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Stefan Steinmetz
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Die großen Steine(3) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Die großen Steine - Kapitel 3

Caro kam neu eingekleidet aus dem Gebäude. Nanu? Wo war Martin? Ein Mann, der länger brauchte um sich Klamotten auszusuchen als eine Frau? Sie grinste.
Sie spazierte zu Martins Flugzeug. Sie hatte noch immer das deutliche Gefühl, neben sich zu stehen. D - E U L E stand auf der Focke Wulf. Hatte ihn wahrscheinlich ein gutes Stück Geld gekostet, diese Kennung zu erhalten.
Ihr Blick fiel auf die Plakette neben dem Tankstutzen. "Diesel-Fuel Only" stand da und irgendeine Zahl.
Darunter fand sie Abkürzungen, die sie nicht verstand. "RÖD 10-07 oder PETR04/b" stand dort in dieser altmodischen Schrift, die man in Omas alter Bibel fand. Frakturschrift nannte man die.
Sie ließ ihre Fingerspitzen über die Schrift gleiten. RÖD ... PETR ... was das wohl bedeuten mochte?
Zwei Hände legten sich auf ihre Schultern: "RapsÖlDerivat Zehn-Nullsieben. Das ist ne Art Biodiesel aus Rapsöl. PETR ist die Abkürzung für Petroleum, also für verschiedene Dieselsorten, die aus Erdöl gewonnen werden. Die Zahlen geben die Güte und Reinheit an und solches Zeugs."
Sie drehte sich zum ihm um und schaute zu ihm auf.
Er lächelte wehmütig: "Ohne diese Plakette hätte ich nie mehr nach Bayern zurückgefunden. Der Alte las es zufällig und hat mir dann den Tipp mit dem Durchgang gegeben."
Caro starrte den Mann an. Da war wieder das Gefühl von Unwirklichkeit. Er war mehr als einen Kopf größer als sie und schlank und muskulös gebaut. Dichtes dunkelblondes Haar bedeckte seinen Schädel. Von der ungesunden Blutdruck bedingten Röte in seinem Gesicht war nichts mehr zu sehen. Vor ihr stand ein junger Mann von vielleicht einundzwanzig Jahren. Es war die Eule. Sie erkannte es an seinen Augen.
Sie schaute ihre Hände an, diese kleinen und zierlichen Hände mit den schmalen Fingern. Sie blickte an sich herab. Sie trug ein einfaches Sommerkleid aus Leinen. Es war Blaudruckstoff mit kleinen weißen Blümchen auf königsblauem Hintergrund. Es schwang im Sommerwind sanft um ihre Waden. Ihre Füße steckten in dunkelbraunen Ledersandalen.
Aus Gewohnheit hatte sie nach Schuhen mit flachen Sohlen gegriffen und die Sandalen ausgewählt. In ihrer Größe gab es nur ein Paar und das hatte nicht gepasst. Sie hatte eine Nummer kleiner probiert und auch die hatten nicht gepasst. Sie hatte probiert und probiert und schließlich die passenden Sandalen gefunden.
Größe 36. Eine Mädchengröße. Genau passend für einen Menschen, der nur einen Meter sechzig groß war.
Martin klopfte mit dem Fingerknöchel auf die Plakette neben dem Tankstutzen seines Flugzeugs: "Ich habe das einfach aus einer Laune heraus machen lassen. Ich kannte die Ausdrücke noch von früher. Es war Nostalgie oder nenn es wie du willst. Aber ohne die Plakette hätte ich nicht zurückgefunden."
Er lächelte schief: "Ich war auf einem Flugzeug-Oldie-Treffen in Süddeutschland. Natürlich schlichen die Besucher um all unsere Flugzeuge herum, wenn sie am Boden standen, um meinen Vogel auch.
Da war der Alte, ein Kerl so um die fünfundsiebzig mit sonnengegerbtem Gesicht. Sah aus wie Indiana Jones im fortgeschrittenen Rentenalter. Der zeigte auf die Aufschrift und meinte: "Aha! Auch gelegentlich im Königreich?" Dazu grinste er wie ein Honigkuchenpferd.
Ich sagte: "Nein. Leider nicht. Schon lange nicht mehr." Ich wusste, der redet vom Königreich Bayern und erzählte ihm alles.
Der Gute erzählte mir dann von dem Durchgang, den du und ich gerade eben benutzt haben und nannte mir die Anflugkoordinaten und die Tage, wenn er offen ist.
Also bin ich bei nächster Gelegenheit durchgeflogen und von da an habe ich mein Silber und jede Menge Sachen hierher gebracht. Ich wusste vom ersten Tag an, dass ich für immer hier bleiben würde. Bald ist es soweit. Der Durchgang steht nur noch für zwei Durchflüge offen. Der Alte hat es mir vorgerechnet. Der kam übrigens in unsere Welt zurück, weil er in Heimaterde begraben werden wollte."
Die Eule zeigte an sich herunter: "Das da wusste ich nicht. Der Alte hat mich noch gewarnt, mich drauf vorzubereiten, dass ich unterwegs möglicherweise ganz fix meine Brille ausziehen muss, weil ich sonst nicht richtig sehen könnte. Mehr sagte er mir nicht. Ich war ganz schön baff, als ich unten war und aus dem Vogel ausstieg.
Ich habe den Mann dann zuhause besucht und nachgehakt. Es käme drauf an, wie alt man beim ersten Mal war und wie die Zeit hier und dort anders verläuft. So ganz habe ich es nicht kapiert. War ja auch wurscht. Hauptsache, ich bin hier in Bayern erst Anfang zwanzig und kerngesund. Kein Diabetes, keine kaputten Füße, kein Bluthochdruck und ich habe sogar Haare auf dem Kopf."
Er schritt einmal um Caro herum: "Das Ergebnis bei dir kann sich erst recht sehen lassen, putzige Lady."
Putzige Lady. Er sagte es schon wieder. Nur dass es jetzt für Caroline ganz und gar anders klang. Es klang richtig.
Sie sah sich drinnen im Gebäude beim Anprobieren von Klamotten. Alles an ihr fühlte sich komisch an, fremd und ungewohnt, aber auf eine unbeschreibliche Art auch richtig.
Da war dieser bodentiefe Ankleidespiegel gewesen. Nur in Unterwäsche war sie davor gestanden und dann hatte sie alles abgelegt und mit vor Staunen geweiteten Augen angeschaut, was der Spiegel ihr zeigte.
Zuerst hatte sie an einen Trick gedacht oder an eine Art Magie. Der Spiegel zeigte, was sie sich immer erträumt hatte. Sie hatte sich überall angefasst, ihren Körper an allen möglichen Stellen berührt und alles was sie im Spiegel sah, war da.
Die kleinen zierlichen Hände, die geradezu winzigen Füße. Die samtweiche Haut. Das schmale Gesicht mit der Stupsnase, der Busen und zwischen ihren Beinen war nicht das, was vorher dort gewesen war. Dort waren keine männlichen Geschlechtsorgane zu sehen. Sie hatte sich dort unten angefasst und alles war weich und zart, eine zarte Spalte und die Berührung dort unten hatte einen feinen hellen Ton aus ihrem Mund fliegen lassen, weil sie ein Schauer durchlief.
Sie hatte die gerundeten Hüften angeschaut, den flachen Bauch mit hoch angesetztem Nabel. Die Brüste. Genau richtig - eine Handvoll. Das hatte sie mal gelesen.
Vor Caroline Uhlig stand nicht ein Mann Ende Vierzig, der durch die Behandlung mit weiblichen Hormonen einen Busen bekommen hatte. Vor ihr stand ein blutjunges Mädchen von höchstens achtzehn oder neunzehn Jahren!
Martin lächelte sie an: "Es ist ein kleiner Schock, nicht?" Sein Lächeln verbreiterte sich: "Aber ein verdammt angenehmer Schock, nehme ich an." Er zwinkerte ihr zu.
Dann zuckte er die Achseln: "Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam. Wenn ich als Teenager meinen Durchgang benutzte, spürte ich wohl eine kleine Veränderung, aber es gab keine sichtbaren Zeichen. Ich fühlte mich einfach besser, wenn ich hier in Bayern ankam. Ich schrieb es der sauberen Luft zu und dem Gefühl von Befreiung."
Er fasste nach ihrer Hand: "Gehen wir ein Stück. Meiner Karre passiert nichts. Hierzulande steigt man nicht einfach so in fremder Leute Flugmaschinen." Er lächelte breit. "Erst recht nicht, wenn sie nicht von einer Dampfmaschine angetrieben werden. Mein Dieselmotor ist den guten Leutchen ein wenig unheimlich."
Sie spazierten an den riesigen Luftschiffhallen vorbei. In einigen schwebten Schiffe, manche so groß wie die Hindenburg. Manche schienen sogar noch größer zu sein. Es gab auch kleinere. Sie sahen zu, wie eines aufstieg. Die recht kleine Dampfmaschine des Blimps knatterte und setzte eine einzige Luftschraube in Bewegung.
Caro hatte noch immer das Gefühl, im falschen Film zu sein. Sie war vollkommen fassungslos.
Ich bin eine Frau! Ich bin eine blutjunge Frau!
Sie fürchtete, jeden Moment aufzuwachen - aufzuwachen aus einem wundervollen Traum.
Es war ungewohnt, in einem Mädchenkörper zu gehen. Der Boden war näher, weil sie kleiner war und etwas war mit ihren Augen passiert. Sie konnte mehr sehen - irgendwie. Ihr fiel das Buch ein, dass sie gelesen hatte. Männer hatten Teleaugen, ein schmales Gesichtsfeld und Augen, die dazu geschaffen waren, am Horizont Beute auszumachen. Frauen hatten Weitwinkelaugen. Mit einem einzigen Blick erfassten sie die gesamte nähere Umgebung.
Auch die Farben waren anders. Sie erkannte mehr Nuancen in jeder einzelnen Farbe.
Sie schaute zum Fluss hin. Die Saar. Der Fluss der dem Saarland seinen Namen gegeben hatte. Nur dass das Saargebiet hier zum Königreich Bayern gehörte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses fuhr ein Dampfzug vorbei. Er bestand aus braunen Waggons und wurde von einer dunkelgrünen Lokomotive gezogen. Caro kannte sie von Bildern, die die Waldohreule in ihre Geschichten über Bayern eingebettet hatte. Es war eine bayerische S2/6 mit riesigen dunkelroten Treibrädern.
"Es ist alles wahr", sagte sie. Sie hatte ihre Stimme wiedergefunden. Sie machte eine Geste, die die gesamte Gegend umfasste: "Alles ist wahr."
Martin lächelte: "Ja. Ich habe nicht gelogen. Das Königreich Bayern existiert; eine Parallelwelt, die man durch bestimmte Durchgänge betreten kann - wenn sie einen durchlassen. Es kommt nämlich nicht jeder durch. Das hat der Alte mir erklärt. Der hat die Durchgänge erforscht. Man wird beim Passieren irgendwie geprüft. Geht alles glatt, kommt man durch. Wenn nicht landet man einfach ein paar Schritte weiter hinten in der Welt, in der man lebt."
"Es ist alles wahr", sagte Caro noch einmal. Sie schaute zu Martin hoch: "Der Durchgang bei der Bahnlinie in Schafbrücke, den Melissa benutzt? Gibt es den auch?"
Er schüttelte den Kopf: "Erfunden."
Schade. Doch sie musste fragen: "Und Melissa?"
Er schaute bedauernd drein: "Leider auch erfunden. Melissa entstammt meiner Phantasie, ebenso wie der Quadrathammel. Aber das Blausteingebirge existiert. Ich habe durch ein Schulbuch davon erfahren."
"Auch über das Ritual mit den hohen Masten?"
Erneutes Kopfschütteln: "Nein. Die Bergmenschen hüten ihr Geheimnis ziemlich gut. Aber eine Verbannte aus den Bergen, die hier im Saarland lebte, hat es mir unter dem Mantel der Verschwiegenheit erzählt. Sie dachte wohl, einem von draußen könne sie es anvertrauen.
Ich bekam vielleicht heiße Ohren! Ich habe mich ja damals schon fürs Fesseln interessiert und da erzählt mir ein älteres Mädchen, dass es an so einen Mast gebunden worden war. Na ja, fünf Stunden heulen und wimmern war nicht das, was ich mir wünschte. Aber ein bisschen gefesselt werden, das hätte mir schon gefallen; erst recht an so einem Mast.
Und dann noch dieses unglaubliche Wesen aus einer anderen Welt! Etwas das aus lebendem Lehm und einem Skelett aus Steinen besteht. Eine mineralische Lebensform. Das fand ich tierisch cool. Klar, dass ich das in "Melissas Sehnsucht" einbaute. Alle anderen Gegenden, die ich in dem Roman beschrieb, existieren ebenfalls. Ich habe mir ein großes Buch mit nach Hause genommen und immer wieder drin gelesen. Es war reich bebildert."
"Aber die Personen, die in deinen Romanen mitspielen, sind erfunden?" hakte Caro nach.
Er nickte: "Ja. Allesamt erfunden. Nimm die Luftschiffreise nach America. Die Legende von Amerigo Vespucci existiert wirklich und hier gibt es Dinge, die angeblich aus Ägypten stammen, aber wir wissen beide, dass Meerschweinchen aus Südamerika kommen."
"Melissa ist nur erfunden. Schade. Ich mochte sie."
"Das war deinen Kommentaren anzumerken, die du unter die Kapitel geschrieben hast."
"Sonja Fitz und die Geisterkinder von Mönchwies ist auch nicht echt?"
Er schüttelte den Kopf: "Ich habe eine alte Legende ausgeschlachtet."
"Und Heidi gibt es ebenfalls nicht?"
Martins Gesicht verdüsterte sich.
"Martin?" sie fasste nach seiner Hand: "Habe ich etwas Falsches gesagt?"
"Nein!" Er schüttelte den Kopf. Mit einem Mal sah er zehn Jahre älter aus. "Heidi ...", sagte er und seine Stimme klang rau, "Heidi gibt es wirklich."
"Aber ... ich verstehe nicht ... was ist daran so ..."
Er schaute sie an und sie erkannte tiefe Traurigkeit in seinen Augen: "Der gesamte Roman ist echt, Caro! "Der Durchgang" ist bis kurz vorm Schluss nichts als Wirklichkeit. Das hat sich vor gut vierzig Jahren tatsächlich abgespielt. Dass die schrecklichen Erlebnisse des knapp dreizehnjährigen Martin Welter in unserer Welt Realität waren, weißt du ja. Aber die Erlebnisse im Königreich Bayern waren auch real. Alles spielte sich so ab, wie ich es geschrieben habe. Bloß dass dieses ominöse Berichtsheft nie geschrieben wurde. Ich hatte es vor, habe es aber nie gemacht."
Caro schaute den Mann an. Etwas Schlimmes musste sich zugetragen haben, sonst würde er nicht so schrecklich aussehen: "Was ist passiert?"
"Kapitel 34", antwortete er. "Erinnerst du dich? Gleich zu Anfang diese Szene mit Heidi und Martin frühmorgens am Ortsrand. "Geh nicht!" flehte sie. Sie hat mich angefleht. Sie hat gebettelt. Sie hat geweint. Sie hatte furchtbare Angst." Martin holte tief Luft: "Aber ich bin gegangen. Ich musste einfach mein Silber holen. Ich Trottel! Warum habe ich es nicht früher in kleinen Portionen mit nach Bayern geholt! Aber es gab auch noch gewisse Dinge zu regeln. Der Besuch auf dem Friedhof unter anderem. Ja und dann war alles perdu."
"Sie sind dir auf die Schliche gekommen? Bist du im Erziehungsheim gelandet?"
Wieder schüttelte er den Kopf: "Nein, Caro, es war viel banaler. Ich habe meinen Rucksack mit meinem Silber vollgepackt, ein paar Fotos dazu getan und bin nach Homburg zum Bahnhof geradelt. Der Durchgang war weg."
"Weg? Hatte er sich geschlossen?"
"Weggebaggert! Als ich kurz vor zwölf dort ankam, wüteten Baumaschinen an der Stelle, wo die zwei Betonpfosten auf der Wiese gestanden hatten." Martin seufzte schwer. "Er war verschwunden. Ich bin immer wieder hin und als die Baumaschinen weg waren, bin ich in die Baugrube. Die war nicht tief. Ich lief immer wieder dort entlang, wo der Durchgang gewesen war, aber ich kam nicht nach Bayern. Der Durchgang war verschwunden. Ich habe beinahe durchgedreht. Ein Jahr später bin ich kreuz und quer über den Parkplatz, den die da hin gebaut hatten. Nichts. Der Durchgang war fort. Zerstört."
Caro verspürte tiefes Mitgefühl: "Und seitdem konntest du nicht mehr nach Bayern?"
"Leider nicht", antwortete er. "Ich wusste, dass es noch andere Durchgänge gab. Dieses Inserat der beiden Mädchen, die in Süddeutschland in diesem Blatt Grüße bestellt hatten; das habe ich damals mit dreizehn Jahren gelesen. Aber ich hatte natürlich Null Ahnung, wo das genau war.
Blieb nur noch der Durchgang zu den großen Steinen, doch den fand ich nie."
"Große Steine?"
Martin gab ein seltsames Geräusch von sich. "Ich weiß bis heute nicht, ob es real war oder ein Traum. Ich glaube fast, ich habe das nur geträumt. Weil ich meine Mutter als Zehnjährige diesen Durchgang benutzen sah. Sie lief im Wald zwischen zwei Hügeln hindurch und kam irgendwo auf einem Platz raus, wo riesige Steine lagen." Er wedelte mit der Hand. "Aber dann sagte ich mir, das hast du geträumt Martin und zwar weil dir deine Mutter davon erzählt hat, als du noch sehr klein warst."
Er schaute sie an: "Ich weiß bis heute nicht, ob es so war. Jedenfalls habe ich zuerst in Neunkirchen gesucht und nichts gefunden, oben am Schloss, wo meine Großeltern früher wohnten. Dann kam ich drauf, dass meine Mutter ja auf der Papiermühle in der Nähe von Saarlouis aufwuchs. Die zogen dort erst weg, als sie zehn Jahre alt wurde. Vielleicht hat sie den Durchgang dort entdeckt, sagte ich mir. Ich habe ziemlich viele Radtouren in die Gegend rund um die Papiermühle gemacht. Gefunden habe ich nichts. So wie meine Mutter erzählt hat, muss der Platz auch ziemlich gruselig gewesen sein. Alles war voller Nebel und es war kalt und dann diese riesigen, einschüchternden Steine."
"Dann hast du diesen älteren Mann getroffen und der hat dir von dem Durchgang erzählt, durch den wir hierher geflogen sind?" fragte Caro.
Martin nickte: "Ja. Der steht alle vierzehn Tage offen und demnächst schließt er sich für zwanzig Jahre. Manchmal denke ich, der Durchgang in Homburg hatte auch solch einen Rhythmus. Stand vielleicht ein oder zwei Jahre offen und hat sich dann für eine gewisse Zeit geschlossen. Vielleicht hatte es überhaupt nichts mit der Baustelle zu tun. Er hatte sich geschlossen. Vielleicht nur für ein Jahr oder für fünf. Ich habe keine Ahnung."
Caro musste die Frage stellen. Sie konnte nicht anders. "Als du dann zum ersten mal durchgeflogen bist, hast du Heidi gesucht?"
"Ja. Ich fand sie in der Fischersiedlung." Martin blickte sie mit brennenden Augen an: "Sie hatte ein eigenes Haus, war verheiratet und hatte ein Kind." Er seufzte: "Fischerkinder heiraten früh."
Caro verstand. Die Liebe von Heidi und Martin hatte keine Chance gehabt, wieder erweckt zu werden.
"Das Schlimmste war, dass sie wirklich auf mich gewartet hat", fuhr Martin fort. "Jahrelang hat sie gewartet. Sie dachte, ich sei im Erziehungsheim gelandet und wenn ich erwachsen war, würde ich zurück kommen. Sie dachte natürlich, dass man bei uns auch mit achtzehn erwachsen ist wie in Bayern. Die Gesetze wurden ja auch entsprechend geändert. Ja und dann hat sie noch ein Jahr zugewartet. Dass die Zeit draußen in meiner Welt so ganz anders lief, wusste sie nicht. Ich wusste es ja nicht mal selber. Ich habe das nie verstanden. Ich konnte einen ganzen Tag in Bayern bleiben und draußen waren gerade mal eine oder zwei Stunden vergangen. Aber komischerweise: wenn ich nach einer Woche wieder hinging, war auch dort drinnen nur eine Woche vergangen in Bayern. Der Alte hat was von Zeitphänomenen gesagt. Verstanden habe ich nichts. Das war mir zu hoch. Aber Heidi und ich sind immer noch genau gleich alt. Sie ist Anfang Zwanzig."
Wieder seufzte er. "Wir haben uns ausgesprochen. Ich habe ihr erzählt, dass der Durchgang plötzlich weg war und wartete drauf, das sie darauf herumreitet, dass ich ja unbedingt hatte noch einmal zurückkehren müssen wegen der blöden Silbermünzen. Aber das hat sie nicht getan. So ein Mensch ist sie nicht. Wir schieden als gute Freunde."
Martin Welter schaute zu Boden. Es sah aus, als sei das Gewicht seines Schädels zu schwer für seinen Hals: "Ich bin dann noch einmal umgekehrt, bin über die Plankenwege gegangen, zurück zu ihrem Häuschen auf Pfählen. Ich wollte sie noch ein letztes Mal sehen, denn es war klar, dass es kein Wiedersehen mehr geben würde.
Es war fürchterlich. Sie saß an ihrem Tisch auf der Veranda vor dem Haus, hatte den Kopf auf die Arme gelegt und weinte, wie ich noch nie einen Menschen habe weinen hören. Es zerschnitt mir das Herz.
Es war ein Gefühl, als ob ich innerlich sterbe. Ich habe mich davon geschlichen und bin nie wieder zurück zur Fischersiedlung. Wozu auch? Es hätte uns beiden nur schrecklich wehgetan."
"Mein Gott, Martin!" Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. "Wie furchtbar! Es tut mir so Leid. Wirklich."
"Danke." Mehr sagte er nicht. Sie verstand ihn gut. In seinem Innersten musste alles wund sein. Arme Eule. Das Schicksal konnte manchmal grausam sein.
Martin gab sich einen Ruck. "Hören wir auf mit der Miesepeterei", sagte er. "Ich habe dich nicht nach Bayern geschleppt, um dir die Laune zu verderben. Lass uns ein Häuschen mieten. Am Rand des Flughafens gibt es welche. Alle Flugplätze Bayerns haben welche zum Mieten. Die Schiffsbesatzungen leben gerne in richtigen Häusern, wenn sie gelandet sind. Auf den Schiffen ist es doch etwas beengt.
Leider können wir nicht auf meinem Hof logieren. Da ist alles im Rohbau. Nix ist fertig. Wenn ich demnächst für immer hierbleibe, muss ich in einer Holzhütte leben, bis das Haupthaus fertig ist."
"Du hast einen Hof?" Sie schaute ihn an: "Lass mich raten: Einen Selbstversorgerhof?"
"Na sicher doch. Mein Lebenstraum. Ein riesiger Bauerngarten mit Gemüse, Salat, Beerensträuchern und daneben eine Obstplantage. Die war schon teilweise da. Die Bäume aber waren verwildert. Ich habe angefangen, sie zu schneiden und neue zu pflanzen. Wenn du willst, können wir nachher mal hin spazieren. Es ist nicht weit. Wir nehmen ein Boot, das uns übersetzt. Dann müssen wir nicht bis runter zur Staustufe latschen. Dort führt eine Straße über die Saar. Kannst du dir schon mal merken, wenn du Ausflüge machen willst.
Wir müssen dir unbedingt ein Fahrrad besorgen. Ich habe meins in einem Schuppen beim Flugfeld abgestellt."
Sie kamen zu einer Reihe putziger Häuschen aus roten Ziegelsteinen. Es gab sie in verschiedenen Größen. Martin mietete zwei winzige Häuschen, die direkt nebeneinander standen.
"So hat jeder seine Privatsphäre", meinte er. Er grinste schalkhaft. "Es gibt Frauen die behaupten, ich würde schnarchen. Kann nicht sein! Ich habs noch nie gehört!"
Er zeigte Caro ihr Häuschen. Es war klein aber gemütlich eingerichtet mit schmucken Holzmöbeln. Die Küche war ein Traum in hellen Pastelltönen.
"Alles da, was man braucht", meinte die Eule. "In den Schubladen findest du Besteck und in den Schränken Töpfe und Pfannen. Holz zum Feuern des Küchenofens liegt hinterm Haus im Anbauschuppen. Man erwartet dafür übrigens eine kleine Spende zusätzlich zur Tagesmiete." Sein Grinsen war breit: "Ist für dich ja kein Problem - finanziell, meine ich."
"In deinen Romanen steht, die Münzen hierzulande sind sehr klein."
"Morgen gehts nach Saarlouis. Wir müssen Klamotten besorgen und Geld auf der Bank wechseln. Vielleicht willst du dich sogar anmelden, nur für den Fall."
"Für welchen?" Sie wusste genau, was er meinte, wollte es aber von ihm hören.
"Für den Fall, dass du auch hier bleiben möchtest, Caro." Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß: "Wie ich es sehe, ist das ziemlich wahrscheinlich, oder?"
Caroline schluckte. Sah man es ihr so deutlich an? Wahrscheinlich.
Was wäre, wenn?, fragte sie sich, während sie das Häuschen abschlossen und in Richtung Flussufer spazierten. Über ihnen dampfte ein Zeppelin durch den Himmel in Richtung Süden. Was würde ich denn zuhause zurücklassen? Letzten Endes nur mich selbst, oder? Ich würde das von mir zurücklassen, das ich sowieso längst abgelegt habe.
Sie würde eingehender darüber nachdenken müssen.
Auf dem Weg zur Saar tastete sie nach dem Zigarettenpäckchen in ihrer Tasche. Sie hatte die Kippen eingesteckt, spürte jedoch keinerlei Bedürfnis danach, sich eine anzustecken.
Das blieb auch in den folgenden Stunden so, während Martin Welter ihr sein Hofgut auf der anderen Saarseite zeigte. Er führte sie durch die verwilderten Gärten und zeigte ihr die Obstbäume. Es gab alles: Mirabellen, Kirschen, Äpfel, Birnen, Zwetschgen.
Martin hatte aus ihrer Heimatwelt so genanntes Säulenobst mitgebracht.
"Das hat ein paar Touren gedauert", sagte er. "Es passte ja nicht viel hinter den Pilotensitz und in die kleinen Gepäckbuchten im Flugzeugrumpf. Hier kennen die solche Bäume nicht, die einfach nur als Säule bis in zwei Meter Höhe wachsen, ohne Seitentriebe. Ich habe vor, die zu züchten und zu verkaufen. Ich will mir auch einen Anschluss an die Schmalspurbahn bauen. Neben der Regelspur gibt es hier überall die 600mm-Feldbahn. Die fährt überall hin. Demnächst kann ich vielleicht noch Land dazukaufen. Dann könnte ich auch Felder anlegen. Es geht um rund fünfzehn Hektar. Das Land gehört einer Erbengemeinschaft in Neunkirchen. Die habe ich angeschrieben, ob sie willens sind, gegen einen angemessenen Preis zu verkaufen."
"Willst du auch Tiere halten?" fragte Caro auf dem Rückweg. Mittlerweile hatte sie den Hüftschwung beim Gehen raus. Es fühlte sich fantastisch an, wie eine richtige Frau zu gehen. Sie war eine. Durch und durch.
"Klar doch", antwortete Martin. "Ich fange klein an: Hühner und Kaninchen und ich will einen Hund - einen Kampfhund!"
Sie schaute zu ihm auf: "Einen Kampfhund? So was gibt es hier?"
Er nickte: "Jawoll! Und ich krieg einen. Einen Mops!"
Sie lachten beide.
Caron war gelöst. Sie fühlte sich unbeschreiblich wohl. Sie schaute alles an, die breiten Feldwege, die zumeist im Naturzustand belassen waren, gepflasterte Straßen, vorbeifahrende Kutschen und Radler auf Maschinen, die aussahen wie aus Großvaters Zeiten. Die Leute, die sie unterwegs trafen trugen Sachen, die so richtig schön retro aussahen und Caro sah keine einzige Frau in Hosen. Alle trugen Röcke oder Kleider. Die Menschen grüßten alle freundlich. Caro fühlte sich willkommen in diesem schönen Land. Es war alles so, wie sie es sich beim Lesen immer vorgestellt hatte.
An der Saar machten sie eine kurze Rast und schauten den vorbeifahrenden Dampfschiffen zu. Es gab Schaufelraddampfer aber auch welche mit Schraubenantrieb. Dazu waren viele kleine Boote unterwegs. Manche wurden von kleinen Dampfmaschinen angetrieben, andere waren Segelboote.
"Ist das nicht wunderschön?" fragte Martin. Er stand neben ihr. "Allein deswegen hat es sich gelohnt, wieder zurückzukommen. Das mit dem Verjüngern ist natürlich die Schlagsahne obendrauf. Es hat damit zu tun, wie alt man beim ersten Durchgang war, hat der Alte gesagt."
"Der Durchgang ist alle vierzehn Tage offen?" fragte Caro. Sie winkte einem Ausflugsboot. Die Leute winkten fröhlich zurück.
"Alle vierzehn Tage", bestätigte Martin. "Aber nur noch zweimal. Dann ist er für zwanzig Jahre dicht. Die Viecher da drin scheinen das zu fühlen. Am Anfang war nicht so viel los, aber seit einiger Zeit kreucht und fleucht da immer mehr Viehzeugs herum. Diese Lebensformen spüren wohl, dass es zu Ende geht."
Er winkte einem einsam dahingleitenden Ruderboot: "Ahoi! Können Sie uns bitte übersetzen?"
Der Ruderer kam ans Ufer und lud sie ein, in seinem Boot auf die andere Seite überzusetzen. Martin gab dem Mann ein paar Goldmünzen.
Auf dem Weg zurück zu ihren gemieteten Häuschen dachte Caro dauernd an etwas, das am Rande ihres Wahrnehmungsvermögens schwebte. Es war wie bei einem Kreuzworträtsel, wenn einem ein Wort partout nicht einfallen wollte, obwohl es einem auf der Zunge lag.
Da war irgendetwas, doch sie kam nicht drauf.

31.10.2014 15:23 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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