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Stefan Steinmetz
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Die großen Steine(4) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Die großen Steine - Kapitel 4

Sie standen an einem Wartehäuschen am Rande des Flugfeldes und warteten auf die Bimmelbahn, die sie nach Saarlouis bringen würde. Sie hatten morgens geduscht und die frischen Leihklamotten angezogen, die sie zuvor abgeholt hatten. Gefrühstückt hatten sie in der Lufthafenkantine. Es gab helles Brot, Butter und mehrere Sorten Marmelade. Dazu noch herrliches Gebäck wie Zuckerbrezeln und Kaffeestückchen. Zu trinken gab es wahlweise Bohnenkaffee, Muckefuck, Kakao oder Mineralwasser.
Es herrschte bereits zu der frühen Stunde geschäftiges Treiben. Viele Leute trugen ganz normale Kleidung wie Caro und Martin; andere hatten die typische Kleidung von Luftschiffern an: eine Kombi aus Hose und Jacke aus weichem, gefüttertem Leder.
"Die Luftikusse können in ihren Schiffen nicht zig Klamotten zum Wechseln mitnehmen", hatte Martin zwischen zwei Bissen Puddingbrezel erklärt. "Drum gibts überall die Kleiderausleihe. Das ist praktisch für Leute, die während ein oder mehrerer Tage Aufenthalt mal raus wollen. Willst ja nicht überall in der Fliegerkombi rumstapfen. Nur die ganz großen Schiffe bieten ihrer Mannschaft Platz genug für Wechselklamotten."
Sie warteten auf den Zug, der sie nach Saarlouis bringen sollte. Die Gleise waren schmal und wirkten primitiv.
"Das ist eine typische 600mm-Feldbahn", sagte Martin. "Die Regelspurbahn verläuft auf der anderen Saarseite. Wenn du nach Saarbrücken willst, solltest du die benutzen - jedenfalls wenn du es eilig hast. Die Schmalspur zuckelt mit gerade mal zwanzig bis dreißig Kilometern die Stunde durch die Lande und sie hält alle naslang an. Andererseits kannst du mit der Kleinbahn viel mehr von der schönen Gegend sehen. Die schmalen Gleise lassen sich echt überall verlegen und diese Bahn kostet weniger als ein Drittel der Regelspurbahn. Deshalb schlängeln sich die schmalen Gleise überall durchs Land. Eisenbahnfahren ist bequemer als mit einer Kutsche. Vor allem im Winter. Der Zug ist mit Dampf geheizt. In der Kutsche muss man sich -im wahrsten Sinne des Wortes- warm anziehen.
Auf der Bahn kann man auch schwere Sachen transportieren. Bei der Rüben- und Kartoffelernte zuckeln überall hoch beladene Güterzüge zwischen den Feldern durch."
Im Wartehäuschen hatten sie bei einem freundlichen Schalterbeamten ihre Fahrkarten nach Saarlouis gekauft und Martin hatte Caro auf ein Display aufmerksam gemacht, in dem zig Hefte und Flyer eingeordnet standen: "Alles was das Herz begehrt. Fahrpläne der Feld- und der Regelspur, auch die Abfahrtszeiten von Passagierdampfern und natürlich Luftschifflinien-Hefte, in denen die Schiffe sich vorstellen.
Dann bekommst du Wanderkarten und größere Übersichtskarten und Heftchen mit Bildern, die dich zu den Sehenswürdigkeiten der näheren und weiteren Umgebung führen. Wenn du mal allein losziehen möchtest, kannst du dir hier Anregungen holen. Ist alles kostenlos."
Er zeigte auf ein kleines Kästchen aus Eisen mit einem Einwurfschlitz im Deckel: "Man freut sich aber über eine kleine Spende. Die Regierung in Bayern hat nichts dagegen, wenn sie bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben unterstützt wird."
Caro hatte das Kästchen angeschaut. Es stand einfach so auf einem Holztisch: "Haben die keine Angst, dass jemand die Kasse stiehlt?"
"In Bayern stiehlt niemand", lautete Martins Antwort.
"Wie in deinen Geschichten", sagte Caro.
"Ja", sagte er. "Ganz recht. Das macht ja den Reiz dieses Landes aus. Nicht nur die Landschaft und die fehlende Umweltverschmutzung. Es sind die Menschen, Caro. Du glaubst nicht, wie das damals auf mich wirkte, als ich mit kaum dreizehn Jahren zum ersten Mal hier war. Ich kam aus einer Höllenwelt, in der ich schikaniert und misshandelt wurde und hier waren alle ausnahmslos nett zu mir. Richtig freundlich. Ich musste mich erst dran gewöhnen, dass mich keiner rum schubste und ständig anmaulte."
In der Ferne ertönte ein Pfiff.
Martin reckte den Hals: "Unser Zug kommt."
Was dann heranrollte, ließ Caro schmunzeln. Eine kleine, knuffige Dampflok in grüner Lackierung zog schnaufend drei kleine Personenwagen und einen Güterwaggon hinter sich her über die schmalen Gleise. Der Zug rumpelte und schaukelte durch die Wiese auf sie zu. Sie hatte dergleichen in Parkanlagen in großen Städten gesehen, nur dass dort kleine Dieselloks die Züge zogen. Hier in Bayern war das also ein ganz alltägliches Transportmittel.

[IMG]http://Loknebenfeld by kibitzel, on Flickr[/IMG]

Schnaufend kam die kleine Bahn zum Stehen. Leute stiegen ein und aus. Caro und Martin ergatterten zwei sich gegenüberliegende Sitze in der ersten Klasse. Hier waren die Sitzmöbel gepolstert. Martin erklärte ihr, dass in der Holzklasse alles aus blankem Holz war.
"Ist eben praktischer, wenn einer nach der Arbeit nach Hause muss und seine Hosen schmutzig sind oder wenn jemand ein paar Hühner zum Markt bringen möchte. Die nehmen die Holzklasse. Mit Klassenunterschieden im menschlichen Sinne hat das nichts zu tun. Die Preise sind sich ziemlich ähnlich. Man setzt sich halt nicht mit dreckigen Arbeitsklamotten und einem Sack Kartoffeln auf eine Polstersitzbank."
Der kleine Zug ruckte an und bewegte sich schaukelnd über die schmalen Gleise. Es ging mitten durch Wiesen und Felder und an kleinen Dörfchen und Höfen vorbei. Wie Martin es gesagt hatte, hielt das kleine Bähnchen sehr häufig.
Caro schaute aus dem Fenster und genoss die schöne Aussicht. Sie dampften durch reine Naturlandschaft und durch Äcker und Weiden.

[IMG]http://Loknebenweg by kibitzel, on Flickr[/IMG]

Irgendwann schlängelte sich der Zug zwischen zwei Hügeln hindurch und gelangte ins Flachland. Hier gab es ausgedehnte Gemüsefelder und endlose Obstgärten. In der Ferne dräute auf der anderen Seite der Saar eine hohe dunkle Bergehalde.
Der Zug hielt in einem Dorfbahnhof.
"Lisdorf", verkündete Martin. Wie er es sagte, klang es wie Lieschdureff, wobei Caro nicht hätte sagen können ob der Buchstabe nach dem d ein u oder ein o war. Er sprach den hiesigen Dialekt. Das taten auch alle anderen Menschen, das war ihr aufgefallen. Niemand sprach bayerischen Dialekt. Sie fragte Martin danach.
"Wir sprechen die beiden saarländischen Dialekte. Rheinfränkisch im Süden und Moselfränkisch in Norden. Mitten durch die Saargegend verläuft die berühmte "Das-Dat-Grenze". Wir im Süden sagen "Das doo" und die im Norden sagen "Dat loo". Ist ziemlich verschieden." Er sprach das o aus wie das o in Ochse aber langgezogen.
(hier findet man ein paar Beispiele für die Saarländische Sprache: http://de.wikipedia.org/wiki/Dialekte_im_Saarland )
"Bayerisch sprechen manche Beamte, die aus dem Stammland hierher versetzt werden. Wir gehören zum Königreich Bayern. Aber jede Gegend hat ihren eigenen Dialekt. Die gemeinsame Sprache ist normales Hochdeutsch."
Wir. Er sagte tatsächlich Wir.
Ich möchte auch dazu gehören, dachte Caro. Plötzlich wuchs dieser Wunsch in ihr auf. Er wurde rasch größer und stärker. Ich will hierbleiben! Ich will ein Mädchen bleiben! Egal, was ich dafür zurücklassen muss! Sie war so aufgeregt, dass sie nicht sprechen konnte.
Martin schien zu merken, dass etwas mit ihr los war. Er ließ sie in Ruhe und kam ihr nicht mit bohrenden Fragen.
Eine halbe Stunde später lief der Zug im Bahnhof von Saarlouis ein und sie stiegen aus. Sie gingen zu Fuß in die Stadt. Caro ließ das emsige Treiben auf sich einwirken. Pferdefuhrwerke klapperten über Kopfsteinpflaster, einzelne Reiter waren unterwegs. Viele Leute fuhren mit dem Fahrrad und natürlich ging man auch zu Fuß. Sie sah feine Damen und elegante Herren über die Bürgersteige flanieren, aber es waren auch Leute in ganz einfacher Kleidung unterwegs. Einmal schnaufte ein Dampfauto an ihnen vorbei.
Wieder fiel Caro auf, wie freundlich die Menschen waren. Man grüßte höflich und schien allzeit guter Dinge. Die Atmosphäre packte sie. Sie fühlte sich gelöst und richtig gut.
Sie bewegte sich inzwischen mit natürlicher Eleganz. Sie ging wie eine Frau. Sie war eine Frau. Und das fiel auch anderen Menschen auf. Zu ihrem nicht gelinden Erstaunen bemerkte Caro, dass junge Männer ihr nachschauten. Das war ein Gefühl, dass sie nie gekannt hatte.
Das war besser als Frauenkleidung zu tragen, besser als Hormone, besser als Schminke und besser als die Operation, der allerletzte Schritt.
So oder so wäre die OP nur noch ein einziger Schritt in die Richtung gewesen, die sie seit Jahren ging. Es war nicht die operative Entfernung der Geschlechtsteile, die sie zur Frau machte. Sie war aus freier Entscheidung eine geworden. Sie hatte Jahre zuvor den Entschluss gefasst, fortan als Frau zu leben und diesen Entschluss in die Tat umgesetzt.
Sie erinnerte sich noch haargenau an ihren letzten Abend als Mann. Sie war in Jeans und Holzfällerhemd durch den Vorort spaziert, in dem sie wohnte. Es war sehr emotional gewesen. Ein Abschied für immer. Gewollt, ja, aber trotzdem mit ziemlich vielen unterschiedlichen Emotionen verbunden.
Am folgenden Tag war sie Caroline gewesen, eine Frau, und das würde sie bis an ihr Lebensende bleiben.
Aber das hier ist besser, dachte sie, als sie neben der Eule herlief. Sie blieb ständig an irgendwelchen Schaufenstern stehen und begutachtete die Auslagen. Martin störte sich nicht daran. Er wartete geduldig und wies sie sogar auf besonders interessante Dinge hin. Ein echter Gentleman.
Nachdem sie sich überall umgeschaut hatten, überfielen sie ein großes Kaufhaus in der Stadtmitte von Saarlouis und ließen jede Menge Silber in der Damen- wie in der Herrenabteilung. Caro schwelgte in Dutzenden von Kleidern und Röcken und Blusen. Sie probierte Kletterwesten und Jäckchen aus einem tweedähnlichen Stoff. Es gab Schuhe und Strümpfe in einer Auswahl, die sie nie gekannt hatte. Freundliche Damen bedienten sie zuvorkommend und als sich die Kleideranprobe hinzog, bot man ihr Kaffee an und ein Stück Kuchen dazu.
Zwischendurch kam Martin vorbei, mal in einem Anzug, der ihn aussehen ließ wie einen britischen Gentleman der nur bei Huntsman in der Sawile Row in London einkauft, dann wieder in simplen, aber gut geschnittenen Hosen aus Leinen oder Mischgewebe mit Hemden aus naturfarbenem Leinen oder in sanften Farben kariert. Er riet ihr, noch mehr Blaudrucksachen zu kaufen.
"Die sind hier im Lande beliebt. Sie sind praktisch, haltbar, bequem, pflegeleicht und hübsch anzusehen." Er maß sie mit einem Blick, dass sie rot wurde: "Macht etwas Hübsches wie dich noch hübscher." Unter seinem Blick wurde ihr warm.
"Musst ja nicht gleich eine komplette Garderobe anschaffen", meinte er pragmatisch. "Wir können jederzeit wiederkommen oder nach Saarbrücken fahren. Dort gibt es noch mehr Geschäfte. In Neunkirchen auch. Außerdem hat es hierzulande jede Menge Schneider, die etwas von ihrem Handwerk verstehen." Er setzte eine kecke Tweedmütze auf: "Draußen brauchte ich so eine, damit mir die Sonne nicht die Glatze verbrannte. Hier ist es Zier." Er zog von dannen: "Schönen Einkauf noch, putzige Lady."
Schließlich trafen sie einander, wie Lastesel bepackt mit Koffern, großen Schachteln und Stofftaschen. Gemeinsam verließen sie das Kaufhaus. Draußen angekommen mieteten sie eine Droschke , die die Koffer zur Schmalspurbahn transportierte. Der Kutscher versprach, die Koffer am Bahnhof für sie abzugeben. Er notierte sich ihre Namen und fuhr davon.
Martin fasste Caro am Arm: "Lass uns eine Pause einlegen. Setzen wir uns doch in eins der Straßencafes und trinken was. Ein oder zwei Stück Kuchen könnte ich auch vertragen." Er lächelte sie an und seine Augen leuchteten wie die eines Kindes, das gerade ein wundervolles Spielzeug von seinen Eltern erhalten hat: "Ich kann in Bayern so viel Kuchen futtern, wie ich will. Hier brauche ich kein Insulin. Hier gibt es überhaupt keinen Diabetes."
Sie ließ sich von seiner guten Laune anstecken. Gemeinsam schlenderten sie die kopfsteingepflasterten Straßen entlang, die rund um den großen Marktplatz führten. Sie entschieden sich für ein kleines Cafe, vor dem Korbstühle an grün lackierten Klapptischen standen. Sie aßen Käsekuchen und Bienenstich zu einem hervorragenden Kaffee.
Beim Essen schaute sich Caro um. Sie bewunderte die aus verschnörkeltem Gusseisen bestehenden Laternen, die auf hohen Masten die Straße säumten.
"Gaslaternen", erklärte Martin, als er ihren Blick bemerkte. "Abends geht der Gasmann um und zündet sie an. In Homburg und Saarbrücken gibt es bereits elektrische Laternen. In kleineren Ortschaften brennen abends an der Hauptstraße Öllaternen." Er lehnte sich zurück. Er hatte eine dunkelbraune Wollhose an und ein dezent gestreiftes Leinenhemd mit weiten Ärmeln. Auf dem Kopf trug er die Tweedmütze. "Hübsch ist es hier. Gemütlich."
Caro sah an sich herunter. Sie hatte ihr einfaches Blaudruckkleidchen gegen einen Rock aus cremefarbener Baumwolle mit Seidenanteil getauscht und dazu beigefarbene Knöpfschuhe an die Füße gezogen. Sie trug helle Seidenstrümpfe, die über den Waden geschnürt waren. Ihre Bluse aus cremefarbenem luftigem Musselin mit den aufgedruckten winzigen Rosenblüten war leicht wie eine Feder. Das Haar trug sie offen.
Immer wieder bemerkte sie die Blicke vorbei schlendernder Herren. Es machte sie verrückt. Es brachte ihr Herz zum Pochen.
Mit richtig geschnittenen Bäumen als Schattenspender wäre das Cafe noch gemütlicher, dachte sie. Und ein wenig größer dürfte es schon sein.
Sie sah eine Horde Kinder über den Marktplatz tollen. Sie balgten sich um einen Ball. Zwei der Kinder trugen Holzschuhe, wie sie sie aus Holland kannte, die anderen liefen barfuß. Lauthals schreiend zogen sie kreuz und quer über den Platz. Kein Erwachsener störte sich am Lärm der munteren Schar. Niemand blaffte sie an, still zu sein. Alle begegneten den Kindern freundlich.
Hier liebt man Kinder, dachte Caro. Was für ein schönes Land. Kinder ...
Plötzlich hielt sie den Atem an. Kinder!
Wenn ich mich entscheide, hier zu bleiben wie Martin, kann ich selber ...
Sie musste schlucken. Die Erkenntnis überrollte sie wie eine riesige Woge. Sie war eine Frau und als Frau konnte sie selbstverständlich Kinder bekommen. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, als müsse ihr das Herz überlaufen.
Martin winkte dem Kellner: "Lass uns weiterziehen. Wir müssen dir noch ein gescheites Fahrrad kaufen. Ohne bist du hier aufgeschmissen. Du kommst zwar mit der Schmalspurbahn fast überall hin, aber die schönsten Wege sind die ganz schmalen, die durch Feld und Flur führen." Sein Blick wurde weich: "Du müsstest mal mit dem Rad durchs Land fahren, wenn die Obstbäume blühen! Das ist ein Erlebnis, das kann ich dir sagen. Damals mit zwölf habe ich es getan. Ich bin nämlich bereits zum Ende des Winters nach Bayern gekommen. Das steht nicht genau so im Roman."
Er bezahlte für Kaffee und Kuchen und half Caro beim Aufstehen: "Lass uns zum Laden von Meister Hussong gehen. Da hab ich mein Rad gekauft. Er hat eine fantastische Auswahl. Wir nehmen deine Maschine nachher im Zug mit. Wir setzen uns mit unserem Geraffel ins Gepäckabteil der Holzklasse."
Er lotste sie zu einem Fahrradladen von erstaunlich großen Ausmaßen. Derart große Fahrradgeschäfte kannte Caro von zuhause nicht. Aber in Bayern war das Fahrrad ein Hauptverkehrsmittel.
Sie schaute sich alle möglichen Rahmen an. Während die Eule streng auf allerbeste Qualität achtete, suchte sie sich einen Damenrahmen mit doppeltem Unterrohr aus, der in tiefstem Dunkelrot lackiert war mit doppelter Goldlinierung.
Sie suchte sich Gepäckträgertaschen aus Weidengeflecht aus, die innen stabile Einhängetaschen aus Leinenstoff hatten. Die Taschen waren hell und leicht und sahen fabelhaft aus.
Martin sorgte dafür, dass sie eine gute elektrische Beleuchtung für ihr Rad erhielt, sowie einen mechanischen Tacho mit Kilometerzähler. Im Hinterrad hatte das Rad eine Nabenschaltung mit neun Gängen und im Tretlager ein Planetengetriebe für Schnellfahrt im flachen Gelände und Steigfähigkeit im Hügeligen.
Nachdem Caro auf dem Marktplatz eine Probefahrt gemacht hatte, schob Martin das Rad und sie stromerten noch ein wenig durch die Nebenstraßen der Innenstadt.
Caro blieb vor einem Geschäft mit Photoapparaten stehen und gab keine Ruhe, bis sie eine Faltenbalgkamera der allerneuesten Generation erhielt, in die man die ganz neu erfundenen Zelluloidfilme einlegen konnte.
"Die Bilder kannst du überall entwickeln lassen", sagte die Eule. "In Saarlouis und Saarbrücken gibt es genug Photostudios. Ich glaub in Lisdorf ist auch ein Photoladen."
Direkt neben dem Photogeschäft war eine Musikalienhandlung und nun war es Martin, der einkaufen wollte. Er erstand eine Mundharmonika von Seydel in Melodiestimmung und mit doppelten Edelstahlzungen und einem extra Schalltrichter, den man auf die Harmonika aufstecken konnte, damit sie lauter klang.
"Cooles Ding", meinte gutgelaunt, als sie Richtung Bahnhof schritten. "Melodiestimmung, oktav gestimmt und doppelte Stimmzungen. Das Ding klingt wie ein kleines Taschenakkordeon."
Auf dem Weg zum Bahnhof kamen sie an einer Zweigniederlassung der Bayerischen Landbank vorbei. Dort tauschten sie beide einige Silberunzen in die Landeswährung ein und Caro eröffnete ein Kontobuch, auf dem sie gleich einen anständigen Batzen einzahlte. Mit einem solchen Kontobuch konnte man überall im Königreich Bayern Geld abheben oder einzahlen. Im restlichen Deutschland gab es ebenfalls Filialen der Landbank, so dass auch außerhalb der Grenzen des Königreichs Geldgeschäfte möglich waren.
Am Bahnhof wartete ihr Gepäck auf sie. Ein Zug war nicht in Sicht. Laut Fahrplan dauerte es eine gute halbe Stunde bis zur Ankunft der nächsten Bahn. Es warteten bereits einige Leute am Bahnhof. Kinder spielten auf dem Pflaster mit einem Kreisel. Der Reihe nach durfte jedes die Peitsche benutzen, mit der das bunt angemalte Holzspielzeug in Drehbewegung gesetzt wurde.
Caro und Martin standen daneben und schauten zu. Martin zog seine neue Mundharmonika aus der Tasche.
"Kannst du darauf spielen?" fragte Caro.
Er nickte: "Besser als zuhause ... ich meine ... auf der anderen Seite. Weißt schon."
"Besser?"
"Ja."
Sie legte den Kopf schief: "Wie kann das sein?"
"Frag mich mal."
Sie musste lachen. Er konnte echt drollig sein. "Kannst du das Aviatorlied spielen?"
"Sicher doch", meinte er gutgelaunt. "Habe es vor über vierzig Jahren gelernt."
Vierzig Jahre, überlegte sie. Und hier sind knapp sieben Jahre vergangen. Vor vierzig Jahren war er dreizehn und heute ist er ungefähr sieben Jahre älter. Zwanzig.
Da war wieder das Gefühl, dass ihr etwas einfallen sollte. Sie kam nicht drauf. Es war dieses kleine, nervende Gefühl das man manchmal hat, wenn man ins Wochenende fährt. Man denkt: Da war doch was! Dann kam man nach Hause und stellte fest, dass im Badezimmer noch Licht brannte.
Martin steckte den Schallbecher auf die Mundharmonika und setzte sie an die Lippen. (hier die Mundharmonika zum Ansehen: Seydel Fanfare; die gibts wirklich http://www.seydel1847.de/epages/Seydel18...Products/23480C ) Er fing an, eine Melodie zu spielen. Caro lauschte hingerissen. Die Melodie klang fröhlich und melancholisch zugleich. Sie suchte nach einem passenden Ausdruck.
Sehnsuchtsvoll, dachte sie. Genau. Das Lied klingt nach Sehnsucht.
Sie konnte sich problemlos vorstellen, an Bord des Dampfluftschiffes Abendstern durch die Lüfte zu schweben und dem Sonnenuntergang am Horizont zuzuschauen.
Die Kinder hatten den Kreisel vergessen. Sie standen im Halbkreis um Martin herum und lauschten. Zwei Mädchen von zehn Jahren begannen zusammen Walzer zu tanzen.
Kaum war das Lied zu Ende, riefs: "Mehr! Bitte Musik machen! Bittebitte!"
Martin ließ sich nicht lumpen und legte einen flotten Ländler hin, ein schnelles fröhliches Liedchen. Der Junge mit der Kreiselpeitsche schlug auf dem Gusseisengestell einer Sitzbank den Takt dazu. Plötzlich wirbelten mehrere Kinderpärchen im Kreis herum. Auch Erwachsene begannen zur Musik zu tanzen.
Caro konnte sie gut verstehen. Diese Musik ließ es einem unter den Sohlen jucken. Man musste einfach dazu tanzen.
Jemand stand vor ihr und deutete eine Verbeugung an: "Liebes Fräulein? Darf ich Sie bitten?" Eine große starke Hand fasste nach ihrer und zog sie sanft von der Bank hoch.
"Aber ..." Caro geriet ins Stottern. "Ich ... ich kann nicht ..."
Der junge Mann lächelte sie an: "Aber, aber liebes Fräulein! Alle Mädchen können tanzen. Es ist euch angeboren. Bitte, versuchen Sie es doch." Sein Lächeln warf sie um.
Er fing an, sie im Kreis zu schwenken und tatsächlich, Caro konnte ihm folgen. Sie war zu verdutzt, um sich zu fragen, wie das möglich war. Außerdem geschah gerade etwas absolut Außerordentliches und Unglaubliches mit ihrem Herzen. Es fühlte sich an, als würde es sich in ihrer Brust drehen und eine angenehme Leere breitete sich in ihrem Kopf aus. Sie wurde leicht wie ein mit Helium gefüllter Ballon und ließ sich ebenso willenlos wie willig im Kreis herumwirbeln; nein sie wirbelte eifrig mit.
Der schnelle Tanz trieb ihr das Blut in die Wangen und ließ ihr Herz schneller schlagen. Es musste die Melodie sein. Oder war es das Lächeln des Mannes, der mit ihr tanzte. Sie war völlig gefangen von diesem Menschen, den sie zum ersten Mal in ihrem Leben sah. Wie konnte das sein? Was geschah da mit ihr? Was war los?
Sie versuchte, eingehender darüber nachzudenken, aber der Tanz und die schnelle, treibende Musik ließen ihr keine Zeit dazu. Außerdem war ihr Kopf wie leergefegt. Caro bestand nur aus Tanz und einem wild schlagenden Herzen in ihrer Brust.
Es war schön.
Einfach schön.
Caro wünschte sich, die Musik würde nie enden.
Die Melodie wechselte ohne Zwischenstopp in ein anderes Lied. Der schnelle Rhythmus blieb erhalten. Tack-Ta-Tack, schlug der Holzstecken den Takt dazu.
Caro tanzte hingebungsvoll. Sie tanzte zum ersten Mal in ihrem Leben und sie war hin und weg. Sie konnte nicht anders. Plötzlich musste sie einen kleinen Jauchzer ausstoßen. Der fesche junge Kerl packte sie noch fester und wirbelte mit ihr über den Bahnsteig, wobei er gekonnt den durcheinander wieselnden Kinderpärchen und erwachsenen Tanzpaaren auswich.
Weiter! Noch! Weiterspielen!, dachte Caro.
Es sollte nie enden. Nie ...
Ein Bimmeln in der Ferne ließ es enden. Schade. Oh wie schade.
Die Musik stoppte. Die Paare hörten auf zu tanzen.
"Ich danke für den Tanz", sprach der junge Mann zu Caro. Wieder verbeugte er sich: "Es war mir ein Vergnügen. Darf ich um Ihren Namen bitten?"
"C-Caro", stotterte Caro. "Caroline."
"Ich danke Ihnen, Fräulein Caroline." Eine erneute Verbeugung: "Gestatten: Peter. Peter Lange. Ich bin Saarfischer."
Der Zug lief ein. Fauchend und unablässig bimmelnd kam die kleine grüne Dampflok zum Stehen.
Martin fing an, das Gepäck und Caros Rad in den Gepäckwaggon am Ende des Zuges zu schaffen.
"E-Es war schön, Sie kennenzulernen", stammelte Caro. Sie war eigenartig nervös und suchte geradezu verzweifelt nach Worten.
Frag ihn, wo er her ist! Sag ihm deine Adresse! Telefonnummer! Sag doch was, du Trine!
Aber sie brachte kein Wort heraus. Stattdessen folgte sie Peter Lange, der Martin dabei half, das Gepäck zu verladen.
Er kommt mit! Er fährt im Zug mit!
Caros Herz machte einen Riesenhüpfer. Sie glühte förmlich von innen heraus.
Umso herber war die Enttäuschung, als Peter Lange ausstieg und ihr von draußen zuwinkte: "Danke für den Tanz, liebes Fräulein Caroline. Vielleicht sieht man sich irgendwann einmal wieder."
Sie winkte zurück und wollte durch das geöffnete Fenster etwas sagen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Sag was!, schalt sie sich in Gedanken. Herrgott! Mach den Mund auf!
Da ertönte ein schriller Pfiff. Der Zug setzte sich mit Ruckeln und Schnaufen in Bewegung.
Alles was Caro tun konnte, war das freundliche Winken von Peter Lange zu erwidern, bis der Zug in eine Kurve einbog und der junge Mann außer Sicht geriet.
Caro saß da wie erschlagen. Sie nahm ihre Umgebung kaum wahr, die Bänke aus polierten Holzlatten, die Gepäckstücke im Waggon, die Wände aus einfachem Holz.
Was war das?, fragte sie sich. Was ist da passiert? Warum habe ich nicht ...? Wie konnte ich nur ...? Weshalb ...?
Ach! Es war alles so durcheinander. Vollkommen durcheinander. Sie verstand nicht, was los war. Wirklich nicht. Sie fühlte sich traurig und fröhlich zugleich. Sie war aufgedreht wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie hätte laut jauchzen und singen können.
Sie stand auf und lehnte sich aus dem Fenster, um vielleicht doch noch einen Blick auf Peter zu erhaschen. Aber der Bahnhof war außer Sicht.
Mit einem Gefühl tiefer Enttäuschung ließ sie sich auf die Sitzbank fallen.
Die Eule lächelte gutgelaunt: "Er ist Saarfischer."
"Was? Wie?" Caro schreckte aus ihren Gedanken auf.
"Saarfischer", wiederholte Martin. "Die haben die Angewohnheit, in der Saar zu fischen. Die fließt am Flughafen vorbei." Er zwinkerte freundlich: "Wollte ich nur mal so angemerkt haben."

31.10.2014 14:24 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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