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Stefan Steinmetz
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Dabei seit: 10.02.2006
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Die großen Steine(8) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Die großen Steine - Kapitel 8

Die Maschine stand aufgetankt und abflugbereit auf dem Flugfeld. Im hellen Sonnenlicht wirkte sie fremd auf Caro. Sie hatte das Flugzeug im letzten Abendlicht gesehen und als sie in Bayern gelandet waren, war sie viel zu viel mit sich selbst und den unglaublichen Veränderungen beschäftigt gewesen, die ihr widerfahren waren, um den Vogel auch nur eines Blickes zu würdigen. Als sie umgezogen wieder draußen war, war ihr nur die seltsame Plakette am Tankstutzen aufgefallen.
Heute sah es anders aus. Sie betrachtete die Focke Wulf 190 eingehend. Es war ein gedrungen wirkendes Jagdflugzeug mit Sternmotor. Alles an der Maschine wirkte gedrungen und kraftgeladen, gleichzeitig aber elegant und leicht. Dieses Ding aus Stahl und Aluminium war zum Fliegen gemacht; das erkannte man auf den ersten Blick. Die Schnauze mit der großen dreiflügeligen Luftschraube ragte keck in den Himmel.
Das Flugzeug war nicht in Flecktarn angestrichen wie die Kampfflugzeuge im Zweiten Weltkrieg. Die Eule hatte sich für ein helles Walnussbraun entschieden. Die Unterseite der Flügel waren karmesinrot und sie hatten zwei dünne Längsstreifen in Elfenbein.
Er trat neben sie: „Bist du dir wirklich sicher? Du kommst nicht mit?“
Sie lächelte Martin Welter an: „Nein. Ich bleibe.“
Er lächelte zurück: „Dachte ich mir schon.“ Seine Augen schimmerten warm und weich: „Du siehst gut aus, Caro. Richtig gut. Es gibt nichts Schöneres, als in die Augen eines Mädchens zu schauen, das total verliebt ist.“ Er nickte: „Es hat sich gelohnt, dich mitzunehmen. Wenn ich dich so ansehe, weiß ich, dass es eine gute Entscheidung war. Die richtige Entscheidung.“
Er seufzte. „Schade, dass ich das Fest des Heiligen Alfons verpasse. Es wird dir gefallen. Es ist echt eine Schau. Es ...“ Er machte eine hilflose Geste, als er nach Worten suchte. „Es ist mehr als nur ein Fest. Die Atmosphäre … Die Menschen … Alle sind … irgendwie anders. Jeder ist gut gelaunt. Alle sind nett zueinander. Kein Streit. Kein Gemaule. Wenn irgendwo Kinder an einem Karussell stehen und keine Münzen haben, um mitzufahren, kommt gleich einer daher, der ihnen ein paar Fahrten bezahlt. Man tanzt. Man isst und trinkt. Man ist gut drauf. Es sind unzählige Fremde in der Stadt und doch sind alle wie eine große Familie.
Als ich damals mit Heidi ...“
Seine Stimme brach. Er starrte stumm in die Ferne, wo am Himmel ein Luftschiff schwebte.
Caro berührte ihn am Arm: „Martin?“
Langsam drehte er den Kopf. Sah sie an.
„Martin, ist es das wert? Wozu noch einmal dorthin zurück? Lass doch das Silber dort.“
Sie sah das schmerzliche Zucken in seinen Augen. Sie hatte ähnlich gesprochen wie Heidi viele, viele Jahre früher.
„Es ist nicht das Silber“, sagte er. „Ich muss meinen Nachlass ordnen, mein Testament machen und beim Notar hinterlegen. Und ich brauche die Computer und die Kameras. Hier gibt es nichts Gescheites. Ich will filmen und fotografieren, auch wenn ich mir alles nur auf dem Schirm eines Laptops anschauen kann. Und meine Schreibe. Ohne die geht es nicht. Alles kommt auf Speichersticks und CDs. Ich bringe einen Drucker mit und genug Toner, um hier in Bayern alles auszudrucken. Elektrizität haben sie ja hierzulande.
Dann ein paar Erinnerungen, auf die ich nicht verzichten möchte. Mein Leben dort drüben war vielleicht beschissen, aber es gab auch Gutes und ich will wenigstens ein paar Fotos mitbringen.“
Caro griff in ihre Umhängetasche und reichte ihm ein Päckchen im Format DIN A 4: „Tust du mir bitte einen Gefallen? Nimm das mit und schick die Briefe ab. Es müssen noch Briefmarken drauf. Die gehen an meine Familie, an Freunde und … ich wollte halt nicht einfach verschwinden. Keine Angst, vom Königreich Bayern steht nichts drin.“
Er öffnete den Packen. Drinnen lag ein Schnellhefter aus Pappe. Er enthielt einige Briefumschläge und lose Blätter. Martins Augen wurden groß: „Deine gesamten Daten! Login-Daten fürs Internet! Mensch Caro!“
„Damit du alles abmelden kannst und löschen“, sagte sie. Sie fühlte Wehmut in sich aufsteigen. Jetzt tat es ja doch weh. Und wie. „Da ist auch ein Abschiedsposting von mir. Ich möchte, dass du mit meinen Daten auf Sellerie einloggst und dieses Abschiedsschreiben für mich online stellst. Es ist eine Erklärung, dass sich meine Lebenssituation grundlegend geändert hat und ich nicht mehr in der Seilerei einloggen werden. Ich wollte nicht einfach so verschwinden.“
Martin nickte: „Geht klar, Caro. Mach ich.“
Caro betrachtete versonnen das Flugzeug auf der Wiese: „Ich kapiere es immer noch nicht.“
„Was?“ wollte er wissen.
„Wie du so schnell zur Stelle sein konntest. Als du mir die PNs geschrieben hast. Auf Sellerie. Ich habe auf die Uhr geschaut. Es waren gerade mal achtunddreißig Minuten. Es gibt doch so etwas wie eine Vorflugkontrolle. Man muss ein Flugzeug flugfertig machen. Dann den Motor starten und ihn warmlaufen lassen. Das hast du in deinen Nachtkindromanen beschrieben. Die Motoren der Weltkriegskampfflugzeuge mussten warmlaufen, sonst wären sie beim Start kaputt gegangen.“
„Ist ja warmgelaufen“, sagte Martin. „Ich hab den Vogel abflugbereit gemacht und nebenbei am Laptop auf Sellerie mitgelesen und geschrieben. Zum Schluss hockte ich im Cockpit und sendete dir eine PN nach der anderen, während der Motor warmlief. Als du mir grünes Licht gegeben hast, brauchte ich nur den Laptop zuzuklappen und Gas zu geben und zu starten. Während ich auf deine Antwort wartete, habe ich auf Google Earth deinen Standort ausgekundschaftet und eine passende Stelle zum Landen gesucht.
Dann hast du zugesagt. Ich habe den Seesack rausgeschmissen, die Kanzel zugemacht und bin los. Mit über siebenhundert Sachen war ich schnell bei dir und landete draußen in den Wiesen. Der Fußmarsch dauerte keine zehn Minuten.“
Er lachte sie an: „Du hast mal zur Faschingszeit deine Heimatstadt plus das Viertel, in dem du wohnst, erwähnt. Habe ich mir gemerkt.“
Sein Lachen verbreiterte sich: „Nur dass ich keine Außenlandegenehmigung hatte. Das hätte ein Problem werden können. Wenn jemand die Polizei gerufen hätte, das wäre blöd gewesen. Aber ich verließ mich drauf, dass keiner merken würde, wie ich auf der Wiese lande. Hat ja auch geklappt. Dann habe ich dich in den Vogel verfrachtet und bin mir dir nach Bayern rüber.“
Caro merkte auf: „Seesack? Was für ein Seesack?“
„Na der Seesack, in dem ich die Laptops und Kameras drin hatte“, antwortete Martin. „Die Ladegeräte und Ersatzakkus. Meine Speichersticks und CDs und all das Zeugs.“
Caro erschrak: „Das hast du meinetwegen zurückgelassen?“ Sie starrte Martin aus aufgerissenen Augen an: „Willst du damit sagen, ohne mich hättest du alles bereits hier und müsstest nicht mehr zurückfliegen?!?“
Er lächelte sie freundlich an: „Komm mal wieder runter, ja. Ich hatte sowieso zwei Touren geplant. Nun hat es sich halt um einen Termin nach hinten verschoben. Es ist schade, dass ich das Fest des Heiligen Alfons verpasse, aber nächstes Jahr ist ja wieder eins. Kein Problem.“ Er lachte sein jungenhaftes Lachen. „Kein Grund, in Tränen auszubrechen, putzige Lady.“ Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Backe: „Ich muss los. Bis in vierzehn Tagen.“
Er stapfte zu seinem Flugzeug und kletterte ins Cockpit.
Sie blieb stehen und hörte dem Wimmern des Scheibengenerators zu, der auf Touren kam. Dann startete der riesige Sternmotor. Gott, war das Ding laut. Man konnte die Kraft, die in dieser Maschine steckte, hören. Eine Weile stand die Focke Wulf mit laufendem Motor da. Dann gab Martin Gas und das Flugzeug setzte sich in Bewegung. Er winkte zum Abschied. Caro winkte zurück und schaute dem aufsteigenden Jagdflugzeug hinterher, das in der Ferne verschwand. Irgendwann verstummte der Motor. Sie hörte nichts mehr. Die Eule war auf die andere Seite geflogen, wo auch immer er im Sturzflug heruntergekommen war.
Caro spazierte zu ihrem Häuschen. Sie war nachdenklich und in sich gekehrt. Das Martin seine Sachen zurückgelassen hatte, als er sie mitnahm, machte ihr zu schaffen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen.
Na schön, in vierzehn Tagen würde er zurück sein und dann war alles gut.

*

Es war Fronleichnam. Caro und Peter saßen in einem Abteil Erster Classe im Schnellzug nach Saarbrücken-Nassau. Gerade passierten sie die Stelle, an der auf der anderen Seite der Saar Caros Pension zu sehen war. Caro fühlte pure Freude in ihrem Herzen aufsteigen.
Peter hatte sich wie versprochen um Handwerker gekümmert, die sich das alte Haus vom Dachboden bis zum Keller angeschaut hatten. Es war einiges zu tun, um die Pension wieder wohnlich zu machen. Für die Arbeiten wurden drei Monate veranschlagt. So lange würde Caroline in ihrem Häuschen auf dem Flughafen wohnen.
Nachdem sie ihre zukünftige Heimat passiert hatten, blätterte Caro in dem kleinen Heftchen, das auf ihrem Sitzplatz gelegen hatte. Überall im ganzen Zug hatten die Hefte gelegen. In Worten und Bildern wurde beschrieben, was es mit dem Fest des Heiligen Alfons auf sich hatte.
Der Heilige Alfons war ein frommer Mönch und er war vor gut tausend Jahren in die Gegend an der Saar gekommen, um die Menschen im Lande zum Christentum zu bekehren. Er wurde von Barbaren getötet. Eine Schar frommer Kinder wollte den Leichnam ihres Glaubenslehrers zu Grabe tragen. Da ketteten die Barbaren die Kinder an ein Tragegestell, auf dem der Sarg des Alfons lag. In Ketten und ohne Schuhe an den Füßen mussten die armen Kinder den schweren Sarg durch Dornengestrüpp tragen und über weite Strecken mit scharfkantigen Steinen schleppen. Dabei wurden sie von den grausamen Barbaren mit Peitschenhieben angetrieben, bis sie nach vielen Kilometern vor Erschöpfung zusammenbrachen.
Die Kinder wurden von den Barbaren auf grauenhafte Weise ermordet.
An jener Stelle hat man den Heiligen Alfons begraben und eine Kirche über seinem Grab errichtet. Auch die Kinder wurden in der Kirche begraben. Der Legende nach wurden die Märtyrerkinder sofort zu Engeln und fuhren in den Himmel auf.
Dann ereignete sich im Jahre 1568 das große Erdbeben, als im nahen Lothringen ein Komet niederging und die Erde erzittern ließ. Nördlich von Saarbrücken-Nassau hob sich die Erde wie ein Wall, im Süden sank sie ein Stück weit ab. Die Saar wurde aufgestaut und ein See bildete sich. Das steigende Wasser kam immer näher an die Wohnsiedlungen heran. Wochenlang beteten die Menschen, das Wasser möge ihre Häuser verschonen. Sie flehten den Heiligen Alfons und die Märtyrerkinder um Hilfe gegen die Wassermassen an.
Und das Wunder geschah. Direkt bei der Kirche des Heiligen Alfons hörte das Wasser des neugebildeten Sees auf zu steigen. Seitdem steht die Märtyrerkirche am Seeufer. Der Heilige Alfons hat die Stadt Saarbrücken-Nassau gerettet.
Seither wird das Martyrium der Engelkinder jedes Jahr in einer großen Prozession nachgespielt. Zwanzig Kinder in Engelskostümen tragen den Sarkophag des Heiligen quer durch die Stadt zur Märtyrerkirche.
Caro schloss das Heftchen: „Seit so vielen Jahren.“
Peter nickte: „Aus Dankbarkeit für die Errettung unserer Stadt vor den Fluten. Es ist eine altehrwürdige Tradition.“
Der Zug lief in den Bahnhof von Saarbrücken ein.
Der schöne Tag begann.
Zuerst sahen sie der Prozession zu. Ein endloser Lindwurm aus Musikkapellen, Vereinswagen, die von Pferden oder Lokomobilen gezogen wurden und marschierenden Gruppen zog an ihnen vorbei durch die Innenstadt. Schulkinderchöre in bunten Trachten sangen und spielten auf Flöten. Ständig gab es neue Sensationen zu bewundern.
Dann, ganz zum Schluss, kamen die Engelkinder. Zwanzig Schulkinder in Engelskostümen mit angeklebten Flügeln trugen den Sarkophag des Heiligen, der auf zwei lange Tragestangen montiert war. Vorne und hinten waren jeweils fünf Kinder mit vergoldeten Handschellen an die die Stangen gekettet. Barfüßig schritten sie über das Kopfsteinpflaster. Vor ihnen liefen andere Kinder, die aus Körben Blüten auf die Straße streuten. Diese Engelkinder mussten nicht über Dornen und scharfkantige Steine laufen wie ihre Vorgänger vor tausend Jahren.
Die Menge jubelte. „Hoch! Hoch! Ein Hoch auf die Märtyrerkinder! Es lebe der Heilige Alfons!“
Hinter dem Sarkophag des Heiligen endete die Prozession. Die Menschen schlossen sich dem Zug an und folgten ihm zur Märtyrerkirche. Dort wurde der Heilige in seine Krypta gebettet und eine Messe gehalten.
Danach ging das Feiern los. Die ganze Stadt stand Kopf. Am See gab es eine riesige Kirmes mit Karussells und Fahrgeschäften, die von Dampfmaschinen angetrieben wurden. Große Kirmesorgeln spielten bekannte Weisen. Ganze Straßen aus Verkaufsbuden lockten Kundschaft an und allerorten spielten kleine und große Orchester zum Tanz auf.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Caro die treibende Musik der Franznen. Sie tanzte mit Peter, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Den ganzen Tag waren sie auf den Beinen. Caro wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Sie war trunken von den Festlichkeiten, trunken von der wundervollen Atmosphäre auf der Kirmes, trunken von der Musik und trunken vor Verliebtheit. Sie wünschte sich, dass dieser Tag nie enden möge.
Am Abend bestiegen sie einen schmucken Dampfer, der sie auf den Saarsee hinaus brachte. Dort lag das Schiff über eine Stunde lang still auf dem Wasser und Caro konnte die vielen Flämmchen der Kerzenlampen auf dem See anschauen. Der Anblick war überwältigend. Der gesamte See schien von innen heraus zu glühen. Zehntausende von kleinen Lichtern schwammen auf dem Wasser.
Gegen zehn Uhr am Abend ließ der Dampfer seine Maschinen anlaufen und dann ging es nach Norden. An Bord spielte eine Kapelle abwechselnd Walzer und britannischen Buggie-Wuggie. Caro und Peter tanzten ohne Pause.
Dann tranken sie einen Schoppen Weizenbier am Ausschank.
„Wollen wir einander das Du anbieten?“ fragte Peter.
„Ja Peter“, antwortete Caro. „Nur zu gerne.“
Er verabschiedete sie am Haltepunkt der Schmalspurbahn am Lufthafen. Dabei verabredeten sie sich für einen der folgenden Tage zu einer Wanderung.
„Ich hole dich an der Pension ab“, versprach Peter. Dann stieg er in die Bimmelbahn und entschwand in der Ferne.
Caro lief zu ihrem Häuschen. Sie war selig. Sie war glücklich wie noch nie.

*

Einige Tage später wartete Caro vor ihrer Pension auf Peter. Er hatte sie mehrere Male besucht und sie hatten gemeinsam Spaziergänge gemacht und sich unterhalten. Jede Minute mit dem jungen Mann ließ Caros Herz klopfen. Sie hatte nicht gewusst, wie schön es war, zu lieben.
Jetzt stand sie vorne am Treidelpfad am Schildergalgen. Sie hatte bereits ein neues Schild in Auftrag gegeben. „Kaffeetante Caro“ sollte draufstehen. So wollte sie ihr Gartenlokal nennen.
Caro schaute sich um. Es war kein Mensch zu sehen. Die Handwerker waren hinterm Haus und beschäftigten sich mit dem Anbringen neuer Fensterläden.
Caro streckte die Arme über den Kopf. Sie hielt sich am Galgen fest, an den das Schild gehängt werden sollte. Aufgeregte Gedanken in ihrem Kopf: In der Pension befand sich eine spezielle Schule für höhere Töchter und im Unterricht wurden nicht nur Sachen wie Sticken und Nähen und Hauswirtschaft an die Mädchen herangetragen, sondern es gab regelmäßig Stunden, in denen die Mädchen gefesselt wurden. Quasi als Werbung wurde täglich ein Mädchen draußen an den Galgen gebunden, damit vorbeikommende Leute gleich sehen konnten, um was für eine Schule es sich handelte. Still hing Caro da und stellte sich vor, sie sei an den Mast gefesselt. Eine coole Phantasie! Das machte Laune!
Plötzlich erkannte sie eine Bewegung im Augenwinkel. Peter kam von hinten ums Haus herum. Sie hatte die Bimmelbahn nicht gehört.
Hastig ließ Caro den Galgen los und stellte sich hin.
Hoffentlich hat er das nicht gesehen, dachte sie und fühlte sie wie rot wurde. Erst in Saarbrücken die Laterne und jetzt der Schildermast. Urks!
Peter begrüßte sie freundlich. Er hatte einen Rucksack dabei mit Picknickutensilien. Sie wollten durch die Gegend wandern und im Wald ein Picknick abhalten. Anschließend wollten sie mit der Schmalspurbahn zurückfahren.
Sie stromerten kreuz und quer durch die Natur. Peter kannte sich aus und führte Caro über breite Feldwege und schmale Fußpfade. Er zeigte ihr Plätze, an denen er als Kind mit seinen Freunden gespielt hatte – kleine Tümpel, in denen sich allerlei Wassergetier tummelte und einen sandigen Hang, in den sie im Alter von zehn Jahren eine Höhle gebuddelt hatten.
Sie wanderten unter hohen Alleebäumen dahin und ließen sich von Pferdefuhrwerken überholen und sie stiegen auf Hügel, um die Aussicht zu genießen.
Schließlich landeten sie auf einer kleinen Lichtung in einem Waldstück nicht weit von der Saar entfernt.
„Mein Geheimplatz“, meinte Peter mit spitzbübischem Grinsen. „Kein Mensch kennt diese Stelle. Hier können wir völlig ungestört unser Picknick abhalten.“
Das taten sie. Nach dem Essen lagen sie auf der Decke und schauten in den Himmel hinauf. Sie beobachteten große, weiße Wolken und versuchten Figuren darin zu erkennen. Es gab einen dicken Hasen, ein Schwein mit zwei Köpfen, ein Haus mit schiefem Dach, eine gekrümmte Lokomotive, ein großes Speichenrad und seltsame Schäfchen mit sechs oder sieben Beinen.
Irgendwann stand Caro auf. Sie schritt am Rande der Lichtung entlang und schaute sich die Rinde der Bäume an. Peter holte etwas aus seinem Rucksack, steckte es ein und folgte ihr. Er erklärte ihr die Bäume. Da war eine knorrige Eiche, eine Buche mit glatter Rinde, eine Kiefer mit dicker Borke und es gab Birken mit weißer Rinde.
An einer jungen Buch blieb Peter stehen. Caro stand mit dem Rücken an den Baumstamm gelegt und schaute zu ihm auf. Er fasste nach ihren Händen und zog ihr die Arme über den Kopf. Sanft drückte er ihre Handgelenke gegen den Baumstamm: „Caroline?“ Sein Gesicht war dem ihren ganz nahe.
„Ja, Peter?“
„Ich glaube, ich muss dich jetzt küssen.“
Sie lächelte, während ihr Herz galoppierte wie ein Rennpferd: „Und wenn ich mich wehre?“
„Oh!“ Er trat einen Schritt zurück. Caro blieb stehen, die Arme über den Kopf gestreckt. Sie wartete still und ergeben. Natürlich wollte sie, dass er sie küsste. Und wie. „Dann bin ich leider gezwungen, dich davon abzuhalten, dich zu wehren.“
Als Caro sah, was er aus der Tasche zog, schlug ihr Herz noch schneller. Es war ein Seil.
„Ich muss dich jetzt leider fesseln, Liebes“, sprach Peter sanft. „Damit du dich nicht wehren kannst.“ Er packte ihre Hände und schlang das Seil hurtig um ihre gekreuzten Handgelenke. Caro wehrte sich kein bisschen. Sie stand stocksteif und hielt still. Sie war fassungslos. Sie glaubte zu träumen.
Nachdem Peter ihr die Handgelenke verschnürt hatte, zog er ihr die Arme über den Kopf und dort oben schlang er das überstehende Seil einmal um den kaum zwanzig Zentimeter dicken Buchenstamm herum. Er machte einen Knoten.
„Fertig“, meinte er zufrieden. Er lächelte sie an. „Jetzt bist du hilflos gebunden und mir ausgeliefert. Du kannst dich nicht wehren, wenn ich dich küsse.“
Caro hing am Baum, von der Fesselung leicht gestreckt. Peter hatte das Seil gut fest geschnürt. Sie kam nicht aus der Bindung heraus, aber der Strick schnitt ihr nicht ins Fleisch. Sie war aufgeregt wie noch nie und sie fühlte sich unbeschreiblich wohl.
Peter näherte sein Gesicht dem ihren. Sie schaute aus großen Augen zu ihm auf. Dann küsste er sie.
Caro war froh um das Seil, dass ihre Hände festhielt, denn ihr wurden die Knie so weich, dass sie zusammengeklappt wäre, hätte die Fesselung sie nicht gehalten.
Als Peter zurückwich, um sie anzulächeln, lächelte sie zurück. Tausend kleine Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch herum.
„Ich liebe dich“, sagte sie leise. „Peter Lange, ich liebe dich!“

*

Caro stand vor den Luftschiffhallen und wartete. Immer wieder blickte sie auf ihre nagelneue Armbanduhr – ein Geschenk von Peter. Von ihrem geliebten Peter. Von ihrem Liebsten.
Caro floss über vor Glück. Sie hätte die ganze Welt umarmen können. Sie und Peter waren zusammen. Caro ging nicht durchs Leben, sie schwebte. Sie lief wie auf Wolken. Sie hatte nicht gewusst, dass ein Mensch dermaßen glücklich sein konnte.
Voller Ungeduld wartete sie auf Martin Welter. Sie wollte sich bei ihm dafür bedanken, dass er sie eingeladen hatte, mit ihm ins Königreich Bayern zu kommen. Sie würde ihm um den Hals fallen und sich pausenlos bei ihm für seine noble Geste bedanken.
Wieder schaute sie auf ihre Uhr. Wo blieb die Eule? Er hatte ihr die genaue Zeit genannt. Inzwischen war er eine Viertelstunde überfällig.
Er wird wohl nicht auf die Minute genau am Himmel über dem Durchgang erscheinen können, überlegte sie. Er muss ja einen ziemlich langen Anflug hinter sich bringen. Vielleicht hatte er Gegenwind oder musste einem Gewitter ausweichen.
Sie grübelte vor sich hin. Wie lange stand dieser ominöse Durchgang eigentlich offen? Eine Viertelstunde wie in „Der Durchgang“? Oder eine halbe Stunde? Eine Stunde? Zwei? Den ganzen Abend? Sie wusste es nicht. Sie hatte Martin nicht gefragt.
Aber mit jeder Minute, die verging, ohne dass die Focke Wulf mit röhrendem Motor am blauen Himmel erschien, wurde sie unruhiger. Wo blieb die Eule? War etwas dazwischen gekommen? Hatte sein Flugzeug einen Motorschaden? Was konnte Martin hindern, den Durchgang zu durchfliegen?
Caro ballte die Hände zu Fäusten: „Komm schon! So komm doch! Bitte!“
Er kam nicht.
Sie wartete eine halbe Stunde. Sie wartete eine ganze Stunde. Sie wartete den ganzen Nachmittag.
Als es Abend wurde, gab sie es auf. Mit hängenden Schultern ging sie zu ihrem Häuschen. Sie machte sich schreckliche Sorgen. Irgendetwas musste passiert sein. Immer wieder musste sie daran denken, dass er sein ganzes Zeug drüben zurückgelassen hatte, damit er sie auf den Prinzessinnensitz verfrachten konnte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als vierzehn Tage zu warten.

*

Zwei Wochen später wartete Caro wieder auf Martin.
Er kam nicht.
Nicht Mittags, nicht am frühen Nachmittag und nicht am frühen Abend.
Er kam nicht.
Caro war wie erschlagen.
Ihm ist etwas passiert, dachte sie und der Gedanke ließ ihr Herz zu einem kalten Klumpen zusammenschrumpfen. Etwas ist geschehen.
War der Durchgang zu, als er im Anflug war?
Was passierte dann eigentlich? Er hatte gesagt: Dann wären wir nicht durchgekommen.
Aber was bedeutete das? Dass sein Flugzeug sich mit brüllende Motor in die Erde bohrte und in einem Feuerball explodierte? Bei dem Gedanken blieb Caros Herz für einen Moment stehen. Nein! Oh nein!
Dann kam ihr ein neuer Gedanke. Er kam angeschlichen wie eine bissige Hyäne in der Nacht, wie ein grausiges Raubtier, dass sie mit geöffnetem Fang ansprang, um ihr die Kehle aufzureißen.
Sie sah Martin durch die eisige, dunkle Zwischenwelt fliegen und hörte das bösartige Nageln des Dieselmotors. Die Kälte. Die ungeheuerliche Kälte.
Der Motor bekam Aussetzer. Er begann zu stottern. Sie sah Martin an seinen Kontrollschaltern herum fummeln, hörte ihn fluchen: „Komm schon, du Krücke! Es ist nur noch ein Kilometer!“
Dann ein Knall und der Motor setzte aus. Tödliche Stille. Nur das Brausen der am Flugzeug vorbei streichenden Luft war zu hören. Ohne Antrieb fiel die Focke Wulf wie ein Stein vom Himmel. Sie schlug mitten in dem dunklen Sumpf auf. Morastfontänten spritzten nach allen Seiten. Sofort begann das Flugzeug im weichen Untergrund zu versinken. Martin öffnete die Kanzel und schaute sich gehetzt um. Wohin sollte er sich wenden? Wohin konnte er sich wenden?
Und dann kamen die schaurigen Lebensformen der Zwischenwelt von allen Seiten auf ihn zu.
„Nein!“ Caro schlug die Hände vors Gesicht. „Oh Gott! Nein! Bitte nicht! Bitte!“
Konnte das geschehen sein?
Konnte es?
Es konnte. Sie wusste es. Es konnte genau so geschehen sein.
Oder anders.
Vielleicht hatte Martin einen Verkehrsunfall gehabt. Vielleicht lag er mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus und konnte den Durchgang nicht benutzen.
Vielleicht …
Aber egal wie sie es drehte und wendete: Martin Welter kam nicht und der Durchgang war mit dem heutigen Tag verschlossen.
Auf zwanzig Jahre.
Zwanzig Jahre.
Oh mein Gott! Er kann erst in zwanzig Jahren kommen!
Caro begann zu weinen.
In zwanzig Jahren.
Wenn er dann noch lebt. Wenn ihn der Diabetes nicht bis dahin fertig gemacht hat.
Diabetiker hatten ein erhöhtes Herzinfarktrisiko. Und sie bekamen fünfmal häufiger Schlaganfälle. Sie hatte darüber gelesen.
Zwanzig Jahre.
Wenn überhaupt. Wenn es nicht die entsetzliche Szene in der eisigen Düsternis der Zwischenwelt gegeben hatte. Immer wieder tauchte das grauenhafte Szenario vor ihrem inneren Auge auf. Das abgestürzte Flugzeug. Martin allein und hilflos im Sumpf und dann kamen die schrecklichen Kreaturen.
Caro weinte. Sie konnte nicht anders.
„Es tut mir Leid“, schluchzte sie. „Martin, es tut mir so Leid! Wenn du mich nicht mitgenommen hättest, wärst du längst hier. Es tut mir Leid!“

06.11.2014 11:29 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
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Warum bekomm ich immer feuchte Augen beim lesen dieser Geschichte? Vieleicht möchte ich auch dort hin und mein hier einfach zurücklassen? Manno Du bringst mich auf Gedanken! Warte schon gespannt was mit Martin passiert ist.smile)

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Was ist der Mensch - nur ein flüchtiger Gedanke - nicht zu greifen - nicht zu fassen. Stets schweigend mit sich im Gespräch vertieft durforsch er sich und findet sich nie.
Der Traum ist die wahre Wirklichkeit. großes Grinsen

07.11.2014 00:31 carolne1960 ist offline Email an carolne1960 senden Beiträge von carolne1960 suchen Nehmen Sie carolne1960 in Ihre Freundesliste auf
 
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