Registrierung PM-BoxMitgliederliste Administratoren und Moderatoren Suche Häufig gestellte Fragen Zur Startseite  

Stefans Geschichten » Willkommen auf der Homepage von Stefan Steinmetz » Die kleine Privat-Ecke » Die Heimstadtreihe » Die Heimstadtromane » Der Auszug aus Heimstadt (ENDFASSUNG) » Der Auszug aus Heimstadt(4) » Hallo Gast [anmelden|registrieren]
Druckvorschau | An Freund senden | Thema zu Favoriten hinzufügen
Neues Thema erstellen Antwort erstellen
Autor
Beitrag « Vorheriges Thema | Nächstes Thema »
Stefan Steinmetz
Administrator




Dabei seit: 10.02.2006
Beiträge: 1738

Der Auszug aus Heimstadt(4) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

11.

Oberpriester Volta ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und begann zu schreiben:
Zwischenbericht 16A
4. Dekade 980n.A.

Gott unserem Herrn sei Ehre und Dank!
Er spendet uns Leben!
Er gibt uns Kraft im Glauben!
Durch ihn erfahren wir das wahre Paradies!
Gott schütze Heimstadt!
Ratspriester Fohler, der vor drei Monaten in den inneren Kreis aufgestiegen ist, macht seine Sache wunderbar. Er ist zu einem unschätzbaren Mitarbeiter in der Sache der Heimkirche geworden. Den anfänglichen Schock nach der Offenbarung, dass die Oberfläche wieder bewohnbar sei, hat er schnell überwunden.
Sein Glaube und das Wissen, dass die Macht der Heimkirche niemals angezweifelt werden darf, halfen ihm dabei. Schließlich dürfen wir nicht zulassen, dass unsere guten Gläubigen noch oben ins Freie gehen und mit den Barbaren in Kontakt treten. Der Umgang mit diesen heidnischen Wilden würde ihnen den Eintritt ins Paradies verwehren, den die Leute an der Oberfläche weigern sich, an die allein seligmachende Heimkirche zu glauben!
Deshalb darf niemand außerhalb unseres inneren Kreises jemals erfahren, dass es theoretisch möglich ist, an der Oberfläche zu leben. Wir müssen unsere Schäflein vor den verderblichen Einflüssen der Barbaren fernhalten. Aus diesem Grunde sind wir gezwunden, ihnen die Wahrheit über die Oberfläche zu verschweigen, denn sie sollen weiterhin in den gütigen segenspendenden Armen der Heimkirche Trost und Frieden finden.
Uns, der wir dem inneren Kreis angehören, fällt die schwere Aufgabe zu, mit den Barbaren zu verhandeln. Leider sind wir seit zwei Generationen darauf angewiesen. Unsere Erzminen sind leer und voller taubem Gestein. Wenn Heimstadt wachsen soll, brauchen wir die Barbaren der Oberfläche und die Erze, die sie uns bringen.
Ein Seitwärtsbohren über den Rand der Sektoren hinaus ist praktisch unmöglich, weil das umgebende Gestein zu weich und bröselig ist. Natürlich könnten gestützte Tunnel gebaut werden, die bis zur nächsten harten Gesteinsschicht führen. Dort könnten dann neue Sektoren entstehen, aber dann wären die Gläubigen, die diese Sektoren bewohnen, weit entfernt von der Anleitung und der behütenden Fürsorge der Heimkirche. Dann wäre es für die Priesterschaft schwierig, ihrer Aufgabe als Seelsorger nachzugehen, da die Gläubigen zu weit außerhalb der beschützenden Umarmung der Heimkirche wären. So sind wir also auf die Barbaren angewiesen.
Zum Lohn für ihre Dienste erhalten sie von Heimstadt kostbare elektrische Energie. Wir liefern ihnen genug Strom, damit sie ihre armseligen Hütten im Winter beheizen können, so dass ihnen nicht ihre Kinder erfrieren.
Doch am Horizont braut sich eine Gefahr zusammen! Als Ratspriester Mirkel vor einer Woche von seiner Mission an der Oberfläche zurück kehrte, berichtete er von Fremden, die zu den Barbaren vorgestoßen waren. Sie gaben an, aus einer fernen Stadt namens Lutvigshaven zu kommen. Lutvigshaven sei eine reiche Groqtadt mit über zehntausend Einwohnern an dem Fluß Rain und die zweitgrößte Stadt der LIGA. Die LIGA ist ein Zusammenschluss aller Städte und Siedlungen im Umkreis von etwa dreihundert Kilometern.
Diese Leute brachten den Barbaren kleine Generatoren mit, die mittels Windpropellern Strom erzeugen. Dazu seltsame blauschimmernde Täfelchen, die sie Solarzellen nennen. Sie wandeln angeblich das Licht der Sonne in elektrische Energie um. Welche Blasphemie!
Aber das ist nun einmal bedenklich für uns. Vielleicht muss Heimstadt umdenken und den Barbaren Zugeständnisse machen. Es wird schwierig, den kleinen geheimen Lastenaufzug, der vom obersten Stockwerk zur Oberfläche führt, weiterhin geheim zu halten. Nur der innerste Kreis darf davon wissen. Die große Schleuse ist immer noch inaktiv. Zu groß ist die Gefahr, dass einfache Gläubige etwas merken könnten.
Heimstadt darf nicht untergehen!!!
Heimstadt ist der Vorhof zum Paradies für mehr als achttausend Gläubige! Wir dürfen diesen Menschen die Oberfläche und mit ihr die Versuchungen des Satans nicht zumuten!
Ich habe die alten Schriften studiert. Vor rund dreihundert Jahren, als die Lebensbedingungen an der Oberfläche wieder zuträglich wurden, erhob sich im Rat der Heimkirche eine Gruppe von Priestern, die ihre Schäflein ins Draußen führen wollten. Damit die neue Zivilisation auch Überlebenschancen habe, planten sie, zuerst über zwei Generationen lang die Menschen von Heimstadt zu vermehren, denn damals lebten nur 1800 Leute in den sektoren. Um in fremder Umgebung Fuß zu fassen, musste unser Volk größer werden, dachten sie.
So zogen sie die alten Heimbibeln nach und nach ein und gaben neue heraus, in denen das Gebot achset und mehret euch!“ zum obersten Leitsatz des Glaubens wurde. Sie schafften die schändliche Geburtenregelung entgültig ab und siehe, die Bevölkerung Heimstadts wuchs in gottgefälligem Maße.
Aber nach vielen Jahren überdachten weise Priester noch einmal genau die Angelegenheit. Sollte man die reinen Seelen der Menschen Heimstadts wirklich nach draußen schicken? In ein Land, das ihnen Zeit ihres Lebens ein Schrecken und ein Greuel war?
Was sollte geschehen, wenn die Menschen annähmen, das Wissen um die Wiederbewohnbarkeit der Oberfläche sei von der Heimkirche absichtlich zurück gehalten worden? Dies konnte zu einem enormen Vertrauensverlust führen! Sollte man das Volk Heimstadts wirklich in dieses weite, unerforschte Land entlassen, von dem niemand genau sagen konnte, dass es wirklich aus den gierigen Klauen des Satans befreit sei?
Und würden die Menschen sich nicht zerstreuen an der Oberfläche und damit fern sein dem heiligen und alleinseligmachenden Einfluss der allbehütenden Heimkirche? Konnte dies zugelassen werden?
Nein! Nein! Und nochmals Nein!!!
Die Heimkirche musste die unschuldigen Seelen der Bürger Heimstadts vor den üblen Versuchungen des Satans bewahren!
Und so beschlossen also jene weisen Priester, nichts von den geänderten Verhältnissen an der Oberfläche zu erzählen. Seitdem geben die Priester des inneren Kreises dieses Geheimnis von Generation zu Generation weiter.
Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Bewohner Heimstadts vom Draußen erführen!
Die Macht der Heimkirche würde zusammen fallen wie ein Kartenhaus! Daher dürfen sie es niemals erfahren!
Ehre sei Gott, der Heimstadt beschützt!
Volta war fertig mit Schreiben. Er legte das auf einen großen Bogen Papier geschriebene Schriftstück auf den Scanner seines Computers, der es ablas und für Nichteingeweihte unzugänglich speicherte.
Zufrieden mit seiner Arbeit verließ der Oberpriester sein Arbeitszimmer.
Er bemerkte nicht, dass das große Blatt Papier beim Zuschlagen der Tür vom Schreibtisch herunterfiel und genau im Papierkorb landete.
Später, als er es nicht mehr vorfand, nahm er an, er habe es bereits vernichtet.




12.

Das Tagebuch des Dieter Müller
04. Juni 2048

Die Jungen sagen neuerdings: Wir haben das Jahr 52 n. A. – das Jahr 52 nach dem Atomkrieg. Meine Birgit hat mich vor einem Jahr verlassen und ging ins Paradies ein, wie sie fest glaubte. Ich bin alt geworden und müde.
Unsere Melissa ist längst selbst Mutter und wohnt jetzt in Sektor 2, den die Leute der wissenschaftlichen Ingenieursgilde in vielen Jahren harter Arbeit unter dem alten Sektor anlegten. Noch ist er nicht fertig Er soll genau so groß werden wie Sektor 1. Den alten Bunker haben sie mächtig verbreitert. Jetzt haben sie viel mehr Platz für neue Menschen. Noch gibt es eine Geburtenkontrolle, aber die Kirche streitet es ab. Sie sagt, dass Gott alles lenke.
Dass ich nicht lache!
Frank Jenkens, der Leiter der medizinischen Abteilung hat mir verraten, daß jetzt jede Familie mindestens zwei Kinder haben darf. Danach werden die Eltern auf heimlichem Wege sterilisiert. Es gibt ein Medikament, das eingespritzt wird. Woher wollen die Leute wissen, ob die Injektionen, die sie ab und an kriegen wirklich gegen Tetanus oder Grippe ist?
Die Macht der Kirche manchmal nennt man sie jetzt Heimkirche nimmt weiter zu.
Vor drei Monaten etwa fanden die politischen Helfer der Priester kurz Polits genannt heraus, daß fünf Leute aus dem wissenschaftlichen Zirkel trotz der allgemeinen Ablehnung heimlich eine regelmäßige Funkverbindung mit jenem Bunker in den Vogesen aufrecht erhielten. Als sie gestellt wurden, gaben die Männer zu, eine Flucht aus dem Bunker geplant zu haben. Mit einem strahlengeschützten Geländekriecher wollten sie sich zu den Vogesen durchschlagen, weil ihnen das Klima im Bunker nicht mehr passte. Man solle sie in Frieden ziehen lassen, verlangten sie.
Ich erinnere mich noch gut an die sich überschlagende, keifende Stimme von Priester Welser: "So,so! Heimstatt verlassen wollt ihr? Von wegen! Ich weiß es besser! Jahrelang habt ihr mit dem Satan komuniziert und mit ihm und seinen Dämonen die Vernichtung Heimstatts geplant! Ihr wollt nach draußen, um den Teufel anzulocken und ihm den Weg zu uns weisen! Ihr wollt, daß der Satan mit seinen dunklen Horden in Heimstatt einfällt! Ihr seid gegen das Volk! Und wer gegen das Volk ist, gegen den ist das Volk! Ihr seid nichts als üble Schädlinge in unserer Mitte, eine Natternbrut, die sich an unseren reinen Herzen nährt!"
Er peitschte die Zuhörer auf, bis sie brüllten, man solle den fünf Quertreibern das Fell abziehen. Die Verräter seien hinzurichten.
Ei wie glänzten da Welsers Augen! Er war aber so schlau, auch dieses Mal eine sogenannte demokratische Abstimmung durchführen zu lassen. Der tobende Mob verlangte die sofortige Exekution der fünf "Ketzer". Welser meinte scheinheilig, ein Priester dürfe seine reinen Hände nicht mit Blut beflecken, auch nicht, wenn es für eine gerechte Sache sei. Er überantwortete die fünf Verurteilten den Polits.
"Wenn sie so sehr nach der Oberfläche, dem Lande Satans gieren, dann lasst sie in Gottes Namen dorthin gehen!" schrie er. "Aber der Geländekriecher bleibt hier! Er ist Eigentum der Volksgemeinschaft Heimstadts und gehört uns!"
Die Polits zwangen die fünf Unglücklichen durch die Schleuse nach draußen zu gehen, ohne Schutzbekleidung. Natürlich hatten sie nicht die allergeringste Chance. Die Strahlung hat in den letzten fünfzig jahren nur wenig nachgelassen. Ich nehme an, daß sie keine zwei Tage überlebten. Seitdem sagt keiner mehr ein Wort gegen die Priester.
Die Polits passen auf wie Schießhunde. Sie kommen mir vor wie Hitlers Gestapo. Sie haben sich auch angewöhnt, in schwarzgefärbten Uniformen herum zu laufen. Die wenigen, die noch gegen die Kirche sind, schweigen aus Angst um ihr Leben. Der Rest macht den ganzen Mist mit. Die Kirche predigt nun noch intensiver, daß Heimstadt der einzig sichere Platz auf der Erde ist, ja sie behaupten, Heimstadt sei von Gott geheiligt. Sich mit der Oberfläche zu befassen, sei Sünde. Dort regiere der Teufel. Schließlich sei die alte Welt untergegangen, weil sich die Menschheit vom Satan blenden ließ.
Sie klingen sehr plausibel für ihre gläubigen Anhänger, diese Priester und sie üben ihre anwachsende Macht meist sehr subtil aus, damit es nicht so sehr auffällt, wie sehr sie die Menschen im Bunker gängeln.
Aber ich glaube, so sehr brauchten sie sich garnicht zu verstellen, denn die meisten Leute hier unten wollen ja gegängelt werden.
Aber mich können sie nicht täuschen mit ihrem Gesabbel über Gott und seine Güte. Sie sind nichts weiter als eine ekelhafte, machtgeile Clique. Eine solche Machtfülle besaß die Kirche zum letzten Mal im Mittelalter, als sie Menschen zu Tode folterten, weil sie ihre Gehirne zum Denken benutzten oder auch nur, weil sie reich genug waren oder rote Haare hatten.
Aber was soll ich darüber mit meiner Tochter und meinen Enkelkindern reden? Sie sind glücklich und zufrieden mit ihrem Leben. Darin hatte meine liebe Birgit vollkommen recht: Das Leben an sich ist hier unten im Bunker viel beschaulicher und ehrlicher als das, welches wir früher an der Oberfläche führten. Ich hoffe nur, daß die Kirche nicht irgendwann zu einem Blutsauger an den armen Leuten wird!
Mich selbst betreffen solche Dinge kaum noch. Ich habe nicht mehr viele Jahre vor mir. Ich bin alt und müde. Was soll ich gegen Dinge ankämpfen, die nach meinem Tode sowieso keinen mehr interessieren?



13.

In Sektor 7 war die vierteljährliche Altpapiersammlung angesagt. Jeder Abfall in Heimstadt war zugleich wertvoller Rohstoff. So wurde alles getrennt gesammelt und der Wiederverwertung zugeführt. Es war Sitte, daß die Kinder Heimstadts diese Sammeltätigkeiten übernahmen. Sie sammelten Altglas, Plastik, Metalle wie leere Dosen, alte Werkzeuge und kaputte Hausgeräte und natürlich auch das Altpapier.
Derk, Timo und Sanja waren mit Feuereifer bei der Sache, um ihren Beitrag für die Gemeinschaft von Heimstadt zu leisten. Schon zum dritten Mal an diesem Tag zogen sie ihren hochbeladenen Handkarren in Richtung Inkomp, wo an dem von dort kommenden Bewässerungskanal die Papiermühle von Sektor 7 stand.
Bereits von weitem erkannte man das Bauwerk an seinem charakteristischen Steinturm, in dem das Stampfwerk installiert war.
An oben und an die Hölle dachten die drei Freunde fast nicht mehr. Vielmehr planten sie für den nächsten Tag ein Picknick auf den Wiesen am Rand des Sektors, denn am folgenden Tag feierte Heimstadt das Frühlingsfest.An diesem Tag arbeitete niemand in Heimstadt, und alle feierten mit ihren Nachbarn bei Musik und Getreidebier im Garten.
Die Kinder zogen meist in kleinen Gruppen auf die Wiesen, Weiden und in die Baumhaine, wo sie ein Picknick veranstalteten und den ganzen Tag lang faulenzten, bevor sie am Abend mit ihren Eltern in die Frühlingsmesse gingen und danach erst richtig mit Feiern begannen.
"Ich glaube, wir habens mal wieder gepackt", meinte Derk, als sie die alten Nachrichtenblätter der Witwe Schuik auf ihren Karren verluden. "Unser Karren ist so voll beladen, daß nichts mehr dazu passt."
"Stimmt! Für heute haben wir genug getan", pflichtete ihm Sanja bei. "Das ist schon der dritte Handkarren voll für heute, den wir zum Papiermüller schleppen. Lasst uns aufhören."
Auf dem Weg zur Papiermühle stießen sie auf Harath Munz, ihren neuen Lehrpriester, der sie seit Fohlers Beförderung unterichtete.Er schob einen mit Papier beladenen Schubkarren vor sich her.
"Hallo meine Lieben!" rief er lächelnd. "Besorgt ihr dem Papiermüller auch Arbeit?"
"Aber sicher doch Herr Lehrpriester!" rief Sanja kokett. "Ich schätze, wir haben heute das meiste Altpapier zusammengehamstert, das je von einer Gruppe gefahren worden ist. Dies ist schon unser dritter Karren voll."
Munz betrachtete den überfüllen Handkarren und nickte anerkennend.
"Na das nenne ich Fleiß", lobte er. "Da muß ich mich mit meinem halbvollen Schubkarren ja direkt schämen. Aber im Inkomp wird nicht viel mit Papier gearbeitet. Die gesamte Informatik läuft über Bildschirmgeräte. Das was im Inkomp aufgeschrieben wird, das wird auch meistens aufbewahrt. Oh weh!"
Er stolperte über eine lose Platte in der Straße und der Schubkarren schlug um. Das ganze Papier fiel heraus. Derk, Timo und Sanja sprangen hinzu und halfen beim Aufsammeln des Papiers.
Dabei fiel Derk ein Blatt auf, das die Unterschrift von Oberpriester Volta trug. Einem Reflex folgend steckte er es ein seine Hemdtasche. Niemand bemerkte, was er tat.
Þanke Kinder", bedankte sich Lehrpriester Munz. "Ich bin vielleicht ungeschickt."
Þas kann jedem mal passieren", tröstete Sanja. "Timo hier zum Beispiel hat die Angewohnheit, in schlammige Bewässerungskanäle zu fallen. Nicht wahr Timolein?" frotzelte sie.
"Hexe!" rief Timo und zog an ihrem Haar. Sie lachten fröhlich. Zusammen mit dem Lehrpriester lieferten sie ihren Papiervorrat ab.
Abends zog sich Derk frühzeitig in sein Zimmer zurück. Auf die Frage seiner Eltern, warum er nicht noch ein wenig in der gemütlichen Stube bei ihnen und seinen Geschwistern Giber, Sonnika, Rood und Luhny bleiben wolle, antwortete er, die Papiersammelaktion habe ihn ermüdet und er wolle für das morgige Frühlingsfest ausgeschlafen sein. Wer wolle schon müde feiern?
"Recht hast du mein Junge", pflichtete ihm seine Mutter bei. "Geh nur schlafen. Lehrpriester Munz hat mir mitgeteilt, daß du und Timo und Sanja tüchtig mitangepackt habt. Du bist ein guter Junge Derk."
"Ja Mutter. Auf den Derk können wir stolz sein", sagte der Vater. "Er ist ein guter Anhänger der Heimkirche geworden. Oberpriester Fohler meint, daß seiner Aufnahme in die Gilde der Inkompingenieure nichts mehr im Wege stünde."
Derk war sprachlos. "Vater! Ist das wahr?" rief er aufgeregt.
"Aber ja mein Sohn. Fohler selbst sagte es zu mir. Du mußt nur die Wiederholungsprüfung bestehen." Sonnika, seine elfjährige Schwester sprang Derk an und fiel ihm um den Hals.
"Derk wird Gildenmann!" rief sie begeistert. "Was werden meine Freunde staunen!"
"Siehst du Schwesterherzchen, das wusste ich ja schon immer", sagte Derk lächelnd und kniff Sonnika ins Ohr. "Schon vor drei Jahren habe ich dir gesagt, daß ich mal an den Maschinen arbeiten würde, die die Luft für Sektor 7 aufbereiten."
"Angeber!" stichelte Rood, Derks zwölfjähriger Bruder.
"Du bist ja nur neidisch Rood!" schalt der vierzehnjährige Giber. "Weil du in den technischen Fächern eine Niete bist."
"Na und! Ich werde Bauer wie Vater", hielt Rood selbstsicher dagegen.
"Ein Gildenmann ist etwas viel Besondereres!" widersprach Sonnika, die noch immer am Hals ihres Lieblingsbruders hing.
"Ich mag Bauern lieber. Die nehmen einen wenigstens mit auf die Felder. In den Inkomp darf ja keiner rein", meldete sich die sechsjährige Luhny altklug.
"Nun lasst den Derk aber mal in Ruhe", sagte die Mutter. "Er will sich ausruhen gehen. Gute Nacht mein Lieber."
"Gute Nacht Mutter", sagte Derk und ging auf sein Zimmer.
Er konnte es nicht fassen. Er sollte wirklich in die Ingenieursgilde aufgenommen werden!
Die Wiederholungsprüfung schreckte ihn nicht im Mindesten. Beim ersten Mal war er ja nur wegen seiner laschen Religionsauffassung durchgefallen. Mittlerweile war er ein vollwertiges Mitglied der Heimkirche geworden. Pfeifend hüpfte er die Treppe zum ersten Stock hoch.
In seinem Zimmer fiel ihm das Schriftstück ein, daß er am Nachmittag heimlich eingesteckt hatte und deswegen er das Theater mit dem FRÜHER ZU BETT WEIL ICH SO MyE BIN eigentlich gespielt hatte. Mit einem Mal war es nicht mehr so wichtig und interessant. Die Nachricht, daß sein Herzenswunsch sich erfüllen würde, lies die Akte unscheinbar werden.
Aber weil er nichts besseres zu tun wußte, nahm sich Derk schließlich doch noch das Schriftstück vor. Es war das Blatt, das Oberpriester Volta beschrieben und in seinem Computer abgespeichert hatte, jene Note, die unabsichtlich in den Papierkorb geweht worden war. Durch eine Kette seltsamer Zufälle war sie nun ausgerechnet in Derks Hände gefallen.
Derk begann zu lesen und seine gute Laune verflog augenblicklich. Die Ungeheuerlichkeiten, die auf dem Papier standen, trieben ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Als der Junge mit Lesen fertig war, hockte er stumm und zusammengekrümmt auf seinem Drehstuhl wie einer, dem jemand mit voller Wucht in den Magen geschlagen hat.
"Gibts ja nicht ... ist nicht wahr ... ist nicht möglich...!" stammelte er hilflos. Immer wieder wiederholten seine Lippen die Sätze, als könnten sie wie ein Gebet die Worte auf dem Papier verschwinden lassen.
Derks Welt brach zusammen. Nur langsam erfasste sein unter Schock stehendes Gehirn diese schriftlich festgehaltenen Lügen, diese Ungeheuerlichkeiten. Er dachte nicht mehr an die Ingenieursgilde.
Schließlich warf Derk sich auf sein Bett. Er weinte vor Zorn und Erschütterung; weinte vor Schmerz ob dieses gigantischen Betruges an den Bewohnern Heimstadts. Alles an das Derk geglaubt hatte, wurde durch dieses Schriftstück in den Schmutz gezogen.

01.04.2013 17:18 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
Neues Thema erstellen Antwort erstellen
Gehe zu:

Powered by Burning Board Lite 1.0.2 © 2001-2004 WoltLab GmbH