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Stefan Steinmetz
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Dabei seit: 10.02.2006
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Der Elfenmacher(55) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Stephan legte den Schleifklotz zur Seite. Mit geübtem Auge betrachtete er das Werkstück. Es war eine Schublade aus Birnenholz. Sie gehörte zu einem Schreibtisch, an dem er seit einer Woche arbeitete. Astrid Baumann hatte sich den gewünscht und er tat ihr den Gefallen nur zu gerne. Noch immer machte er nebenher Möbel. Inzwischen standen etliche seiner Machwerke nebenan bei Baumanns und schräg gegenüber bei Kolbes. Er hatte auch für Chayenne Kowak und ihre jüngere Schwester Mandy Regale gebaut. Für Chayennes Mutter Karin hatte er in deren Küche ein Gewürzbord mit zusätzlichem Schränkchen an der Wand montiert.
Chayennes Vater Peter war ein regelmäßiger Besucher auf Stephans Grundstück und umgekehrt war es genauso. Die beiden Männer arbeiteten eifrig an ihrer Feldbahn. Stephan wollte sein neues Grundstück mit Gleisen belegen und Peter Kowak baute eine Bahn, die von seinem Haus bis über die Wiesen hinter seinem Grundstück zum Wald führte. Er wollte Brennholz mit der Bahn transportieren.
Dominik Rödel half mit, wenn er die Zeit dazu fand. Er und Pia hatten eine entfernte Verwandte beerbt und mit dem Geld ein leerstehendes Bauernhaus keine vierhundert Meter von Stephans Domizil gekauft.
„Endlich kann ich auch mal meine werten Freunde als Arbeitsesel einspannen“, hatte Dominik sich gefreut. „Der alte Kasten gibt uns Feierabendbeschäftigung für ein ganzes Jahr.“ Dazu hatte er gegrinst wie ein Kamel mit Goldzähnen. „Selbstverständlich wollen Pia und ich Anschluss an die weltberühmte Rhens-Runsacher Bimmelbahn, damit unsere Kinder zur Schule gebimmelt werden, statt zu bummeln und zu bammeln.“
Stephan ging duschen. Monica war unterwegs. Sie nahm einen Arzttermin wahr, den sie nicht mehr hatte verschieben können.
Heute war Einweihung für den Backofen. Sie hatten alle geschuftet wie die Tiere, um das Ding noch vor Ende des Sommers fertig zu bekommen. Stephan, Dominik, Matthias, Georg Kolbe, und Peter Kowak hatten gemeinsam den Bausatz zum Backofen zusammengebaut und ein Häuschen darüber errichtet. Dann hatten sie aus einem Bausatz aus dem Baumarkt ein Holzhäuschen direkt daneben errichtet - die „Backstube“. Hier konnte man sich aufhalten, während das Brot im Backofen buk, wenn schlechtes Wetter war.
Nach dem Duschen lief Stephan in frischen Kleidern nach draußen, den Leutnant an seiner Seite.
„Stephan!“ Zwei Mädchen kamen um die Ecke gesaust. Sie warfen sich in seine Arme und ließen sich drücken. Dann sanken sie auf die Knie und knuddelten den Leutnant, der sich das - sichtlich bemüht, möglichst stoisch zu erscheinen – nur zu gerne gefallen ließ. Es waren Apollonia Kolbe und Chayenne Kowak. Beide Mädchen waren identisch gekleidet. Sie trugen Jeanshosen und knallrote T-Shirts und sie waren barfuß. Ein bisschen wirkten sie wie Schwestern, denn sie trugen auch die Haare gleich.
Polly und Chayenne waren die besten Freundinnen geworden. Die beiden klebten aneinander. Dunja Wolf hatte die Tatsache, dass ihre beste Freundin ihr Herz einer Dritten geöffnet hatte, mit einem lachenden und einem weinenden Auge akzeptiert und Chayenne mit offenen Armen aufgenommen.
„Chayenne übernachtet bei mir“, verkündete Polly. Sie legte einen Arm um Chayennes Schultern und drückte sie an sich. „Gell Chayennchen?“
Chayenne lehnte sich an die Freundin. „Ja.“
Die Mädchen begleiteten Stephan, der über sein Grundstück schritt. Er inspizierte seine Obstbaumplantage, drei Reihen von Säulenobstbäumchen. Stephan plante, weiter hinten auf seinem neu erworbenen Grundstück eine größere Plantage anzulegen. Er wollte vor allem Holzäpfel pflanzen und seinen geliebten Apfelwein selber keltern. Die Ernte würde er mit der Feldbahn einfahren. Inzwischen lagen die Schienen überall. Eine Strecke führte komplett um sein riesiges Grundstück herum. Überall zweigten Weichen ab. Dort würden im folgenden Frühjahr neue Schienenwege entstehen.
Sauter hatte Stephan das Land neben und hinter seinem Grundstück zu einem erstaunlich niedrigen Preis verkauft. Siegfried Kowaks Beziehungen hatten Wirkung gezeigt.
Sie kamen zu Eugen Niedermeyers ehemaliger Scheune. Das Gebäude war in Backsteinfachwerkbauweise errichtet. Es trug ein nagelneues Dach. Das hatte eine Firma aus Achen gebaut. Das alte Dach war nicht mehr in Ordnung gewesen. Stephan ging mit den Mädchen ins Innere der Scheune. Am kurzen Ende, das in Richtung Stephans Hinterhof zeigte, gab es nun zwei hohe Schiebetore. Drinnen lagen etliche Gleise. Gleich vorne links stand die kleine Akkulok, direkt daneben Stephans Neuerwerbung, eine feuerwehrrote Diesellok der Firma Schöma.
„Schöma so ne schöme Lok gesehen?“ fragte Stephan die Mädchen.
„Schöner Boden“, meinte Chayenne, während sie barfuß über die glatten, abgerundeten Kopfsteinpflastersteine schritt, die den Boden zwischen den Schienen bedeckten. „Schön glatt und schön kühl.“ Die Katzenköpfe hatte Siegfried Kowak Stephan besorgt, als in Runsach eine alte Kopfsteinpflasterstraße saniert wurde. Der ehemalige Bürgermeister hatte jede Menge Verbindungen. Die Steine hatten Stephan keinen Cent gekostet. Er hatte sie mit einem gemieteten Kleinlaster abtransportiert. Er hatte seinen Lokschuppen mit damit ausgelegt und neben der Scheune lag ein Riesenhaufen von den Dingern, die er noch anderweitig einzusetzen gedachte.
Er schaute zum Dach hoch. Dort gab es einen erhöhten Aufsatz in der Mitte mit Fenstern, die man von unten öffnen konnte, für den Fall, dass Stephan sich einmal eine Dampflokomotive zulegen und die im Lokschuppen anheizen wollte.
Ganz hinten in der Ecke hatte er einen kleinen Büroraum mit Holzwänden gebaut. Darin stand ein Schreibtisch mit Stuhl und unter dem dicken Teppich befand sich die Falltür, die in Eugen Niedermeyers Erdstallzugang führte. Wider Erwarten hatte die Polizei den Eingang in die Unterwelt in Eugens Schuppen nicht gefunden. Stephan hatte den hohen Steinhaufen, der zur Tarnung im unterirdischen Gang lag, von Hand Eimer über Eimer weggeschafft.
Sie gingen wieder nach draußen. Stephan warf einen Blick nach links oben, wo die Bienenstöcke standen. Er war gezwungenermaßen zum Imker geworden. Er wollte die Bienenvölker Niedermeyers nicht untergehen lassen und hatte sich mithilfe mehrere Bücher über Bienen schlau gemacht. Warum nicht Honig ernten und gleichzeitig für die Bestäubung seiner Gartenpflanzen sorgen?
Sie wanderten hinüber zur „Backstube“. Der Spitz flitzte voraus und beschnüffelte die neuen Gebäude. Am oberen rechten Ende von Stephans ehemaligem Grundstück stand das Backhäuschen und daneben das Holzhaus. Sie traten ein. Drinnen war der Boden mit glatten Holzbrettern belegt. In einer Ecke stand ein holzgefeuerter Küchenherd. Hier konnte man Kaffee und Tee kochen und Mahlzeiten zubereiten. Mehrere Tische standen in dem Häuschen.
Es gab einen Kühlschrank für Getränke. Stephan hatte Strom verlegt. Es gab in regelmäßigen Abständen Steckdosen an den Wänden. Polly, Chayenne und Dunja hatten bereits angekündigt, die „coole Holzbude“ zum gemeinsamen Nähen mit ihren Nähmaschinen zu benützen, eine Idee, die auch ihren Muttis gut gefiel.
Das Häuschen war groß genug, dass mehrere Familien mit ihren Kindern darin Platz zum gemütlichen Beisammensein fanden.
Der Spitz bellte. Draußen kamen Georg und Sandra Kolbe ums Haus. Sie schleppten eine kleine Wanne mit ihrem Brotteig, den sie zuhause über Nacht hatten gehen lassen. Jede Familie hatte aus ausgesuchten Mehlen ihren eigenen Sauerteig bereitet und wollte heute zum ersten Mal in Stephans Ofen Brot backen. Hinter den Kolbes kamen die Rödels. Auch sie hatten ihren Teig dabei.
„Tach Hochwürden“, rief Dominik. „Ich hoffe, du hast eine Flasche Viereckigen in deinem Kühlschrank stehen?“
„Sogar zwei“, sagte Stephan mit einem Augenzwinkern. „Du kannst dir gleich einen Hörnerbock einschenken, Domik.“
„Damit warte ich, bis der Ofen eingeheizt ist“, meinte Dominik. Er sah seinem Sohn Andreas zu, wie der den Leutnant knuddelte. „Mit mir macht er das nie“, verkündete er mit todernstem Gesicht. „Uääh!“
Pia verpasste ihm einen Knuff: „Du bist unruhig. Du bist viel zu verkrampft.“ Sie präsentierte einen Käsekuchen: „Ich habe mir gedacht ...“
„...ich bring einen Kuchen mit, damit wir beim Warten auf das fertige Brot nicht verhungern“, rief Stephan. Er fing an zu lachen. „Sandra und Monica haben das gleiche gedacht und Astrid hat ihren Nusskuchen vor einer halben Stunde vorbeigebracht. Die Baumanns kommen gleich rüber.“
Vorm Haus hielt ein Wagen. Der Leutnant meldete weiteren Besuch. Peter und Karin Kowak kamen mit ihren jüngeren Kindern Mandy, Kevin und Finnja. Peter schleppte den Kowakschen Brotteig in einer großen Schüssel. Karin trug etwas auf einem Tablett: „Hallo zusammen.“ Sie stellte das Tablett auf einen der Tische.
„Ich habe mir gedacht ...“, fing sie an.
„... ich bring einen Kuchen mit, damit wir beim Warten auf das fertige Brot nicht verhungern“, grölte die ganze Bande lauthals. Alles lachte.
„Feiern wir halt eine Kuchenparty, bevor die Brotparty losgeht“, meinte Dominik pragmatisch. „Kuchen schmeckt auch gut.“ Er begutachtete Karins Backwerk: „Mmm! Krümelkuchen. Den lieb ich!“
„Es ist ein Streuselkuchen mit Kirschen aus dem Garten“, erklärte Karin.
Wieder bellte der Leutnant. Die Baumanns trafen ein.
Polly war glücklich. Jetzt hatte sie auch Selma bei sich. Nur Dunja fehlte. Die war übers Wochenende mit den Eltern weggefahren.
Baumanns vierjährige Tochter Nadja tapste zu Chayenne: „Ajenn.“ Dann sah sie die Geschwister Chayennes mit großen, fragenden Augen an.
Chayenne umarmte sie und stellte ihre Geschwister vor: „Das ist die Mandy. Die ist acht. Das ist der Lars. Der ist sieben. Das ist Kevin. Er ist fünf und das ist Finnja. Die ist so alt wie du.“
„Vier Jahre“, sagte Nadja.
Chayenne drückte sie: „Genau. Vier Jahre. Na? Wollt ihr nicht miteinander spielen?“
Pia wandte sich an Stephan: „Wo steckt Moni?“
„Beim Doc“, lautete die Antwort. „Sie hatte einen Termin und wollte ihn nicht verschieben. Sie kommt gleich.“
„Heute haben wir Pollys hunderteinundfünfzigstes Buch zur Post gebracht“, verkündete Sandra. „Das Buch steht erst seit drei Wochen im Internet und hat schon so viele Käufer gefunden.“ Polly war sichtlich stolz darauf, dass sich dermaßen viele Leute für ihr selbstgeschriebenes Muckefuck-Buch interessierten.
„Fangen wir an, die Brote zu formen“, schlug Stephan vor. „Im Häuschen habe ich zwei Tische dafür vorbereitet.“ Sie gingen nach drinnen und fingen an, aus ihrem Teig Brotlaibe zu machen.
Die Kinder blieben draußen und spielten einträchtig miteinander. Die Kleinen vergnügten sich mit großen Bauelementen aus weichem Kunststoff, aus denen sie sich auf der Wiese ein Haus bauten. Selma, Mandy, Polly und Chayenne halfen ihnen dabei. Danach stellten sie ein Kreuz mit nach oben ragenden Stielen auf und warfen Plastikringe. Wer die meisten Ringe auf die Stiele aufreihte, gewann.
Chayenne stellte sich ziemlich ungeschickt dran. Immer wieder verfehlten ihre Ringe die hochragenden Stiele.
„Ich verliere!“ jammerte sie. Sie tat verzweifelt: „Oh Heulchen, oh Flennchen, ich armes Chayennchen!“ Die Mädchen lachten.
Chayenne wurde ernst: „Opa hat geweint.“ Sie setzte sich ins Gras. Selma, Mandy und Polly setzten sich zu ihr. „Ich war vorgestern bei Opa Siegfried, weil Papa mit ihm über die Eisenbahn reden wollte. Der Opa hat mich auf seinen Schoß genommen, obwohl ich schon so groß bin und mich ganz fest gedrückt. Mein Schatz, meine kleiner Schatz, hat er immer wieder gesagt. Beinahe hätte ich dich verloren. Und plötzlich hat er ganz furchtbar geweint. Als die anderen Mädchen weg waren, hat er ein steinernes Gesicht gehabt und keine Gefühle gezeigt, wenn andere Menschen dabei waren. Aber vorgestern hat er ganz schrecklich geweint. Er hat geheult wie ein verwundeter Wolf.“
Chayenne schwieg einen Moment. Sie schaute zum blauen Himmel auf, an dem große weiße Wolken dahin trieben. „Es hätte ja auch nicht viel gefehlt, und er hätte mich nie wieder gesehen und ich hätte nie wieder so einen Himmel anschauen können.“ Ihre Stimme war ganz leise geworden. Sie wollte nicht, dass die kleineren Kinder hörten, was sie sagte. „Manchmal träume ich nachts von ihm. Vom Schratzl. Vom bösen Niedermeyer-Schratzl.“
Chayenne schluckte. „Ich wachte dort unten im Keller auf. Es ging ganz schnell. Ich habe geschlafen und dann war ich hellwach. Die Polizei hat mir gesagt, der Eugen hat mir ein Betäubungsmittel gegeben und im Keller ein Aufputschmittel gespritzt. Von dem wird man sofort wach. Ich lag auf so einem Tisch. Ich war ausgezogen und lag auf dem Rücken, die Arme und Beine ausgestreckt. An den Händen und Füßen war ich am Tisch festgeschraubt.“
Mandy, Polly und Selma lauschten mit aufgerissenen Augen.
„Richtig festgeschraubt“, wiederholte Chayenne. „Mit so Eisendingern. Die lagen über meinen Gelenken und die waren am Tisch angeschraubt. Ich konnte mich nicht rühren. Es war entsetzlich. Ich sah ein Tischchen neben mir stehen. Darauf lag Operationsbesteck – lauter scharfe kleine Messer und Bohrer und Dinger, die aussahen wie Korkenzieher und kleine Löffel mit ganz scharfen Kanten. Ich hatte furchtbare Angst.
Dann kam der Schratzl. Er war es wirklich. Er hatte einen Spitzbart und einen weit ausladenden Schnurrbart und einen Schlapphut. Er lächelte mich an. Vor dem Lächeln habe ich mich mehr gefürchtet als vor dem Operationsbesteck. Es war so ein böses Lächeln. So kalt. Ich habe Eugen erkannt, aber er war wie verwandelt. Er sah ganz anders aus. Böse und eiskalt. Und er lächelte dieses grässliche Lächeln.
Er schaute mich aus kalten blauen Augen an und erzählte mir lächelnd, was er mit mir anstellen wollte. Er wollte mich bei lebendigem Leib zu einer Elfe operieren. Ohne Betäubung.
Es wird sehr wehtun, kleine Chayenne, sagte er und er tat so, als würde er mich bedauern, aber seine Augen blieben eisig kalt.
Aber der Schmerz muss sein, Kleines, sagte er. Du musst den Schmerz durchschreiten, um durch den Transformationsprozess zu gehen.
Mir war schlecht vor Angst. Ich habe geweint und gefleht, er möge mich zu meiner Mama gehen lassen. Ich habe gesagt, meine Mama will mich so behalten, wie ich bin. Sie will keine Elfe. Aber er wollte nichts davon hören. Er sagte. Beruhige dich doch, Chayenne. Es kommt so oder so. Ich werde jetzt anfangen. Als erstes muss ich deine Bauchhöhle öffnen, um unter deine Rippen zu kommen. Dort beginne ich, die Membranen zu schaffen.
Dann beugte er sich über mich und erklärte mir ganz genau, wo und wann er mich schneiden wollte und was er wieder zusammennähen würde. Alles bei lebendigem Leib und ohne Betäubung.
Dann schnitt er mich mit einem Messer und dann war plötzlich die Polizei da. Sie kam im allerletzten Moment.“ Chayenne schaute zu Boden: „Wenn Stephan nicht gewesen wäre, hätte mich keiner gefunden. Dann hätte der Schratzl das Selbe mit mir gemacht wie mit meinen Cousinen. Er hätte mich tagelang zerschnitten und operiert und am Ende wäre ich dann unter Qualen gestorben.“
Polly legte ihr den Arm um die Schulter und drückt sie an sich. „Jetzt ist es vorbei, Chayenne.“
Chayenne schaute sie an. Sie schüttelte den Kopf: „Nein Polly. Es wird nie vorbei sein. Ich werde das nie vergessen können.“ Sie lehnte sich an Polly: „Es war fürchterlich. Aber wenn der Schratzl mich nicht verfolgt hätte, hätte ich dich nicht zur Freundin bekommen.“ sie guckte Polly ernst an: „Ich hatte nie eine richtige Freundin. Die anderen Mädchen wollten mich nicht. Weil ich eine Kowak war; eine vom „Gesocks“. Mit so einer wollten die nichts zu tun haben.“
„Ofen ist soweit!“ rief jemand. Die Mädchen sprangen auf. Sie liefen los. Sie wollten zusehen, wie der neue Backofen beschickt wurde. Die Kleineren ließen sich nicht in ihrem Spiel mit den Riesenbauklötzen stören.
Pollys Vater öffnete die Ofentür. Dominik und Stephan holten eine Zinkwanne und stellten sie darunter. Mit einem langen Schieber holte Georg Kolbe die Glut aus dem Ofen. Danach hängte seine Frau einen feuchten Lappen an einen Holzstiel und wischte den Boden des Ofens ab.
Nun wurden die Brotlaibe eingeschossen. Einen nach dem anderen wurden sie auf ein Holzbrettchen mit Stiel gelegt und in den Ofen geschoben. Als alle Brotlaibe drinnen waren, wurde die Ofentür geschlossen, um die Backhitze drinnen zu halten.
„Fertig“, verkündete Dominik. „Jetzt können wir uns am Kuchen stärken.“
„Erst räumen wir drinnen im Häuschen die Tische ab und machen sauber“, verlangte seine Frau.
„Och Pia“, maulte Dominik. „Du bist unruhig. Du bist viel zu verkrampft.“
„Keine Ordnung, kein Hörnerbock!“ verkündete Pia.
„Das ist eiskalte Erpressung“, jammerte Dominik. „Männer werden hier immer unterdrückt!“ Gezwungenermaßen beteiligte er sich an der Aufräumaktion. Danach setzten sich die Leute draußen an Tische und tranken Kaffee und aßen Kuchen dazu.
Die Männer sprachen darüber, dass sie nebenan an Eugen Niedermeyers ehemaliger Garage eine Schweinerei für Selma bauen würden. Selma hatte ja eins der Jungen von „Sir“ Henry, der Meersaudame, bekommen. Momentan hauste das Tier in einem Käfig und wartete auf Schweinerei und Gesellschaft. Ein zweites Schweinchen würde angeschafft werden. Chayenne hatte schon ihre zwei mitsamt dazugehörender Schweinerei.
„Wenn wir mit der Schweinerei fertig sind, geht es an der Feldbahn weiter“, sagte Georg zu Stephan.
Peter Kowak zog eine Landkarte aus der Tasche seiner Frau. Er faltete sie auseinander und legte sie auf den Tisch. Es war eine Flurkarte im Maßstab 1:5000. Er winkte Stephan zu sich: „Schau mal!“
Stephan sah sich die Karte an. Sie zeigte fein detailliert ein Stück von Rhensach und reichte bis nach Runsach hinüber. Jemand hatte mit gelbem Marker Flächen markiert.
„Das ist dein Grundstück“, erklärte Peter. „Hier, das Land dass dir der alte Sauter verkauft hat.“ Er zeigte auf Runsach: „Hier wohnen wir. Unser Grundstück endet dort oben, aber über die Wiesen habe ich Überfahrtrecht. Da bekomme ich keine Probleme. Im Gegenteil, es haben sich schon nahebei wohnende Verwandte gemeldet, die an die Bahn angeschlossen werden möchten. Man kann ja alles mögliche damit transportieren: Feuerholz, Erde, Kompost, die Obsternte und was weiß ich.“
Peters Zeigefinger fuhr über die Karte an einer gelben Markierung entlang: „Dieses Stück, das bis zum Waldrand reicht, werde ich mal erben und das dort vorne gehört mir schon lange. Das letzte Stück könnten wir von meinem Großcousin Marko günstig bekommen. Wir brauchen ja nur einen schmalen Streifen Land für die Bahn. Damit wären wir per Eisenbahn verbunden. Wir können von Grundstück zu Grundstück fahren.“
Peter umarmte seine Tochter, die sich vor ihn gedrängelt hatte, von hinten und wiegte sie: „Ich könnte Chayenne eine Draisine bauen mit einem kleinen Motor dran. Dann könnte sie zu ihren neuen Freundinnen fahren.“
Chayenne drehte sich in den Armen ihres Vaters um und fiel ihm um den Hals: „Au ja, Papa! Bittebitte bau mir eine Draisine. Dann können wir unsere Meerschweinchen hin und her transportieren und in unseren Schweinereien laufen lassen und die Nähmaschinen können wir auch per Bahn transportieren.“ Das Mädchen war hellauf begeistert.
Nun drängelten sich auch Selma und Polly an den Tisch. Sie starrten fasziniert auf die Karte und folgten mit den Augen dem Verlauf der Eisenbahn.
Peter Kowak klappte eine neue Karte auf und legte sie über die andere. Es war eine topografische Karte im Maßstab 1:50.000. Sie zeigte Rhensach, Runsach und Achen und sie zeigte den Semmersee, der acht Kilometer hinter Achen lag. Auch hier gab es Markierungen. Peter hatte zwei verschiedene Wege eingezeichnet: „Also hier oben am Wald entlang könnte man gut nach Achen durchfahren. Problem: Man müsste da hinten über die Straße. Die andere Strecke führt unten entlang. Dort soll irgendwann mal ein Naturschutzgebiet entstehen. Wenn dort die Strecke entlang liefe, könnte man die alte Straßenbrücke, die das Tal überquert unterfahren. Das wäre zwar ein kleiner Umweg, aber man spart die Überfahrt über die Straße.“
Peters Zeigefinger fuhr übers Papier: „Da führt das Wiesental mitten hinein nach Achen. Es reicht bis zum Bahnhof. Und jetzt kommt´s!“ Peters Augen leuchteten auf: „Die alte Bimmelbahnstrecke existiert noch komplett vom Achener Bahnhof bis zum Semmersee. Da ist nichts bebaut worden. Sogar der Schotterdamm liegt teilweise noch da. Man müsste nur die Schienen verlegen. Mein Vater hat mal seine Beziehungen aus Bürgermeisterzeiten spielen lassen.“ Er grinste Stephan an: „Es wäre tatsächlich möglich, das Land zu bekommen. Teilweise ginge Pacht. Den Rest direkt beim See müsste man kaufen. Es wird aber sehr günstig angeboten. Die anliegenden Gemeinden haben schnell kapiert, was eine solche Bahn für den Tourismus bedeuten würde.“ Er nannte einen Preis für das Land. Er war erstaunlich niedrig.
„Die Gemeinden wollen kein Geld, sie wollen die Bahn“, sagte Peter. „Daher geben sie die Grundstücke zu symbolischen Preisen her.“
Stephan war baff: „Ich glaubs nicht! Wir könnten von hier über Runsach und Achen durchbauen bis an den Semmersee.“ Er freute sich wie lange nicht. Vor seinen Augen wurde ein Traum wahr.
„Die Finanzierung stemmen wir, indem wir einen Feldbahnverein gründen“, schlug Peter vor. „Ich kenne eine Menge Leute, die sofort dabei wären. Wer würde nicht gerne mal am Wochenende Lokomotivführer spielen? Die helfen auch beim Bau der Strecke.“
„Die Bahn kann uns zur Schule fahren“, sagte Chayenne. Sie hängte sich an Polly. „Mensch, Polly! Das wäre doch toll, nicht?“
Polly nickte. Sie war genau so begeistert wie ihre Freundin. „Dann bauen wir uns einen Wohnwaggon. Das wird unser privates Wohnmobil auf Schienen.“
Ihr Vater stand neben ihr und schaute auf die Karte. Er wuschelte ihr durchs Haar: „Das wäre wirklich eine Idee.“ Er blickte seine Frau an: „Oder?“
Sandra nickte: „Eine richtig gute Idee, Männe.“
Von der Straße kam ein Auto aufs Grundstück gefahren. Es war Monica im Morgan. Sie steuerte den dunkelgrünen Sportroadster zur Garage und stoppte den Motor. Mit einem letzten Grollen erstarb die Maschine. Monica stieg aus und kam zu ihnen: „Ist das Brot schon im Ofen?“
Stephan nickte. Er umarmte sie: „Die Arbeit hast du dir gespart.“
Monica küsste ihn und lächelte ihn an: „Gut so. Ich werde mich schon bald schonen müssen. Der Doktor hat es bestätigt. Ich bin im vierten Monat. Auf dem Ultraschall hat man alles gesehen.“
„Echt?“ Polly machte vor Begeisterung einen Luftsprung: „Och bitte, darf ich Patentantchen werden?“
Monica nickte ihr lächelnd zu: „Gerne, Liebes.“
„Was wird es denn?“ wollte Polly wissen.
„Ein Meerschweinchen“, sagte ihr Vater mit todernstem Gesicht. Alles lachte los.
Polly nahm ihren Vater ins Visier: „Also Papa! Wirklich! Weißt du was? Du bist unruhig. Du bist viel zu verkrampft.“
Nun lachten sie alle noch lauter, auch Polly. Sogar der Leutnant lachte mit.
Chayenne hakte sich bei Polly unter. Sie lehnte sich an ihre neue Freundin. An den Schratzl wollte sie nicht mehr denken. Den würde sie hinter sich zurücklassen. Chayenne war durch und durch glücklich. Sie sah eine wunderschöne Zukunft vor sich.
Sie hatte eine Freundin gefunden. Sie wusste, diese Freundschaft würde ein ganzes Leben lang halten.


E N D E


Dieser Roman wurde am 24. 01. 2015 begonnen und am 11. 04. 2015 beendet.

11.04.2015 16:52 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
Zaunkönig
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Ein schönes und würdiges Ende einer Geschichte, die zeitweise arg aufregend war für einen Zaunkönig.

12.04.2015 01:29 Zaunkönig ist offline Email an Zaunkönig senden Beiträge von Zaunkönig suchen Nehmen Sie Zaunkönig in Ihre Freundesliste auf
schnukkel schnukkel ist weiblich
Grünschnabel


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Vielen Dank für die schöne Geschichte, Stefan - für mich die beste seit Winterkind. Ich bin gerade auf Maloche, daher habe ich wenig Zeit gerade für einen ausführlichen Kommentar, der wird aber nachgeliefert.

12.04.2015 22:13 schnukkel ist offline Beiträge von schnukkel suchen Nehmen Sie schnukkel in Ihre Freundesliste auf
 
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