standen zwei Jungs von elf und zwölf Jahren mit einem Bollerwägelchen aus Holz: "Leute? Können wir eure Karre mieten?"
Die Jungen kamen sofort herbei und halfen ihnen, das Gepäck zu verstauen. Weil es so viel war, mussten sie es für zwei Touren aufteilen und ließen erst mal die Hälfte am Bahnhof zurück. Martin und Caro folgen dem schaukelnden Wägelchen, das die beiden Jungs an der Deichsel hinter sich herzogen. Martin schob -ganz Gentleman- Caros neues Rad.
"Meins hol ich gleich nachher auf meinem Hof ab", versprach er. "Dann können wir vielleicht mal eine Radtour machen. Ich schätze, du möchtest dir die Gegend anschauen."
"Aber ja", sagte Caro. "Davon habe ich immer geträumt, wenn ich die Romane las. Ich hätte natürlich nie geglaubt, dass ich diese wundervolle Welt einmal mit eigenen Augen sehen würde."
"Ich kann leider nicht immer mitkommen", sagte Martin entschuldigend. "Ich habe im Moment furchtbar viel auf dem Hof zu tun. Ich muss die Handwerker einweisen und sonst eine Menge machen. Aber fahr nur allein los. Dir passiert nichts. Hier sind alle Menschen freundlich. Wenn du dich verfährst, frag nach dem Weg. Man wird dir helfen.
Verhungern und verdursten wirst du auch nicht. Überall gibt es Trinkbrunnen am Straßenrand und natürlich sind da noch die Dorfbrunnen. Futter kannst du dir in der Kantine mitgeben lassen oder unterwegs im Land kaufen, wonach dir der Appetit steht."
Sie kamen an einer offenen Halle vorbei. Martins Flugzeug stand drinnen.
"Die Kennung D - E U L E", sagte Caro. "Hast du die einfach so bekommen? Wie ein Sonderkennzeichen fürs Auto so mit Initialen und so?"
Martin grinste: "Denkste! Das ist ne Fälschung. Gewissermaßen. D-E Kennzeichen sind für einmotorige Flugzeuge bis zwei Tonnen Gewicht vorgesehen. Die Focke Wulf bringt ein paar Pfunde mehr auf die Waage. Da müsste ein D-F Kennzeichen ran. Aber wer will schon FEULE heißen? Drauf gesch ..." Er räusperte sich. "Drauf gepfiffen! Ich habe die Kennung einfach so aufgemalt und bin los auf die Oldtimertreffen. Kam gut an, die Eule. Natürlich hat mich dann irgend so ein Hammel bei den Behörden verschuftet und ich bekam Post, dass ich die Kennung ändern muss. Ich schrieb zurück: Na gut. Dann lackiere ich den Vogel auf den Stand von 1944 um, in reinen Militärfarben und mit Militärkennung und Hakenkreuzen auf dem Leitwerk."
Martin lachte: "Gar plötzlich kam ein Brief, man fände die Idee nicht so gut und eigentlich spräche ja nichts gegen die Eule, da die Kennung inzwischen in der Szene allgemein bekannt und beliebt sei. Man sei gerne bereit, eine Ausnahme zu genehmigen." Er hob die Hände: "Wozu Hakenkreuze doch gut sein können."
Caro schüttelte den Kopf: "Du bist unmöglich!" Aber sie musste mitlachen.
Nachdem die zwei fleißigen Jungen ihr Gepäck zu den Häuschen am Rande des Flugfeldes gebracht hatten und von Martin mit ein paar Münzen entlohnt worden waren, machte Martin sich auf, um sein Rad abzuholen.
Kaum war er weg, kamen zwei junge Frauen in Luftschifferkombi mit Rucksäcken auf dem Rücken an und belegten das Häuschen neben dem von Caro mit Beschlag. Sie grüßen freundlich. Caro grüßte zurück.
"Kann man in der Kantine hier was zum Grillen bekommen?" fragte die eine, eine stämmige Blonde mit entzückenden Grübchen im Gesicht.
"Au ja! Im Freien grillen", sagte die Andere. "Erst mal ewig lange heiß brausen, dann anständige Zivilkleidung an den Leib und dann ran an den Grill. Essen und Trinken an der frischen Luft." Sie trug ihr schwarzes Haar zu Zöpfen geflochten.
"Ich weiß nicht, ob es Fleisch und Wurst in der Kantine zu kaufen gibt", sagte Caro. "Ich bin neu hier und kenne mich nicht aus."
Die beiden schauten sich an.
"Von auswärts?" fragte die mit den schwarzen Zöpfen.
Caro nickte. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte.
"Mauuu!" machte es neben ihrem rechten Bein. Sie schaute hinunter. Eine grau getigerte Katze schmiegte sich an ihre Wade und umstrich ihre Beine mit hochgestelltem Schwanz.
"Ein Stubentiger", rief Caro. Sie bückte sich und streichelte die Katze.
"Eine Flughafenkatze", meinte Fräulein Schwarzzopf. "Die findest du an jedem Flughafen. Sie halten die Mäuse kurz." Sie kam zu Caro und streichelte die Katze ebenfalls. "Ich bin Gertrud und das ist Ulrike."
Caro stellte sich vor.
"Wir haben einen Grill gemietet und Holz ist genug da. Komm doch mit, Caro", lud Gertrud sie ein. "Wenn wir was zum Grillen finden, kannst du mitmachen."
"Es kommt nachher noch jemand", meinte Caro und streichelte die Katze hingebungsvoll.
"Kein Problem", meinte Gertrud fröhlich. "Dann kaufen wir eben etwas mehr ein. Komm mit."
Sie zogen zu dritt los. Die Katze folgte ihnen auf dem Fuß.
Sie kauften in der Flugplatzkantine mächtig ein: Würste verschiedener Art und Koteletts und Steaks und dazu Apfelwein und ein paar Süßigkeiten zum Knabbern.
Während die beiden Luftschiffmädchen brausten und sich umzogen, entzündete Caro ein Holzfeuer in dem transportablen Grill.
Als Martin mit seinem grünen Fahrrad daher kam, fand er die drei jungen Frauen gemütlich plaudernd beim Grill vor, in dem das Holz allmählich zu einer dichten, roten Glut verbrannte.
"Du kommst genau richtig", rief Caro gutgelaunt. "Heute Abend grillen wir. Das sind Gertrud und Ulli."
"Hallo." Martin winkte und stieg ab. "Na gegen Gegrilltes habe ich ja überhaupt nichts."
Dann saßen sie zu viert beim Grill an einem Klapptisch und aßen gebratenes Fleisch und frisch gebruzzelte Würste. Dazu tranken sie Apfelwein. Gertrud und Ulrike hatten ihre strengen Fliegerzöpfe aufgedröselt und trugen ihr Haar offen.
Nach dem Essen spielte Martin auf seiner Mundharmonika und die drei Mädchen sangen dazu. Caro kannte die meisten Lieder nicht. Sie hörte gut zu und prägte sich den Text ein. Besonders gerührt war sie, als die zwei Luftschiffmädchen zu Martins Begleitung auf der Mundharmonika das Abschiedslied sangen. Endlich lernte sie das Lied kennen, von dem sie schon so oft gelesen hatte.
Es wurde ein schöner Abend.

*

Am nächsten Morgen brachen Caro und Martin nach Neunkirchen auf. Sie fuhren mit der Zuckelbahn nach Saarlouis und von dort mit der Normalspurbahn nach Neunkirchen. Ihr Zug wurde von einer S3/6 gezogen, einer mächtigen bayerischen Vierzylinderdampflokomotive mit drei Treibachsen. Die die dunkelroten Treibräder mit den Weißwandreifen waren über zwei Meter hoch. Die Lokomotive wirkte riesig.
Der Zug flog mit hundert Stundenkilometern dahin.
"Das ist schneller als mit der Bimmelbahn", meinte Martin und zeigte zum Fenster hinaus. "Und wackeln tut es auch nicht so arg."
Draußen zogen kleine Dörfchen vorbei.
„Wie winzig die Ortschaften sind“, sagte Caro.
Martin nickte: „Wo bei uns hundert Leute wohnen, sind es hier im Bayern nur zehn. Die Bevölkerung beträgt also nur ein Zehntel. Von Überbevölkerung kann man wahrlich nicht sprechen.“
„Aber sie wächst doch, die Bevölkerung“, meinte Caro. „Ich habe viele Kinder gesehen.“
„Es gibt Familien, die haben vier oder fünf und mehr“, bestätigte Martin. „Trotzdem bleibt die Bevölkerungszahl statisch. Der Alte hat es mir erklärt. Der hat das erforscht. Es ist tatsächlich so, dass auf jeden Sterbefall eine Geburt kommt – ungefähr jedenfalls.“
Caro zog die Nase kraus: „Bei vier oder fünf Kindern pro Familie? Da müssen aber eine Menge Leute sterben.“
Martin schüttelte den Kopf: „Es gibt viele Paare, die kinderlos bleiben. Das ist die traurige Seite dieser Welt.“
„Warum holen die sich kein Kind aus dem Waisenhaus?“ fragte Caro.
„Weil es keine gibt“, lautete die Antwort. „Das strenge Waisenhaus von Saarlouis habe ich schlicht und ergreifend erfunden. In Wirklichkeit bleibt kein Kind ohne Familie, wenn seine Eltern sterben. Verwandte und Bekannte nehmen sie auf. Das tun die nur zu gerne. Im Königreich Bayern gibt es keine Waisenkinder.
Es ist überall in Europa so: Keine Überbevölkerung. Nur in Britannien scheint diese Regeleinrichtung der Natur nicht ganz zu klappen. London soll übervölkert sein und voll mit Armen. Vielleicht funktioniert es echt nur auf dem Kontinent.“ Er schaute zum Fenster hinaus: „Wir sind da. Neunkirchen. Wir müssen aussteigen.“
Als der Zug anhielt, stiegen sie aus.
Sie durchquerten den Bahnhof und spazierten in Richtung Stadtmitte.
Caro hatte sich bei Martin eingehängt: „Dann existiert hierzulande auch nicht das St. Vinzenz-Waisenhaus von Neunkirchen? Dort wo deine Pflegeschwester Rosi war?“
„Nein“, sagte er. „Hier gibt es das nicht und das ist gut so. Kein Kind auf der Welt sollte in einem Waisenhaus leben müssen. Es gibt mehr als genug Menschen, die sie aufnehmen könnten.“
Sie schritten über die weitgeschwungene Brücke, die über die Gleise führte. Drunten fuhren Dampfzüge ein und aus. Droben schnaufte eine kleine grüne Kastenlok mit drei angehängten Waggons über Gleise, die in die Kopfsteinpflasterstraße eingelassen waren.
„Hier gibt es eine Straßenbahn“, sagte Caro. „Toll sieht das aus.“ Sie zupfte an Martins Arm: „In deinem Roman von den Geisterkindern steht nichts davon.“

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„Die muss neu sein“, sagte Martin. Vor vierzig Jahren, also vor sieben Jahren hier, war da nichts von einer Straßenbahn zu sehen. Es gibt also doch Fortschritt.“
„Eine Straßenbahn mit Dampfantrieb.“ Caro war baff. So etwas hatte sie noch nie gesehen, nicht mal in Dokus im TV.
„Vierzig Jahre“, sagte sie, während sie die Straße zur Innenstadt hinunter spazierten. „Und hier sind sieben Jahre vergangen. Kann man das in eine Rechenformel bringen?“
„Eben nicht“, meinte Martin. „Der Alte hat versucht, es mir zu erklären, aber ich denke, er wusste es selbst nicht genau. Diese Durchgänge sind poröse Stellen im Weltgefüge, Poren auf der Außenhaut einer Weltenblase gewissermaßen. Sie „atmen“, könnte man sagen. Zwischen zwei Atemzügen kann man sie passieren. Es kommt also drauf an, wie lange so ein „Atemzug“ dauert. Dass kann einmal pro Woche sein oder einmal im Monat. Und sie schließen sich oft für eine gewisse Zeit. Sie unterscheiden sich stark voneinander. Wenn ich einen anderen Durchgang benutzt hätte, hätte es sein können, dass hier nur drei Jahre vergangen wären oder auch fünfzehn.“
„Das klingt kompliziert.“
„Ist es auch. Ich bin nie durchgestiegen.“
„Aber die Verjüngung, die nach einer langen Pause des Besuchs eintritt, hängt mit dem Alter zusammen, in dem man zum ersten Mal das Königreich Bayern betreten hat?“
Er nickte: „Ganz genau. Ich war zwölf, also orientiert es sich an diesem Alter.“
Da war es wieder, das Gefühl, als hätte sie etwas Wichtiges übersehen. Caro versuchte die Gedanken zu erhaschen, die am Rande ihres Wahrnehmungsvermögens herum huschten, aber sobald sie zupacken wollte, entwischten sie.
Sie gingen beide aufs Amt und Martin machte den Verkauf des Landes fertig. Es ging erstaunlich schnell. Der Notar der Besitzer hatte einen unterschriftsreifen Vertrag verfasst, den Martin nur in Anwesenheit eines Beamten zu unterzeichnen brauchte. Anschließend musste er etliche seiner Silberunzen dalassen. Danach war er stolzer Besitzer von vielen Hektor bestem Ackerland.
Auf dem Rückweg zum Bahnhof benutzten sie die Straßenbahn. Kaum saßen sie, gelang es Caro, einen der herumspukenden Gedankenfetzen einzufangen. Sie setzte sich kerzengerade auf: „Woher hast du es gewusst?“
„Gewusst? Was denn?“
„Na die Verwandlung. Die Verjüngung. Du selbst warst als Zwölfjähriger in Bayern. Aber woher konntest du wissen, dass ich mich auch … in eine Jüngere verwandeln würde und dazu noch in ...“ Sie stockte.
Martin schaute sie an: „Deine PN damals. Ist schon eine ganze Weile her. Du hast mir geschrieben, wie sehr du die Beschreibungen des Königreichs magst. Es ist manchmal, als käme ich nach Hause, hast du mir geschrieben. Weißt du noch? Und noch was: Du hast mir geschrieben, dass du als kleines Kind von vier Jahren einen Traum hattest. Im Traum warst du mit deinen Eltern in einem Gartenlokal draußen vor der Stadt. Du hast auf dem Spielplatz gespielt, während die Großen Kaffee tranken. Du hast ein Eichhörnchen gesehen und bist ihm gefolgt, als es um einen Felsen herum flitzte.
Du hast geschrieben, dass das ein Bach war mit Enten drauf und Kühen auf der Weide. Auf der Weide war ein Steinklotz der aussah wie ein großer Würfel, aber irgendwie schief. Dass du an einen großen Fluss kamst. Da waren Schwäne und Ruderboote und ein weißer Raddampfer mit rotem Schornstein. Du hast geschrieben, dass du eine Straße quer über den Fluss gesehen hast, über die eine Pferdekutsche fuhr. Du hast von Toren geschrieben, die unter dieser Straße im Fluss waren und sich öffneten. Du hast eine Laterne beschrieben, die mitten auf der Straße stand. Sie war aus verschnörkeltem Gusseisen und dunkelgrün angemalt. Sie hatte Glasscheiben und diese Scheiben waren durchsichtig gelb.“
Er blickte sie sehr ernst an: „Das Wichtigste aber war, dass in deiner PN stand, dass du in dem Traum ein kleines Mädchen warst!“
Caro war wie erstarrt. Jetzt wo er es sagte, fiel es ihr wieder ein, jener Traum der ihr nur noch verschwommen im Gedächtnis war. Besonders an den kleinen Bach erinnerte sie sich genau und an den schiefen Steinwürfel auf der Kuhweide.
„Als du mich gebeten hast, dich mitzunehmen, dachte ich, es könnte ja sein, dass das gar kein Traum war“, sagte Martin. „Dass du nur denkst, du hättest es geträumt. Weil es ein wahrhaft ungewöhnliches Erlebnis war. Ähnlich geht es mir mit dem angeblichen Traum, in dem meine Mutter als Kind zwischen den große Steinen im dichten Nebel landet.“
„Mein Gott! Ich war hier!“ Caro fasste sich ans Herz. „Ich bin hier gewesen! Im Königreich Bayern! Als kleines Kind!“
Martin nickte: „Ganz recht. Wenn ich dich ansehe, weiß ich es.“

*

Wieder zurück am Luftschiffhafen zogen sie sich um und dann machten sie eine gemeinsame Radtour an der Saar entlang in Richtung Süden. Eules Rad war von einem dunklen Grün wie Tannennadeln und genau wie das dunkelbordeauxrote von Caro mit feinen doppelten Goldlinien an den Rahmenrohren verziert. Martin fuhr natürlich ein Herrenrad. Er hatte ebenfalls Satteltaschen. Diese waren aus hellem, naturfarbenen Leder gefertigt, was einen schönen Kontrast zum dunklen Rahmen des Rades schuf.
Sie gondelten über einen Treidelpfad. Dieser war zu Caros Erstaunen asphaltiert.
„Asphalt? In Bayern?“
„Gibt es seit einiger Zeit. Sie fangen an, so genannte Schnellbahnen durchs ganze Reich zu ziehen; Sträßchen die so gelegt werden, dass starke Steigungen möglichst vermieden werden. Sie sind mehrspurig. Es gibt rechts und links eine Langsamfahrspur und in der Mitte eine Überholspur für die ganz Eiligen.“
„Fahrrad-Autobahnen“, rief Caro.
„Sie müssten Fahrrad-Bahnen heißen“, bestätigte die Eule. „Aber der Begriff Schnellbahnen hat sich durchgesetzt. Du kannst von hier auf diesen Rennstrecken bis an den Badensee sausen.“
Sie kamen an einem Winkertelegraphen vorbei.
Caro hielt an und schaute zu, wie die großen Arme des Apparates sich knarrend verstellten.
„Die gibt es also auch? Mist! Ich habe meinen neuen Photoapparat nicht dabei.“
„Dir läuft nichts weg“, sagte Martin freundlich. Er verstand ihr geradezu kindliches Staunen nur allzu gut. „In den nächsten Tagen bin ich ziemlich beschäftigt. Dann kannst du auf eigene Faust Radtouren unternehmen und knipsen wann und wo du willst. Ist halt schade, dass es keinen Farbfilm für deine Kamera gibt. Farbphotographie kommt im Königreich gerade erst auf und man braucht dazu große Glasplatten und eine sehr lange Belichtungszeit. Ich schätze, die werden aber bald auch farbige Rollfilme erfinden.
Das ist ein Grund, warum ich nochmal zurück will. Erstens brauche ich noch ein paar Laptops. Ich habe bislang zur zwei Stück mitgebracht.“
Sie stiegen auf und fuhren weiter. Hinter ihnen fuchtelte der Telegraph mit knarrenden Armen seine Zeichen zur nächsten Station.
„Zu den Computern will ich noch ein oder zwei Dutzend gute Digitalkamera mitbringen. Dann kann man hierzulande richtig tolle Photos schießen. Betrachten kann man sie leider nur auf dem Computerbildschirm.“
Caro konnte sich nicht sattsehen an den vielen schönen Kleinigkeiten, an denen sie vorbei kamen. Einzeln stehende Häuschen mit überquellenden Bauerngärten standen überall. Hühner liefen frei herum. Sie kamen an geradezu winzigen Dörfchen vorbei. Manchmal gab es am Treidelpfad Rastplätze. Hölzerne Bänke und Tische luden zu einer Pause ein. Fast immer gab es einen sprudelnden Brunnen, aus dem klares frisches Wasser floss.
„Dieser Himmel!“ rief Caro. „Ich habe noch nie einen dermaßen blauen Himmel gesehen. Er wirkt so hoch.“ Sie wandte sich Martin zu, der neben ihr her radelte: „Seit wir hier sind, hat es noch kein einziges Mal geregnet.“
Er lächelte: „Perfektes Radlerwetter, was? Hier regnet es in der warmen Jahreszeit fast nie tagsüber. Es pisst immer nur nachts. Ganz schön praktisch. Nur im Herbst und zum Ende des Winters erlebt man auch mal tagsüber Regen und im Sommer ganz, ganz selten mal ein Gewitter.“
„Das ist wirklich ein Traumland“, sagte Caro. „Kein Wunder, dass du alles zurück lässt, um hier neu anzufangen.“
„Nicht ganz“, sagte Martin. Er wirkte mit einem Mal sehr ernst. Von hinten kam eine Bande lärmender Jungen auf Fahrrädern angeschossen. Martin schaltete einen Gang herunter und ließ die Jungs vorbeiziehen. „Du kannst deine Vergangenheit nicht dort zurücklassen, Caro. Tut mir Leid. Egal, wie du dich letzten Endes entscheidest: Wenn du hierbleibst, wird dein altes Leben auch mit dir hier bleiben. Es wird immer bei dir sein. Man kann es nicht verdrängen. Ich schätze, das war der Grund, warum der Alte zurückflog, um in der alten Heimat seinen letzten Atemzug zu tun.
Es wird immer bei dir sein. Aber du brauchst dich ja nicht davon niederdrücken lassen, falls es Niederdrückendes gibt.“
Eine Weile kurbelten sie schweigend nebeneinander her. Caro dachte nach. Hierbleiben. Wollte sie das?
Ja, entschied sie. Ich werde viel zurücklassen müssen. Wenn überhaupt, wird das was ich zurücklasse, nur noch in Gedanken bei mir sein. Aber hier kann ich eine wirkliche Frau sein. Ich schätze schon, dass ich bleibe.
Sie fühlte auf einmal eine unbändige Dankbarkeit gegenüber Martin, der ihr diese Chance offerierte. Was für ein netter Kerl.
Sie überholten ein Segelboot mit rotbraunen Segeln.
„Der gehört normalerweise auf den Saarsee“, kommentierte Martin. Er war der perfekte Reiseleiter. „Dort wirst du auch größere Schiffchen sehen. Es gibt auch Zweimaster. Alle haben sie farbige Segel, jedenfalls wenn die Eigentümer sich das farbige Leinen leisten können. Ein herrlicher Anblick.
Nächste Woche ist das Fest des Heiligen Alfons. Kennst du ja aus meinen Romanen. Leider bin ich dann weg und komme erst danach wieder. Wenn du lieber bleiben willst – ich kann dir das Fest nur empfehlen. Ganz Saarbrücken steht dann auf dem Kopf. Die Menschen kommen von überall her in die Stadt. Der Umzug kann es mit euren Karnevalsumzügen im Ruhrgebiet locker aufnehmen. Es ist richtig was los. Das Schönste ist aber abends, wenn alle Menschen kleine Brettchen mit Teelichtern auf den See hinaus schwimmen lassen. Den Anblick vergisst man ein Leben lang nicht.“
Sie fuhren auf eine Art Absperrung im Fluss zu.
„Das ist die Staustufe von Wehrden“, erklärte Martin. „Die letzte vor der ganz großen Staustufe am Ende des Saarsees.“ Er lächelte ihr zu: „Ich schätze, gleich hast du ein Deja vue.“
Er behielt recht. Je näher sie dem Ding kamen, desto stärker wurde das Gefühl, alles schon einmal gesehen zu haben. Caro fühlte sich unbeschreiblich.
Das ist es. Ich war schon einmal hier!
Martin winkte: „Hier rein, Caro.“ Sie bogen auf einen Sandweg ein, der sich wie ein kleiner Fluss durch eine Wiese schlängelte. Mitten in der Wiese hielt er an: „Hier?“
Caro schaute sich die Augen aus dem Kopf. Da war der Felsblock mit den Brombeeren. Sie war um ihn herumgelaufen, als sie dem Eichhörnchen folgte. Dann der sandige Weg. Rechts war ein Bach. Sie sah Enten auf dem Wasser. Keine hundert Meter weiter mündete er in die Saar. Auf der anderen Seite des Feldweges lag der Steinblock mitten in der Wiese, ein großer Würfel, Kantenlänge etwa einen Meter, mit schiefen Seitenkanten. In der Ferne sah sie die Staustufe. Sie sah eine Traction Engine mit angehängtem Anhänger über die Staustufe fahren. Sie war ganz nahe.
„Keine Kühe“, sagte sie. „Damals war hier ein Zaun aus Latten oder so.“ Sie zeigte auf einen einsam am Wegesrand stehenden Pfosten. „Das ist einer der Zaunpfosten.“
„Man benutzt die Weiden immer nur für ein Jahr und lässt die Wiesen dann für ein oder zwei Jahre ausruhen“, meinte Martin. „Land gibt es ja im Überfluss.“ Er zeigte zur Staustufe: „Siehst du die Laterne dort?“
Ja, Caro sah sie. Sie sah aus wie die Gaslaternen in Saarlouis, doch sie war dunkelgrün gestrichen und das Glas war gelblich.
Martin saß ab. Er stellte sein Rad auf den Ständer: „Wollen wir es versuchen?“
„Versuchen?“ Sie stieg ab. Erst als er über die Wiese zu dem Steinblock mit den Brombeeren schlenderte, wurde ihr klar, was er meinte: Ihr eigener Durchgang! Der Weg, den sie als kleines Kind gegangen war.
Sie fasste ihn an der Hand: „Warte! Nicht so!“ Sie drehte sich um und nahm mit den Augen Maß. „Wir müssen da hinten entlang. Siehst du den Graben im Boden. Dort geht es an dem Felsen entlang.“
Sie gingen den Weg, den sie Erinnerung hatte. Sie schritten um den Felsblock herum.
Nichts.
Da war nichts.
Sie standen noch immer inmitten der Wiese, in der bunte Blumen blühten.
„Er ist weg.“ Caro fühlte Enttäuschung. Wäre es nicht wunderbar gewesen, diesen Durchgang zu haben? Dann hätte sie ab und zu „Urlaub“ im Königreich Bayern machen können, statt eine einschneidende Entscheidung treffen zu müssen. Vor allem hätte sie dann gewusst, wo genau sich der Durchschlupf nach Bayern drüben auf der anderen Seite befand. Sie hatte keine Ahnung, wo sie damals vor so vielen Jahren sonntags Kaffeepause gemacht hatten. Vierjährige merkten sich so etwas nicht.
„Hat sich geschlossen“, meinte Martin pragmatisch. „Das passiert öfter als man glaubt. Schade. Es wäre eine Rückversicherung gewesen. Andere Eingänge kenne ich nicht.“
Er schaute auf seine Armbanduhr: „Lass uns umkehren. Gertrud und Ulrike haben uns eingeladen, den Abend in der Kantine mit ihnen zu verbringen. Es kommen Musiker, um Stimmung zu machen. Wirst sehen, es gefällt dir. Magst du Apfelwein? Keine Angst, die haben auch Bier und ganz normalen Wein.“
Der Abend wurde wunderbar.
Die Kantine hatte einen angebauten Raum, fast schon einen kleinen Saal. Dort spielten Musiker auf einer kleinen Holzbühne und drunten tanzte das versammelte Luftschiffervolk. Man saß an langen Bänken, wie Caro sie aus Bierzelten kannte und der Apfelwein floss in Strömen. Nachdem sie ein Glas probiert hatte, blieb sie dabei. Das Getränk schmeckte leicht säuerlich und erfrischend und es stieg einem nicht so schnell zu Kopf wie Rotwein.
„Apfelwein hat nur fünf Prozent“, erklärte die Eule fachmännisch. „Nicht viel mehr als normales Pilsener oder Weizenbier. Man kann schon ein paar Schoppen trinken. Tanzen macht durstig.“
Martin tanzte ein paarmal mit Caro. Dann kamen andere junge Herren und klatschten ihn freundlich ab. Martin schien das ganz recht zu sein, denn fortan tanzte er fast ausschließlich mit der schwarzhaarigen Gertrud.
Später saßen sie in trauter Runde zusammen und spielten ein lustiges Kartenspiel, bei dem es darum ging zu verlieren. Der Gewinner wurde ausgebuht und musste eine Runde Apfelwein ausgeben.
Caro amüsierte sich köstlich.
Nur schade, dass Peter Lange nicht hier ist, dachte sie. Warum kommen nicht auch mal Leute aus den Dörfern hierher? Die haben doch auf dem Dorf bestimmt nicht so ein tolles Tanzlokal.
Sie konnte den Mann nicht vergessen. Wenn sie an ihn dachte, fühlte sie ein Ziehen im Herzen. Die Eule hatte gar nicht mal so Unrecht, wenn sie behauptete dass Caro mit dem Fahrrad die Saar entlang patrouillieren würde. Sie hatte es tatsächlich vor. Vielleicht traf man sich ja?

31.10.2014 14:25 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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