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Stefan Steinmetz
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Dabei seit: 10.02.2006
Beiträge: 1737

Der Auszug aus Heimstadt(1) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Im Zimmer des sechzehnjährigen Derk fiepte die Weckuhr. Ärgerlich zog er sich die Decke über den Kopf, bereit, das aufdringliche Piepsen zu ignorieren. Doch wie üblich verlor er den Kampf gegen das Aufstehen, weil sich das Fiepen schnell bis zur Unerträglichkeit steigerte.
Brummend stand er auf, lief quer durch sein Zimmer und schaltete die Weckuhr, die neben der Tür in die Wand eingelassen war, ab. Schlaftrunken suchte er seine Duschsachen zusammen und ging ins Bad.
Das Badezimmer lag neben seinem eigenen Zimmer im ersten Stock des doppelstöckigen Häuschens, das aus braunrotem Abbruchgestein erbaut war.
"Nanu, wo ist denn mein Handtuch?" murmelte Derk. Die verchromte Stange der der Badewanne, wo es hingehörte, war leer. Grummelnd kehrte er in sein Zimmerchen zurück. Suchend ließ er den Blick durch den kleinen nur drei mal vier Meter messenden Raum schweifen.
Eine gemütliche Bettcouch, ein Schreibtisch mit Drehstuhl davor, ein Schrank und ein dreiteiliges Regal bildeten das spärliche Mobiliar der Stube. Sämtliche Möbel waren aus dunkelgrauem Recyclingkunststoff gefertigt. Auf dem Regal standen Derks Schul- und Lernbücher: ALLES ÜBER GARTENBAU, FELDBEWIRTSCHAFTUNG TEIL I UND TEIL II, DÜNGER SEINE HERSTELLUNG UND ANWENDUNG, ALLES ÜBER VIEHZUCHT, WARTUNG UND INSTANDSETZUNG DER BEWÄSSERUNGSANLAGEN, EINFÜHRUNG IN DIE TECHNIK, der als Broschüre gebundene kleine Kartenatlas der Sektoren Heimstadts und natürlich die Heimbibel, das Lehr und Besinnungsbuch der Heimkirche.
Über dem Schreibtisch hing eine von Derk selbstangefertigte Karte von Sektor 7, seinem Heimatsektor.
"Da IST es ja!" murrte Derk. Das buntgestreifte Handtuch aus Baumwollschlingfrottee hing über der Lehne des Drehstuhls, wo Derk es wie ihm nun schuldbewußt einfiel am Abend zuvor achtlos hingeworfen hatte. Er ergriff das Handtuch und kehrte in das weiß blau gekachtelte Badezimmer zurück und begab sich unter die Dusche.
Als er das Wasser aufdrehte, zuckte er zusammen. Es war eiskalt .
Donnerstag! Jeden Montag und Donnerstag gab es kein heißes Wasser in Sektor 7. An diesen Tagen wurde die dadurch zusätzlich frei werdende Energie nach unten zu Sektor 14 geleitet, wo die Bauingenieure mit der eingesparten Kraft der elektrischen Generatoren dabei waren, Sektor 15 in die Tiefe der Erde zu bohren. Riesige elektrisch betriebene Maschinen fraßen sich in den Bauch der Erde hinein. Bagger, die aussahen wie gigantische stählerne Maulwürfe mit riesigen, rotierenden Bohrköpfen und hakengespickten Gleiskettenantrieben rechts, links, oben und unten an den zylindrischen Körpern brachen sich ihren Weg ins Gestein. Sie schleppten ein System aus beweglichen Förderbändern, Rüttelsieben und Laderampen hinter sich her, so daß es aussah, als fräße sich ein metallener Wurm in die Tiefe.
Das von den großen Bohrmaschinen, Gesteinsfräsen und Schlaghammerbaggern abgetragene Gestein wurde in Sektor 14 weiterverarbeitet. In Steinmühlen und Felssägereien entstanden sauber gefertigte Steine zum Häuserbau und flachere Steinplatten, die zum Ausbau der Bewässerungskanäle und Fischteiche dienten, sowie Steine, mit denen Mauern rund um die Tierweiden errichtet wurden. Die Hauptwege in den Sektoren wurden ebenfalls mit Steinplatten belegt, zumindest schuf man zwei Fahrspuren. Aus den Gesteinsmühlen kam der Schotter mit dem die Nebenwege bestreut waren und Sand für das Mörtelgemisch, mit dem die Meurergilde die Häuser erbaute. Das Abraumgestein, das nicht verwendet wurde, landete feingemahlen im Turbinenschacht.
Der Turbinenschacht, durch den die Wassermassen eines oberirdischen großen Stausees fielen, mündete einen halben Kilometer unter Sektor 14 in einen riesigen unterirdischen Spalt. Dort floß das Wasser ab und schaffte dabei das zermahlenen Gestein mit fort.
Aber in den Sektoren Heimstadts bestand rege Nachfrage nach Baumaterial, wie Derk wußte, denn die Bevölkerung wuchs unaufhörlich.
So baute zum Beispiel die Familie von Metas, dem Fleischermeister gerade ein neues Haus am Ortsrand und auch Harbert der Schuhmacher mauerte schon wieder einen Anbau an sein Häuschen.
Sektor 7 glich allen anderen Sektoren. Es war eine kreisrunde Halle von rund fünf Kilometern Durchmesser und einer Höhe von fünfzig Metern Auf diesem Arreal befanden sich Felder, auf denen Nutzgetreide und Gemüse angebaut wurden, Weiden, auf denen Schlachtvieh großgezogen wurde. Es gab Fischteiche, Baumwoll und Olivenfelder.
Im Zentrum des Sektors lag die Wohnsiedlung locker um die quadratische Säule des Industriekomplexes angeordnet. Der Industriekomplex von allen Inkomp genannt maß zweihundert Meter im Quadrat und reichte vom Boden des Sektors bis zur Decke. Er durchzog ganz Heimstadt mit seinen vierzehn Sektoren als lebensspendendes Ganglion. Hinter seinen blinkenden Edelstahlwänden saßen die großen Generatoren, die Heimstadt mit Elektrizität versorgten und die gigantischen Klimaanlagen, die die heiße, tödliche Luft der Hölle entgifteten und sie für Menschen atembar machten.
Hier wollte Derk eines Tages arbeiten; entweder als Klimaingenieur oder als Wartungsmann für elektrische Generatoren. Angehörige dieser Ingenieursgilde waren in Heimstadt sehr angesehen. Außerdem war Derk schon als Kind von allen technischen Dingen begeistert gewesen und er dachte nicht im Traum daran, Bauer zu werden wie sein Vater.
Wer wollte schon mit den Händen im Dreck wühlen, wenn es galt, in die Geheimnisse der elektrischen Energie einzudringen! Wie das Korn auf den Feldern wuchs und die Tiere auf der Weide, das wußte doch jeder! Das lernte man ausführlich in der Heimschule.
Aber Strom, diese wilde, fremde Kraft war für die meisten Bewohner Heimstadts ein Rätsel, das zu ergründen Derk sich geschworen hatte. Dieses Wissen hielt die Ingenieursgilde geheim. der Normalbürger Heimstadts wußte nur über die groben Zusammenhänge Bescheid. Das Lehrbuch EINFÜHRUNG IN DIE TECHNIK, das auch Erklärungen über elektrische Energie enthielt, war eigentlich nichts weiter als eine simple Gebrauchsanleitung über die Benutzung elektrischer Energie in Haushalt und an Arbeitsmaschinen. Darin stand, wie man elektrische Geräte an eine Steckdose anschloß und wie man mit Waschmaschinen, elektrischen Sensen, Elektromotoren und Lichtschaltern umging. Vor allem stand viel über die Gefahren im Umgang mit Strom in dem Buch. Dazu noch ein kurzer Überblick über die verschiedenen Sicherungen, Drahtstärken und Normkabel. Das was schon alles.
Wie Strom erzeugt wurde stand genausowenig in dem Buch wie die Anwendung der elektrischen Energie im Inkomp oder wie es im Inneren eines Generators aussah.
Derk wußte, daß das herabstürzende Wasser im Turbinenschacht Turbinenräder in Drehbewegung versetzte und diese über Gelenkwellen die Generatoren antrieben, die den Strom irgendwie herstellten, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie dies vonstatten ging.
Im Alter von achtzehn oder neunzehn Jahren konnte man in die Ingenieursgilde aufgenommen werden und erst dann wurde man in all diese Geheimnisse eingeweiht. Es war selten, dass jünger Menschen zur Gilde kamen. Wer zur Gilde wollte, mußte über gutes technisches Verständnis verfügen und in der Heimschule einer der Besten sein. Es war ein Herzenswunsch von Derk, dieser Gilde beizutreten. Die Aussichten darauf standen nicht schlecht. Derk war in allen physikalisch technischen Fächern der Heimschule von Sektor 7 einer der Besten; eigentlich gab es nur ein einziges Problem: Derk war nicht sonderlich religiös!
Und das bereitete ihm so manchen Ärger auf seinem Weg in einen technischen Beruf. Denn wer die Gebote der Heimkirche in Frage stellte, wer ein Zweifler war und sich selten beim Gottesdienst sehen ließ, konnte unmöglich ein Arbeiter im Inkomp werden. Nur wer im Glauben rein und fest war, wurde von der Priesterschaft zur Gilde zugelassen, da diese Arbeit einen gefährlich nahe an die zerstörerischen Kräfte der Hölle brachte.
Deswegen hatte Derk vor drei Monaten die Vorprüfungen der Gilde trotz detaillierter technischer Kenntnisse nicht bestanden. Er konnte sich der starren Doktrin der Heimkirche nun einmal nicht ohne Widerspruch unterwerfen.
Nachdem Derk geduscht hatte, zog er frische Kleidung an; lange Hosen aus naturfarbener Baumwolle, ein blau schwarz kariertes Flanellhemd und dunkelblaue Segeltuchschuhe. Es war die allgemein übliche Bekleidung für ältere Schulkinder in Heimstadt. Derk betrachtete sich kurz im Spiegel. Er war sechzehn Jahre alt und schlank; beinahe schmächtig. Sein kantiges, etwas trotzig wirkendes Gesicht wurde von hellblonden Haaren eingerahmt. Seine blauen Augen leuchteten aufgeweckt und wissbegierig.
Rasch bürstete er noch einmal durch sein dichtes Haar. Dann ging er nach unten in die gemütliche Küche, wo seine Mutter bereits ein reichliches Frühstück aus hellem Brot, Schinken, Käse und einem gekochten Ei für ihn zubereitet hatte. Die Einrichtung der Küche war aus rotem und grünem Recyclingkunststoff hergestellt. Die fröhlichen, warmen Farben gaben dem Raum etwas Anheimelndes.
Derks Mutter saß vor dem Radiogerät, einer Luxusausführung aus echtem Holz, und lauschte der stündlichen Informationssendung im Heimradio auf Kanal 1, dem allgemeinen Nachrichtenkanal. Kanal 1 sendete in ganz Heimstadt. Derk erinnerte sich noch gut an jenen Tag er war damals neun Jahre alt gewesen als er mit seiner Klasse ein Lied im Heimradio vortragen durfte.
Auf Kanal 2 liefen die gleichen stündlichen Nachrichten, aber das Programm dazwischen bestand aus Bibellesungen, Fragestunden mit Bürgern, Erzählungen alter Kirchenlegenden und Kirchenliedern.
Kanal 3 diente dem Sprechfunk der Wärter der Pumpenhäuschen draußen an den kreisförmig verlaufenden Bewässerungskanälen. Die Wärter teilten sich untereinander die Zeiten mit, in denen die verschiedenen Pumpen liefen und riefen über Funk Hilfe herbei, wenn ein Schaden an einer Pumpe oder einer Kanalschleuse auftrat. Zu diesem Zweck trugen sie zusätzlich kleine Handfunkgeräte bei sich, wenn sie sich zweimal täglich mit ihren Fahrrädern auf den Weg machten und ihren Kanalabschnitt kontrollierten.
Kanal 4 schließlich diente der Verständigung von den Feldern und Viehweiden aus mit dem Wohndorf. In regelmäßigen Abständen standen viereckige Aluminiumsäulen mit Antennenanlagen und einer Sprecheinrichtung am Wegesrand. Fiel jemandem, der draußen war, etwas Wichtiges auf ein kaputter Weidezaun etwa konnte er schnell Hilfe herbeirufen.
Ein Sprecher im Heimradio verkündete enthusiastisch, daß die Bohrungen für den neuen Sektor 15 in der Tiefe der Erde trotz mehrerer Wassereinbrüche und der hohen Temperatur zügig vorangingen. Bald vieleicht schon in einem Jahr würde der neue Sektor fertig sein, bereit, der stetig anwachsenden Bevölkerung Heimstadts zusätzlichen Lebensraum zu schenken.
"Diese Blödmänner!" schimpfte Derk. "Wie weit wollen sie denn noch bohren? Bald haben sie die ganze Erde unterhöhlt! Wieviele Sektoren wollen die denn NOCH bauen? Warum schränken sie nicht einfach die Geburtenrate ein? Die Meds sind doch sonst so gescheit. Eine Medizin, die die Empfängnis ver..."
"DERK!!!" Seine Mutter schrie es fast. "Wirst du wohl still sein mit diesen Blasphemien!"
"Oh Mutter!" stöhnte Derk. "Du mit deinem religiösen Tick. Es liegt doch auf der Hand, daß ich Recht habe. Sieh mal..."
"DERK!!!" Wieder derselbe Schrei. Seine Mutter beugte sich über den Tisch und ihr wutverzerrtes Gesicht schwebte nur eine Handbreit von dem Derks entfernt. "Du wirst im Hause deiner Eltern nie mehr ich sage: NIE MEHR über diese scheußlichen Dinge sprechen! Ist das klar? Rede meinetwegen mit deinen verderbten Freunden in der Schule darüber, soviel du willst, aber in diesem Haus will ich solche Ketzereien nicht mehr hören!"
Derk gab es auf. Seiner Mutter konnte er mit solchen modernen Ansichten einfach nicht kommen. Sie verschloß ihre Augen stur vor dem Offensichtlichen. Sie trug "Heimkirchenscheuklappen" wie Derk es bei sich nannte. Alles was die Priester der Heimkirche sagten, galt in ihren Augen als Gesetz. Und da die Heimkirche es als gotteslästerlich ansah, die natürliche Zeugung zu verhindern, war es auch für Derks Mutter gotteslästerlich.
Sie war sehr religiös; verpasste kaum eine der wichtigen Kirchensendungen im Radio und ging häufig in die Heimkirche.
Derk runzelte die Stirn. Es war doch ein mehr oder weniger offenes Geheimnis, daß der Spruch WACHSET UND MEHRET EUCH erst vor knapp dreihundert Jahren zum Hauptleitspruch der Heimkirche geworden war. Seitdem explodierte die Bevölkerung geradezu. Zuvor mußte es einmal eine funktionierende Geburtenkontrolle gegeben haben. Doch die Heimpriester predigten jeden Sonntag ihr WACHSET UND MEHRET EUCH von den Kanzeln. GOTT WILL ES SO hieß es und damit basta. Es gab keine ältere Bibel mehr, um den Wahrheitsgehalt dieser Worte nachzuprüfen. Die ältesten Bibeln waren dreihundert Jahre alt und dort war das WACHSET UND MEHRET EUCH ganz groß geschrieben.
Derk hegte den Verdacht, daß die Heimkirche ältere Exemplare der Heimbibel im Inkomp unter Verschluß hielt. In diese geheimen Archive der Heimkirche hätte er zu gerne einmal einen Blick geworfen.
Derk war fertig mit frühstücken. Er packte seine Schultasche und verließ grußlos das Haus, um den bösen Blicken seiner Mutter zu entfliehen.
Draußen erwartete ihn das warme Licht der Sonnenlampen, die an der Sektordecke angebracht waren und seine Heimat mit Licht und Wärme versorgten. Während er miiutig in Richtung Schule ging, gesellten sich Timo und Sanja zu ihm. Die beiden waren seine Freunde, solange Derk zurückdenken konnte
Sie waren beide so alt wie Derk; sechzehn Jahre. Timo überragte Derk ein gutes Stück. Er war groß und sehr kräftig gebaut. Schwellende Muskeln deuteten auf einen hervorragenden zukünftigen Landarbeiter hin. Braune Krauswolle bedeckte seinen Kopf, die blauen Augen blitzten schalkhaft.
Sanja, ihrer beider Freundin, war ein kleines, zierliches Mädchen mit schmalem Gesicht, das von langen, schwarzen Haaten umgeben war. Ihre dunklen Augen schimmerten weich. Die Kleidung der beiden unterschied sich nicht von der Derks; naturfarbene Leinenjeans und blau schwarz karierte Flanellhemden. Statt Segeltuchschuhen trugen sie lederne Sandalen.
Timos Vater war Viehzüchter auf der unteren Weide. Sanjas Vater war Mitglied der Ingenieursgilde. Er arbeitete als Luftingenieur im Industriekomplex von Sektor 7.
Timo und Derk fanden es ungeheuer spannend, mit jemandem befreundet zu sein, dessen Vater der Gilde angehörte. Allerdings wußte Sanja herzlich wenig von der Arbeit ihres Vaters, denn es war den Gildenleuten unter Androhung sehr hoher Strafen verboten, über ihre Tätigkeit im Inkomp zu sprechen. Sie kamen bei ihrer Arbeit zu oft in gefährliche Nähe mit der heißen, bösartigen Luft der Hölle. Deshalb durften sie nicht mit normalen Sterblichen über ihre Arbeit im Inkomp reden, da die Gefahr bestand, daß sie ungewollt das Seelenheil ihrer Mitmenschen gefährdeten."Jedenfalls legt die Heimkirche das so aus!" dachte Derk wütend. Er war wirklich nicht gut drauf heute.
Timo hieb seinem Freund herzhaft auf die Schulter.
"Na, wieder mal Knies mit Mamma gehabt?" fragte er grinsend."Natürlich! Was sonst?" entgegnete Derk. "So langsam geht sie mir auf die Nerven mit ihrem frömmelnden Getue! Sie läßt einfach keine modernen Ansichten an sich heran! Weißt du, was sie tat? Sie hat mir verboten, zuhause darüber zu sprechen!" "Nimms nicht so tragisch", meinte Sanja tröstend. "Bald bist du volljährig und stehst nicht mehr unter der Fuchtel deiner Eltern."
"Aber bis dahin müssen noch drei lange Jahre vergehen", sagte Derk düster. Sanja hatte gut reden. Wegen der Tätigkeit ihres Vaters ging es bei ihr zuhause viel lockerer zu als bei ihm. Zwar siebten die Priester gewaltig bei der Auswahl ihrer Techniker, aber sobald diese erst einmal im Amt waren, wurden sie seltsamerweise viel lascher in der Ausübung ihrer religiösen Pflichten. Das war für Derk der Beweis, daß im Inkomp keineswegs göttliche Kräfte wirkten, wie seine Eltern es ihm weismachen wollten, sondern menschliche Intelligenz. Die Priester der Heimkirche schienen sich kaum am Verhalten der Ingenieure zu stören. Sie erklärten, daß die Gildenangehörigen Gott bereits durch ihre gefährliche Arbeit im Inkomp aufs Beste dienten und daß diese gefährliche Arbeit ihnen die Ruhe und Muße nahm, oft in der Heimkirche zu meditieren.
Im Stillen nahm Derk an, daß die Ingenieure der Gilde infolge ihrer Tätigkeit im Inkomp vielleicht so mancher Ungereimtheit in den Sprüchen der Heimkirche auf die Schliche kamen und die Priester ihnen nur deshalb nicht auf die Finger klopften, weil sie befürchten mußten, die Ingenieure könnten dann einige Dinge ausplaudern, die die Kirche lieber unter Verschluß hielt.
Wie zum Beispiel die Geburtenkontrolle.
Früher mußte es einmal so etwas gegeben haben, denn laut den Legenden bestand Heimstadt bereits seit fast eintausend Jahren. Wäre die Bevölkerung jedoch früher genauso ungehemmt angewachsen, wiensie es seit drei Jahrhunderten tat, müßte es mittlerweile mindestens fünfzig oder mehr Sektoren geben!
Während die Schulkinder in der Klasse auf ihren Lehrpriester warteten, diskutierte Derk zu wiederholten Male mit seinen Freunden darüber.
"Natürlich hatten sie früher einmal eine Geburtenkontrolle", sagte Timo. "Heimstadt wäre sonst über kurz oder lang aus allen Nähten geplatzt. Aber die Priester haben immer mehr Macht bekommen und weil das Wort Abtreibung für sie den schlimmsten Begriff in unserer Sprache darstellt, haben sie die Geburtenkontrolle schließlich total untersagt."
"Ich spreche ja nicht von Abtreibung", erwiderte Derk. "Kein Kind, auch kein ungeborenes, sollte je getötet werden. In diesem Punkt stimme ich vollkommen mit der Doktrin der Heimkirche überein. Ich denke vielmehr an ein spezielles Medikament, daß die Vereinigung zwischen dem männlichen Samen und der weiblichen Eizelle verhindert."
"Nicht schlecht die Idee mit dem Medikament", meinte Sanja. "So was gabs sicherlich bis vor dreihundert Jahren."
"Nie gehört", hielt Timo dagegen.
"Möglicherweise wurde es heimlich verabreicht", rätselte Derk.
"Daher der Name HEIMkirche!" witzelte Timo.
"Red kein Blech!", wehrte Derk ab. "Es könnte über die Trinkwasserversorgung in jedes Haus gekommen sein; das Medikament meine ich." Er zögerte. "Nein! Das wäre zu grobrasterig gewesen! Bei sowas braucht man punktuellen Einsatz. EINIGE Kinder will man ja schließlich haben, damit die Bevölkerung nicht ausstirbt."
Er schlug sich vor die Stirn: "Die Impfungen! Na klar! Woher will ein normaler Sterblicher wissen, ob die Spritze, die er kriegt, wirklich gegen Grippe oder Darmviren wirkt? Vielleicht wirkt sie gegen Empfängnis!" "Verstehe", sagte Timo. "Wenn eine Frau genug Kinder geboren hatte, erhielt sie eine Injektion, die sie unfruchtbar machte, oder vielleicht kriegten auch die Männer das Präparat. So etwas ist ja auch wesentlich intelligenter, als ständig neue Sektoren zu bauen. Die Meds sollten ein solches Medikament wieder herstellen!"
"Wenn der Heimkirche das nicht passt, ich hätte noch einen anderen Vorschlag", meinte Sanja. "Sie sollten statt nach unten lieber mal seitwärts bohren und die einzelnen Sektoren erweitern."
"Geht doch nicht!" winkte Timo ab. "Jeder weiß, daß das umgebende Gestein zu hart ist."
"Das sagen die Priester!" rief Sanja hitzig. "Genauso wie sie sagen, daß Geburtenkontrolle Sünde sei; genauso wie sie behaupten, die Hölle liege OBEN über Sektor l!"
Timo und Derk schwiegen nachdenklich. Sanja hatte recht. Woher wollten sie wissen, ob das Heimstadt umgebende Gestein wirklich zu hart war?
"Wieso ist es möglich, exakt fünf Kilometer in die Breite zu bohren und keinen Meter weiter? Das klingt nicht logisch. Es kann doch nicht sein, das ein fünf Kilometer im Durchmesser ausmachender Pfropf aus weichem Gestein in härterem Gestein steckt! Da gäbe es sicher Unregelmäßigkeiten. Der eine Sektor wäre nur vier Kilometer breit, ein anderer vielleicht zehn! Und die Hallen müssten nicht kreisrund sein, sondern könnte auch oval oder total unregelmäßig angelegt sein. Man könnte Sektorenhallen nebeneinander errichten. Ich habe den Verdacht, daß hier einfach nur Engstirnigkeit das Diktat führte!" "Heimkirchenscheuklappen!" rief Timo.
"Von wegen Scheuklappen!" fiel Derk ein. "Lägen die Sektoren nebeneinander, würde die ach so praktische Kontrolle durch die Priester im Inkomp nicht mehr so recht funktionieren. Von wegen zu hartes Gestein rund um Heimstadt! Das ist nichts weiter als eine fadenscheinige Ausrede der Heimpriester, genau so fadenscheinig wie die Behauptung, die Hölle sei oben."
"Ganz oben Kinder, ist die Hölle", predigte Lehrpriester Fohler immer wieder. "Die Hölle ist ein furchtbares, heißes Land; tot und schwarz. Die Heimat der schrecklichsten Dämonen!" Wer wollte wissen, ob das wirklich stimmte?



2.

DAS TAGEBUCH DES DIETER MÜLLER:
2. APRIL 1997:

Ein durch und durch beschissener Tag ist das mal wieder heute! Fing schon beschissen an! Als ich am Morgen in Homburg war, kriegte ich wie üblich keinen Parkplatz und wie ich endlich einen gefunden habe, trete ich beim Aussteigen in einen Riesenhaufen Hundescheiße!
Diese Dreckskäfer! Früher hatte jeder Hund ein Arschloch heute hat jedes Arschloch einen Hund! Die Ärzte, diese gelehrten Schlauberger sagen, daß die Menschen sich so viele Hunde anschaffen, weil sie treu und anhänglich sind, im Gegensatz zum Menschen. Dabei ist es doch kein Wunder, daß die Leute so gereizt sind. Die ständigen Steuererhöhungen, die gallopierenden Lebensmittelpreise und die um sich greifende Arbeitslosigkeit machen die Menschen kalt und verschlossen. Heute muß man um einen Job KÖPFEN und jeder ist sich schließlich selbst der Nächste.
Ich habe gottseidank eine feste Anstellung bei der wissenschaflichen Universität in Homburg. Ich arbeite als Spezialist für Stromerzeugungsaggregate in dem riesigen unterirdischen Bunker, der vor zehn Jahren unterm Schloßberg gebaut wurde. Nicht schlecht die Arbeit und gut bezahlt obendrein. Allerdings muß ich dafür auch Einschränkungen in Kauf nehmen. Über einen
Europiepser stehe ich ständig auf Abruf, wenn etwa ein Generator plötzlich streiken sollte. Dann muß ich mitten in der Nacht raus und das Ding wieder in Gang setzen.
Das ist ganz erträglich, aber ein bis zweimal im Jahr gibt es die GROßE VERSCHLUSSÜBUNG. Da werden schlagartig alle zum Bunker gehörenden Leute ohne Vorwarnung alarmiert und müssen in den Bunker runter. Dort bleiben wir dann einen Monat lang ohne Kontakt zur Außenwelt außer Radio und Fernsehen.
Die Wissenschaftler testen dann, ob ihr toller Garten Eden auch ohne Hilfe von außerhalb funktioniert. Bis jetzt hat es immer hingehauen. Der riesige Stausee hinter dem Schloßberg liefert mit seiner Wasserkraft den Antrieb für die Turbinen, die die riesigen Generatoren den Bunkers antreiben. Mit dem Strom der Generatoren wird die große Halle von allen Sektor genannt geheizt und beleuchtet, wird das Bewässserungsystem in Gang gehalten. Damit wird die Frischluft aufbereitet und das benutzte Wasser recycelt. Lampen, deren Licht dem Spektrum der Sonne ziemlich nahe kommt sorgen dafür, daß die Pflanzen und Tiere im Sektor wachsen und gedeihen.
Der Sektor ist riesig, eine fünfzig Meter hohe kreisrunde Halle von drei Kilometer Durchmesser. Es ist eine richtige in sich stabile kleine Welt unter der Erde, in der es keine Luftverschmutzung gibt, genauso wenig wie Schädlinge und Tiere wie Flöhe oder Läuse. Alles ist auf Nützlichkeit ausgelegt. Auch ohne Hilfe von außen könnte in dieser vom Oben abgeschirmten Heimstätte ohne weiteres zweihundert Menschen leben.
Und ausgerechnet heute ist wieder so ein Scheißalarm!
Ausgerechnet, wo ich bei Freunden zu einer Party eingeladen bin! Na Prost Mahlzeit!
Jetzt heißts erst mal, einen Monat leben wie die Maulwürfe. Echt ätzend diese Verschlußübungen. Wenns doch nicht immer so lange dauern würde! Zwei Wochen sind doch genug. Andererseits kann ich froh sein, daß die Wissenschaftler bislang noch nicht auf die Idee kamen, diese Abschottung über einen längeren Zeitraum zu testen; zwei oder gar drei Monate lang. Oder ein ganzes Jahr! Meine Fresse! Hoffentlich kommt keiner von den gelehrten Herrschaften jemals auf solch eine Schnapsidee!
Wenigstens habe ich diesmal an mein Tagebuch gedacht und werde ab und,zu was reinschreiben, auch wenns verboten ist. Die können mich mal sonstwo! Die Aufzeichnungen sind ja bloß für mich.

01.04.2013 17:11 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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