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Stefan Steinmetz
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Dabei seit: 10.02.2006
Beiträge: 1732

Die großen Steine(1) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Die großen Steine - Kapitel 1

(Alles an dieser Geschichte ist reine Erfindung. Ähnlichkeiten mit heute noch lebenden Flugzeugen und persönlichen Personen von einer anderen Internetseite sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.)

Es war ordentlich was los in der Taverne. Caro trank einen Schluck Kaffee. An der Bar in der Taverne gluckerten Waldohreule und Tomek einen schottischen Whiskey. Wie üblich behauptete Tomek, nur schottischer Whiskey sei richtiger Whiskey und die Eule behauptete prompt, ein schön cremiger Bourbon mit Vanillearoma sei ebenso gut.
"Streitet nicht, sonst landet ihr im Verlies!" drohte Kerker-Karl mit einem Lachsmiley hinter seinem Posting.
"Die Stänker einsperren", rief der Frosch. "Sperr sie ein, Kerkermeistern! Quaack!"
"Ja einsperren", stimmte Hannes-der-Glöckner zu. "Eingesperrt. Zugesperrt. Weggesperrt. Dann kann ich den Whiskey alleine austrinken."
Herrin Ninette loggte sich ein. "Guten Abend Leute", schrieb sie in den Tavernen-Thread.
"Nahmt Ninette", schrieb Tomek. "N Whiskey gefällig?"
"Ich trinke nur Tee oder Sekt", gab Ninette zurück. "Außerdem habe ich gerade einen Salat gegessen."
"Auf Sellerie darf man alles trinken", schrieb die Waldohreule. "Prost Gemeinde, der Pfarrer säuft."
Caro musste lächeln. Sellerie. Seit Jahren nannten sie die Seilerei intern so. Irgendjemand hatte sich vor fünf Jahren mal vertippt und Sellerie statt Seilerei geschrieben. Soweit sie sich erinnerte, war es KCruiser mit seinem Zweifinger-Suchsystem gewesen. Es hatte ein großes Gelächter gegeben und fortan nannte man die Seite Sellerie.
Richtig hieß sie www.seilerei.de. Den Namen hatte sich Kerker-Karl gleich zu Beginn ausgedacht, weil er irgendwie passend war. Natürlich hätte er lieber was mit Ketten gehabt, aber mit Ketten war schon alles vergeben.
Sowieso handelten die meisten Storys auf Seilerei von Seilen und Stricken. Es ging schließlich um Bondage, also um Fesselndes.
Caro las die Geschichten gerne. Sie träumte dann vor sich hin beim Lesen und stellte sich vor, das eine oder andere Fesselerlebnis aus den Geschichten mal im realen Leben nachzuspielen.
Sie seufzte. Es war schwierig genug, einen Partner zu finden, der auf Bondage stand. Schon Normalos hatten damit Probleme. Was sollte sie erst sagen?
In zwei Wochen war die OP. Nur noch vierzehn Tage. Es war ein eigenartiges Gefühl. Caroline hatte es immer wieder hinausgeschoben, hatte es jahrelang vor sich hergeschoben. Als sie sich dann endlich dazu durchgerungen hatte, die OP machen zu lassen, war das mit einem irrsinnigen bürokratischen Aufwand einhergegangen. Fast zwei Jahre hatte es sie gekostet.
Drachenjäger betrat die Taverne: "Ist noch Bier da?"
"Nee! Die Eule und Tomek haben alles weg gesoffen", schrieb Hannes-der-Glöckner.
"Du hast aber mitgeholfen", stichelte Reinfall. "Und Eerot auch. Ich habs gesehen!"
"Olle Petze!" Hannes setzte ein Smiley, das die Zunge raus streckte. "Wo sind Schorsch und die Falbkatze?"
"Beim Mongolen", antwortete KCruiser. "Fein essen."
"Beim Mongolen?" mischte sich georg68 ein. "Was gibt es denn da? Doch kein Fein! Höchstens Kamelsteak."
"Lol", schrieb Waldohreule. "Wird ganz schön schwer, ein Kamel im Wok zuzubereiten."
"Der Wok ist doch nicht mongolisch, du Mongoeule!" schalt Bettina, die ehemalige Seiteninhaberin. "Eulen? Tzz! Null Bildung außer Einbildung."
"Geh den Yak scheren!" schrieb die Eule.
"Schluchz!" schrieb Bettina. "Immer ich!"
"Weil er bei allen Anderen still hält!" schrieb die Eule mit drei recht gehässig grinsenden Smileys.
Caro saß still vor ihrem Rechner. Sie schrieb nichts. Sie las nur mit. In ihrem Kopf spukten zu viele Gedanken herum. Zwei Wochen. Vierzehn Tage.
Endlich war es soweit. Es war kurz vor High Noon, aber sie hatte seit Tagen das Gefühl, im falschen Film zu sein; als wäre die ganze Welt ein Stück weit verschoben, so dass man immer ein paar Zentimeter weit daneben zielen musste, wenn man nach seiner Kaffeetasse griff.
Sie trank Kaffee an diesem Sommerabend, keinen Wein. In letzter Zeit war es etwas zu viel gewesen mit dem lieben Alkohol.
"Ich hätt gerne noch eine Flasche Whiskey", krähte die Waldohreule. "Hier! Eine Unze Silber."
Caro lächelte. Silber. Sie hatten beide den gleichen Tick. Sie sammelten Silbermünzen. Immer volle Unzen und nur Bullion-Münzen. Das waren Münzen, die in den Ländern in denen sie geprägt wurden, als reales Zahlungsmittel galten. Man nannte sie auch Anlagemünzen und genau das waren sie für Caro. Silber war das Gold des kleinen Mannes und sie sammelte regelmäßig. Inzwischen hatte sie einige Pfund zusammen.
Die Eule ebenfalls. Der Kerl redete von einem ganzen Zentner Silber. Fragte man ihn dann, was er damit vorhabe, antwortete er: "Die nehm ich mit nach Bayern, wenn der Durchgang eines Tages wieder aufgeht."
Caro trank einen Schluck Kaffee. Bayern ... Das Königreich Bayern ...
Auf Sellerie schrieben fast alle Leute Fesselgeschichten. Einige hatten richtig lange Fortsetzungsromane veröffentlicht. Nur Kerker-Karl und Waldohreule schrieben auch "normale" Geschichten. Die Eule hatte ein Dutzend Romane online, darunter auch welche, die in einer von ihm erfundenen Parallelwelt namens Königreich Bayern spielten.
Die Hauptpersonen dieser Romane gelangten durch so genannte Durchgänge in diese Parallelwelt, eine Welt in der es so ähnlich aussah wie zu Kaisers Zeiten. Es gab keine Umweltverschmutzung und keine Überbevölkerung. Alles war dörflich und familiär. Es gab keine Kriege und keine Morde. Dampfzüge fuhren durchs Land und die Leute gingen zu Fuß, fuhren mit der Kutsche oder mit dem Fahrrad über naturbelassene Straßen durch ein Land, in dem nur ein Zehntel so viel Menschen lebten wie in der realen Welt und in dem die meisten Menschen nett und gastfreundlich waren.
Caro gefielen die Romane. Es machte Spaß, als Leserin in jener phantastischen Parallelwelt spazieren zu gehen und mitzuerleben, wie die handelnden Personen das Land erforschten und sich dort ein neues Leben aufbauten. Sie nahm intensiv an den Abenteuern der Protagonisten teil.
Noch ein Schluck Kaffee.
"Bayern", sagte sie zu sich selbst. "Dort würde ich gerne mal ein paar Wochen Urlaub machen." Zu Fuß und mit dem Rad wollte sie jene Welt erkunden und natürlich auch mal mit der Bahn fahren und vielleicht sogar mit einem Luftschiff. Letztere hatten ebenfalls Dampfantrieb. Benzinmotoren gab es im Königreich Bayern nicht.
Die Geschichten von Waldohreule waren alle gut. Es war bloß schade, dass er keine Fesselstories mehr verfasste. Darin war er in früheren Jahren ebenfalls gut gewesen. Aber irgendwann hatte er beschlossen, die Bondagesache links liegen zu lassen und nur noch "normale" Geschichten zu schreiben.
Caro hatte die einzelnen Romanteile fast alle kommentiert. Es machte Spaß, dies als Frau zu tun. Sie trug beim Lesen natürlich ihre Frauensachen, um sich noch weiblicher zu fühlen. Schade war nur, dass sie inzwischen nicht mehr die Jüngste war. Lieber hätte sie die Kommentare als zwanzigjähriges Mädchen geschrieben.
Noch ein Schluck Kaffee. Noch ein Seufzer.
Eine Frau ... nein! Ein Mädchen hatte sie sein wollen und das schon sehr früh. Bereits im Kindergartenalter war ihr aufgefallen, dass sie Jungsspiele nicht mochte. Sie lehnte die Spielsachen, die Jungen bevorzugten, ab und wandte sich Puppen zu.
Ein Mädchen...
Jetzt war sie eine ältere Dame im gesetzten Alter, wie man so sagte. In allzu naher Ferne dräute eine Mauer in ihrem Inneren. Darauf war in Stein eingemeißelt: 50!
Nur noch zwei Jahre bis dorthin. Fünfzig Jahre ...
"Ich wäre gerne so alt wie Emma", murmelte Caro. "Aber bitte ohne künstliche Beinprothese und ohne Uhrwerk in der Brust. Einfach ein junges springlebendiges Mädchen."
Sie wusste, dass sie nach der Operation eine wirkliche Frau sein würde, fast jedenfalls. Aber keine blutjunge Frau.
Noch ein Schluck Kaffee. Und noch ein leiser Seufzer.
Seit einem Jahr bekam sie regelmäßig Hormone. Das hatte teilweise tobende Gefühlsstürme ausgelöst und manchmal stand sie total neben sich. So schwer und kompliziert hatte sie es sich nicht vorgestellt. Ach ja, es war ein Kreuz, im falschen Körper zu stecken, auch wenn man heutzutage viel offener mit dem Thema Transsexualität umging.
Es war trotz allem extrem schwer, einen Partner zu finden. Dann hatte sie für eine Weile eine feste Partnerschaft gehabt. Es hatte sogar Fesselspielchen und hübsche BDSM-Sachen gegeben. Doch die Sache endete ebenso abrupt und überstürzt, wie sie angefangen hatte und hatte nichts als eine kalte leere Stelle in ihrem Herzen hinterlassen und ein paar wirklich böse Narben auf ihrer Seele.
Wenn ich schon immer ein Mädchen gewesen wäre ...
Nicht nur virtuell, wenn ich vorm Computer sitze und Frauenkleidung trage ...
Oder in der Selbsthilfegruppe ...
Oder wenn ich verkleidet rausgehe ...
Caro dachte an Waldohreules Bayernroman mit dem Titel "Der Durchgang". Teil 15 hatte es ihr besonders angetan. In jenem Kapitel hatte die Eule sehr einfühlsam beschrieben,wie ein knapp dreizehn Jahre alter Junge und ein gleichaltriges Mädchen sich einander schüchtern annäherten. Die Schreibe hatte sie beim Lesen derart gepackt, dass sie heftiges Herzklopfen bekam. Dreimal hatte sie das Kapitel gelesen. Sie konnte nicht genug davon bekommen.
Und die ganze Zeit über hatte sie sich vorgestellt, sie sei die junge Heidi, ein hübsches Mädchen, dass sich bis über beide Ohren verliebte.
Entsprechend war ihr Kommentar unter dem Kapitel ausgefallen: "Zum Dahinschmelzen! Wunderbar getroffen - herrlich romantisch und dabei gar nicht kitschig - einfach nur schön - und genau so ist es auch - ein hübsches Mädchen ansprechen (oder einen netten Jungen, je nach dem) ist im Grunde völlig unmöglich; ein Naturgesetz wie die Gravitation: Newtons Apfel fällt nach unten, und nicht nach oben! Punkt! Nur manchmal, wenn eine besondere Magie im Spiel ist, oder ein Verkäufer mit gebrannten Mandeln vorbeikommt, dann funktioniert das, dann kann es passieren, daß der Apfel nach oben fliegt - ist aber echt selten - und deshalb so wahnsinnig toll, weltbewegend, alles verändernd - unvergeßlich. Super eingefangen, super beschrieben - ich hab's gerade dreimal gelesen - DREIMAL - das mache ich sonst nie - Himmel, ich würde mich jetzt gerne sofort und auf der Stelle verlieben..."
Caro las die Stelle unter Eules Romankapitel noch einmal: "Himmel, ich würde mich jetzt gerne sofort und auf der Stelle verlieben..."
Auf der Stelle ...
Aber das taten Leute, die stramm auf die Fünfzig zugingen, eben nicht oder doch sehr, sehr selten.
Für Caro gehörte es zu den Dingen, die sie sich schon früh vorgestellt und in Gedanken ausgemalt hatte, die sie aber so gut wie nie wirklich erlebt hatte. Mit dem Fesseln war es nicht anders.
Interesse an Fesseln und Spielen mit Handschellen und solchen Sachen hatte sie schon im zarten Alter von zwölf Jahren gehabt und mit der Pubertät hatte sich das Interesse an Bondage und auch BDSM noch verstärkt. Gleichzeitig hatte sich damals das Gefühl immer mehr in den Vordergrund gedrängt, im falschen Körper eingesperrt zu sein.
Als sie Internet bekam, hatte sie bald ihre erste Seite mit Fesselgeschichten entdeckt. Es war die berühmte Seite von Hajo. Auf Hajo war Fesselfan gefolgt, der die Seite InFesseln aufmachte. Dort waren dann schon richtig gute Autoren aufgekreuzt, die wirklich schöne Fesselgeschichten schrieben. Dann hatte Kerker-Karl die kleine, wunderbar familiäre Seilerei ins Leben gerufen. Caro hatte alles gelesen und sich beim Lesen vorgestellt, das Eine oder Andere selbst zu erleben - als Mädchen natürlich, nicht als Mann.
Gleichzeitig hatte sie im Internet nach Foren für transsexuelle Menschen gesucht und dort Anschluss gefunden.
Allerdings fiel unter den Oberbegriff Transgender so ziemlich alles, was auch nur entfernt mit Transsexualität zu tun hatte. Da waren die Transvestiten, Männer die es erotisch fanden, Frauenkleidung zu tragen und die homosexuellen Drag Queens. Es gab Lesben, die sich als Männer verkleideten, aber als Frauen lebten und welche, die Männer sein wollten und die Crossdresser, die mal dies und mal das waren oder vorspielten.
Leute, die sich wirklich wünschten, ein anderes Geschlecht zu haben, die sogar die Operation zur Geschlechtsumwandlung anstrebten, waren in diesen Gruppen in der Minderzahl. Es nervte Caro manchmal, dass man sie mit all diesen unterschiedlichen Leuten unter einen Hut steckte.
Wirkliche Transfrauen wie sie, also Männer die eine Frau sein wollten, waren selten. Es gab Zählungen, die von einem Fall auf zehntausend Normalos ausgingen. Da war es kein Wunder, dass sich ein passender Partner nur schwer finden ließ. Transsexuell zu sein, war ein Einsamkeitsfaktor. Da biss die Maus keinen Faden ab.
Es war ganz schön, sich im Internet ausleben zu können, aber letzten Endes war das alles virtuell.
Im normalen Leben war es immer noch schwierig. Sicher, die gesellschaftliche Akzeptanz war um vieles größer als noch ein Jahrzehnt zuvor und heutzutage konnte man auch ohne Geschlechtsumwandlungs-OP seinen Vornamen und den Personenstand im Personalausweis ändern lassen. Trotzdem war es schwer.
In der Taverne stibitzten Waldohreule und Tomek dem ahnungslosen Drachenjäger ein Fässchen Bier und soffen es aus. Erst als sie laut rülpsten, bemerkte der Bestohlene die schändliche Tat.
"Diebsgesindel!" rief er, garniert mit grimmig dreinschauenden Smileys. "Dafür werdet ihr zu Tode verurteilt!"
"Ja genau!" rief Tommy08: "Tod durch Ertränken! In lauwarmem, alkoholfreiem Bier!"
"Iiiiieh!" kreischte die Eule. "Das könnt ihr nicht machen! Nicht das! Heul!"
Caro musste kichern. Es war ja doch immer ganz nett in der Taverne. Manchmal machten sie bloß Quatsch miteinander, dann wieder klönten sie gemeinsam und hatten eine schöne Zeit. Ideen für neue Schreibprojekte wurden durchgehechelt und Vorschläge an den Mann und an die Frau gebracht.
In der Taverne war Caroline eine Frau.Eine richtige Frau. Immerhin.
In vierzehn Tagen würde die Operation sie dann auch im realen Leben zur Frau machen.
Sie hatte auch viel über die neue FFS nachgedacht, die Facial Feminisation Surgery, bei der die Wangenknochen erhöht und das Kinn reduziert wurde. Auch die Augenbrauenwülste wurden abgeschliffen. Weltweit gab es etwa ein Dutzend erfahrene Ärzte, die das machten, die besten in den USA, Argentinien und in Belgien.
Es waren absolute Spezialisten. Entsprechend teuer war eine solche Operation. Zwischen fünfzehntausend und fünfundzwanzigtausend Euro musste man dafür hinblättern. Eine mehrmonatige Heilungsphase schloss sich an die OP an. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Selbst kantigste Männergesichter verwandelten sich in weiche, gerundete Frauenantlitze.
Doch für Caro war das nichts. Es war ihr schlicht zu teuer und sie war zu alt, fand sie.
Aber jede Transfrau dachte daran, auch Caro. In den Foren wurde dauernd darüber diskutiert. Immer wieder geisterten die Gedanken über eine FFS durch Caros Kopf.
Tja, wenn ich jünger wäre ... so zwanzig ... oder wenigstens um die dreißig ...
Da war es wieder, das schreckliche, das schmerzende Wort. Es hatte nur drei Buchstaben. Wie Goethes Wort. "Der Erfolg hat drei Buchstaben: T U N!"
In Caros Fall war es eher etwas wie Misserfolg. Drei Buchstaben: A L T. Alt!
Egal wie man es hinbog, sie war alt; zu alt. Ja, die OP würde sie in eine Frau verwandeln, aber sie würde eine Frau von fast Fünfzig sein und in dem Alter war es nichts mehr mit sich verlieben.
Nicht nur mit dem Verlieben.
Auch für andere Dinge war es eigentlich zu spät, selbst wenn Caro keine großen Ansprüche ans Leben stellte. Aber würde sich ihr Lebenstraum je erfüllen?
Sie trank den letzten Schluck Kaffee.
Kaffeetante ...
So lautete ihr zusätzlicher Titel unter ihrem Nicknamen Caro. Es war ein Rangtitel des Seilerei-Forums. Dort gab es Newbies, Fortgeschrittene, Fessler, Fesselmeister und so weiter, je nachdem wie viele Beiträge man im Forum gepostet hatte.
Aber Kerker-Karl hatte die Rangtitel der Aktiven auf deren Wunsch geändert. Er selber war "Der liebe Kerkermeister". Die Waldohreule hieß eine Weile "Bruchpilot", dann hatte jemand ihn als "Unvogel" bezeichnet, weil Vögel nun mal keine "Unmenschen" sein konnten und seit drei Jahren war er der "Frechfederich". Tomek, der einen dicken Kater in seiner Wohnung hielt, war der "Bettblockierende Dosenöffner".
Und Caro war die Kaffeetante. Wahrscheinlich dachten die Leute auf Sellerie, sie hätte sich den Titel gewünscht, weil sie gerne Kaffee trank und dabei klönte. Doch hinter dem Titel steckte mehr.
Caroline Uhlig hatte als Kind irgendwann mit Verwandten auf einem Sonntagsspaziergang Rast in einer Gartenwirtschaft gemacht. Sie hatten draußen im Freien unter Bäumen mit breiten Kronen gesessen, die kühlenden Schatten spendeten und deren Laub im lauen Sommerwind leise rauschte, an Gartentischen und Gartenstühlen und zu Kaffee und Kakao Kuchen gegessen.
Caro war von der Atmosphäre in dem Gartenlokal fasziniert gewesen und hatte das Erlebnis nie vergessen. Wann immer sich die Möglichkeit bot, setzte sie sich im Sommer in Gartenlokale, von denen es in ihrer Heimatstadt mitten im Ruhrgebiet gottlob jede Menge gab und träumte in Gedanken, sie selbst wäre die Besitzerin einer solchen Lokalität.
Allerdings träumte sie von einem Gartencafe draußen auf dem Land.
Waldohreule hatte es geschafft, ihren Traum unwissentlich in einen seiner Bayernromane einzubauen. In "Aufziehmädchen Emma" waren Emma und ihre Freunde in der Nähe von Saarlouis ins Gartencafe von "Kaffeetante Caro" gegangen.
Beim Lesen hatte Caroline ein Ziehen im Herzen verspürt. Sie hatte sich brennend gewünscht, wirklich ein solches Cafe am Ufer der Saar zu führen.
Was die Eule nicht geschrieben hatte: Um den Traum komplett zu machen, gehörte noch eine Katze dazu, die der Kaffeetante Doro beim Servieren von Kaffee und Kuchen schnurrend um die Beine strich.
Das war Caros anderer Traum: Eine Katze.
Sie hatte sich schon immer eine Katze gewünscht, aber weil sie beruflich den ganzen Tag außer Haus war und abends ebenfalls oft absent war, wäre die Haltung eines Stubentigers nicht tiergerecht gewesen, fand sie. Deshalb hatte sie darauf verzichtet, sich diesen Wunsch zu erfüllen.
Caro sah vom Rechner auf. Draußen vor den Fenstern begann die Abenddämmerung. Die untergehende Sonne bepinselte den Himmel in allen Farben. Im Westen glühte er orangerot mit blutroten Streifen. Darüber schwebte ein dunkelblaues Firmament, dass sich allmählich bleiglänzend überfärbte. Alle Dinge waren von der tiefstehenden Sonne schräg angeleuchtet und alles glühte und funkelte in orange-goldenem Licht.
"Jetzt in meiner Gartenwirtschaft Kaffee servieren", sinnierte Caro. "Und meine Katze streicht mir um die Beine - die schlanken, wohlgeformten Mädchenbeine."
Sie seufzte abgrundtief.
"Hör auf mit dem Quatsch, Caro!" rief sie sich selbst zur Ordnung. "Daraus wird nichts!"
Klar, Träumen war erlaubt, aber man sollte es nicht übertreiben. Sie steckte sich eine Zigarette an.
"Alt! Ich bin zu alt." Sie sog an der Kippe und atmete den Rauch aus. "Und das Rauchen hat meinen Teint nicht unbedingt verbessert."
Die OP, schön und gut. Sie würde etwas bewirken. Die Operation würde sie zur Frau machen. Sie würde danach eine Frau sein. Aber vor allem würde sie eine alte Frau sein. Mit fast fünfzig war eine Frau alt. Eigentlich zu alt für Verliebtheiten.
Seit Tagen schlichen diese hässlichen Gedanken um sie herum wie ein hungriges Hyänenrudel. Sie war nicht Anfang zwanzig. Sie war nicht Anfang dreißig. Ja sie war nicht mal Anfang vierzig.
Sie war fast fünfzig und das war alt. Sie würde eine Frau sein, aber vor allem eine alte Frau.
Wenn Caro mit ihren Gedanken an diesem Punkt ankam, zog sie sich fluchtartig zurück und verbannte die Gedanken aus ihrem Kopf. Sie schmerzten zu sehr. Würde sie ihr Frausein überhaupt noch ausleben können? Was erwartete sie noch im Leben?
Vielleicht war das der Grund, warum sie seit Tagen neben sich stand und es schlimmer wurde, je näher der OP-Termin rückte.
Würde es für sie eine erfüllende Partnerschaft geben? In ihrem Alter? Wo gerade eine Partnerschaft auf ziemlich hässliche Weise zu Ende gegangen war?
"Ich will nicht dran denken", flüsterte sie. Sie griff nach ihrem Zigarettenpäckchen und hielt inne. Vielleicht sollte sie doch eine Flasche Wein aufmachen. Einen Roten. Einen richtig schweren. Genau richtig für schwere Gedanken im roten Sonnenuntergangslicht.
In der Taverne winkte die Waldohreule zum Abschied: "Ich mach den Abflug, Leute. Bis morgen. Winke-Winke."
"Wo gehts denn hin?" wollte KCruiser wissen.
"Na zum Eulenhorst", schrieb Reinfall und klickte ein Lol-Smiley dahinter.
"Stimmt das, Eule?" fragte Bettina.
"Nein", antwortete Waldohreule. "Ich fliege nach Bayern."
"Ins Königreich Bayern? Nach Saarbrücken-Nassau?" schrieb Kerker-Karl. "Da hast du aber einen weiten Weg vor dir."
"Quark!" antwortete die Eule. "Bin ruck-zuck beim Durchgang und lande dann direkt in Saarlouis." Er winkte erneut: "Bis denn. Und Tschüss."
"Tschüss Eule", schrieb Bettina.
"Auf Wiedersehen, Tschüsseule", schrieb Kerkerkarl.
"Tschüssele Tschüsseule", schrieb Bella.
"Trink in Saarlouis ein saarländisches Grubenwasser für mich mit", verlangte Tomek.
"Doch wohl eher ein typisch bayerisches Weizenbier", meinte georg68.
Caro saß ganz still. Plötzlich kamen all die wirren Gedanken in ihrem Kopf angerannt wie muntere, kleine Kinder, wenn der Eismann auf der Straßenkreuzung hält. Alles fokussierte sich auf einen einzigen Punkt.
Bayern.
Das Königreich Bayern.
Ich will da hin! Und wenn es nur mal kurz auf Besuch ist!
Sie schaute unten auf die Leiste unterm Forum, auf der angezeigt wurde, wer gerade online war. Noch stand Waldohreule dort zwischen all den Anderen.
Caro holte tief Luft.
So ein Quatsch! Es ist Quatsch!
Na und?!?
Ist es eben Quatsch!
Plötzlich überkam sie ein Gefühl von übergroßer Dringlichkeit. Es ging um Sekunden.
Ihre Hände schossen über das Keyboard und dann flogen ihre Finger über die Tasten.
"Nimm mich mit!" schrieb sie und dann mit großer Schrift in Fettdruck: "BITTE!"
Eine Sekunde schwebte ihre Hand über der Enter-Taste, dann drückte sie sie herunter.
Das Posting erschien auf dem Bildschirm.
Caro schluckte.
Was habe ich getan? Was soll der Unsinn? Ich blamiere mich unsterblich! Mann, bin ich doof!
Aber sie machte sich keine große Sorgen. Was sie geschrieben hatte, klang genau nach all den anderen Schreibereien auf Sellerie. Es war ein typischer Spruch, wie er oft in der Taverne geklopft wurde. Man würde sie nicht ernst nehmen. Wenn Waldohreule noch online war und ihr Posting las, würde er gleich schreiben: "Gut. Einverstanden. Nimm Wäsche zum Wechseln mit. Wir bleiben eine ganze Woche. Bist du schon mal auf dem Saarsee mit einem Segelboot mitgefahren?"
Irgend so was würde er schreiben und sie würde zusagen und ihn in sein virtuelles Land begleiten, natürlich nur zum Schein. Virtuell eben.
Aber die Eule schrieb nichts in der Taverne. Noch stand er drunten in der Anwesenheitsleiste, aber Waldohreule meldete sich nie von Sellerie ab. Er klickte sich einfach weg. In diesem Fall blieb sein Nick noch für etwa fünf Minuten in der Leiste stehen.
Caro griff zum Zigarettenpäckchen. Schade. Irgendwie war sie einen Moment lang total aufgedreht gewesen, bereit etwas richtig Verrücktes anzustellen.
"War ja klar, dass nichts kommen würde." Sie war erstaunt, wie traurig sie dieser Satz machte.
Caro seufzte. Sie schnickte eine Zigarette aus dem Päckchen. Es tat richtig weh. Sie spürte ein gemeines Ziepen im Herzen, als hätte sie etwas Geliebtes verloren. Es tat weh.
Mitten auf dem Bildschirm poppte ein Fensterchen auf. PN von der Waldohreule!
Caro legte die Zigarette zur Seite.
Sie griff zur Maus und klickte die private Nachricht an. Sie war kurz: "Nahmt Caro. Kannsma deine IRL rüberwachsen lassen? Gruß, Martin."

31.10.2014 00:32 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
Schneeleopard
Doppel-As


Dabei seit: 02.11.2009
Beiträge: 174

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Super, eine neue geschichte!

aber ... schottischer Whisky mit -ey? Das sehen die Schotten aber anders und da verlieren sie jeglichen resthumor (meiner erfahrung nach)

31.10.2014 11:00 Schneeleopard ist offline Email an Schneeleopard senden Beiträge von Schneeleopard suchen Nehmen Sie Schneeleopard in Ihre Freundesliste auf
Hans_D_Bell
Gast


Wisky Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Lieber Stefan,

ich biete dir an, dass ich mal mit einer Flasche vorbei komme und während wir diese leeren, schauen wir mal wie man das schreibt.

Lieben Gruß

Hans aus L.

31.10.2014 20:27
Stefan Steinmetz
Administrator




Dabei seit: 10.02.2006
Beiträge: 1732

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Kinners habt ihr nicht gelesen, dass die Eule mit dem Tomek herum neibst und deutlich sagt, dass sie auch amerikanischen Börbn mag? Und in Amerika schreibt man es meistens -genau wie in Irland- Whiskey. Die Schreibweise ist Absicht und wenn mir einer einen schottischen Whiskey zum Trinken anbieten würde, würde ich die Gifthotline anrufen. großes Grinsen

PS: ich bevorzuge schottischerweise Highland Park.
Mindestens 12 Jahre alt, lieber 18. Der 18-Zylinder kommt weicher und noch meerig-torfiger rüber.
Aber wie gesagt: einen schönen cremig-vanilligen Bourbon mag ich auch (was mir von den Schottenliebhabern so manchen giftigen Blick eintrug).
Gelegentlich trink ich sogar Maiswhiskey aus Kentucky, den aus der Steingutflasche. Schön kratzig und spitz. Den allerdings niemals gewässert und (rachsüchtig) immer aus dem Tumbler. Den Bourbon genieß ich wie den Schotten im "Nasenschnüffelglas" mit einem Spritzer kalten, in GLASFLASCHE geliefertem Quellwasser.

31.10.2014 20:54 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
Hans_D_Bell
Gast


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dann komm ich halt zum probieren vorbei, oder?

31.10.2014 21:15
carolne1960 carolne1960 ist weiblich
Doppel-As




Dabei seit: 18.02.2013
Beiträge: 116

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Diese Geschichte werd´ich besonders verfolgen! Drück

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Was ist der Mensch - nur ein flüchtiger Gedanke - nicht zu greifen - nicht zu fassen. Stets schweigend mit sich im Gespräch vertieft durforsch er sich und findet sich nie.
Der Traum ist die wahre Wirklichkeit. großes Grinsen

01.11.2014 01:34 carolne1960 ist offline Email an carolne1960 senden Beiträge von carolne1960 suchen Nehmen Sie carolne1960 in Ihre Freundesliste auf
 
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