Themas wartete auf den Alarmschrei Gruties, doch es kam keiner. Das Mädchen stand still auf der Straße. Ihr Gesicht hing wie ein kleines weißes Oval in der Dunkelheit. Etwas schimmerte dort im schwachen Sternenlicht.
Das sind Tränen, dachte er. Sie weint.
Grutie Umpfbeetl stand mit hängenden Armen in der Düsternis der Neumondnacht und weinte still.
Themas setzte sich in Bewegung. Die Anderen folgten ihm auf dem Fuß. Grutie sah ihnen entgegen. Sie hatte nur Augen für Themas. Zwei Schritte vor ihr blieb er stehen. Er sah die Tränen über ihre Wangen fließen. Grutie weinte lautlos. Sie schaute ihn an. Sie nahm sonst niemanden wahr.
„Themas Irrlucht, du gehst fort“, sagte sie. Sie klang unendlich traurig. Man hörte den Schmerz aus ihrer Stimme heraus. „Du gehst fort.“ Grutie schluchzte erstickt. Sie gab sich Mühe, nicht laut loszuweinen. „Du gehst fort. Du wirst nicht auf der Mundharmonika mit mir üben.“ Grutie sah klein und zusammengesunken aus. Sie weinte ohne Unterlass. „Themas! Oh, Themas! Du lässt mich allein! Ich habe mich so gefreut. Du bist der einzige Mensch, der je gut zu mir war. Du bist nicht vor mir zurückgewichen. Du hast mich wie einen Mensch behandelt. Du hast mich nicht verabscheut.“
Sie trat zu ihm und hob die Hände. Sie packte sein Hemd, verkrallte sich geradezu in den Stoff, den Kopf gesenkt und die Stirn gegen seine Brust gepresst. „Du bist nicht zurückgewichen. Du warst gut zu mir. Ich habe mich so gefreut, endlich jemanden zu haben. Ich habe mich auf die Mundharmonikastunden gefreut! Das einzig Schöne in meinem Leben! Themas! Oh, Themas!“ Sie schluchzte laut auf, zuckte zusammen, als erschräke sie und erstickte ihr Schluchzen. Sie drückte sich an ihn. Er spürte, dass sie zitterte.
Seine Furcht löste sich auf. Grutie hatte nicht auf sie gewartet, um ihre Flucht zu vereiteln. Die Lehma würde ihnen nicht schaden.
Vorsichtig löste er sich aus dem Griff ihrer Hände. „Es tut mir leid, Grutie“, flüsterte er. „Ich kann nicht im Lehm bleiben, wo ich jeden Tag damit rechnen muss, dass mein Zwillingsbruder ermordet wird. Ich muss gehen.“ Er hielt ihre kleinen Hände in seinen. „Es muss sein, Grutie.“ Er ließ sie los und wandte sich ab. Er lief los. Die Anderen folgten ihm. Er hörte Gruties leises Schluchzen.
„Themas“, weinte sie. „Themas Irrlucht!“
Er drehte sich noch einmal um. Er sah sie da stehen im schwachen Licht der Sterne. Ihr helles Gesicht schwebte in der Dunkelheit. Er sah die Tränen schimmern. Gruties Arme hingen herunter wie die gebrochenen Flügel eines Vögelchens. Ihre bloßen Füße leuchteten unnatürlich weiß auf dem dunklen Erdboden. „Ich wünsche euch alles Gute“, sagte sie. „Ich wünsche euch, dass ihr durchkommt, Themas.“ Nun weinte sie noch mehr.
Themas machte kehrt. Mit einigen schnellen Schritten war er bei ihr. Er schloss sie in die Arme und drückte sie an sich. Sie schmiegte sich an ihn, immer noch heftig weinend. „Oh, Themas! Du gehst fort! Ich habe doch nur dich! Nur dich! Du bist der einzige Mensch, der gut zu mir war! Du wolltest als Einziger etwas mit mir zu tun haben! Ich bin allein! Ganz allein! Ich bin eine Ausgestoßene! Niemand will etwas mit einem Todesengel zu tun haben! Ich bin ganz und gar allein! Ich habe niemanden! Oh, Themas!“ Weinend drängte sie sich an ihn. „Themas! Oh, Themas!“
Er hielt sie fest. „Grutie“, fing er an. „Hör zu! Warum kommst du nicht mit?“
Ihr Schluchzer blieb mittendrin stecken. Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen. Es war tränennass. Ihr kleiner Mund stand offen. „Themas?“
Er drückte sie ganz fest: „Komm mit! Komm einfach mit uns, Grutie!“
„Themas!“ Jetzt weinte sie noch heftiger als zuvor. „Was sagst du da?“
„Komm mit uns!“, bat er. Er hob die Hand und strich ihr durchs Haar. „Lass das Lehm hinter dir. Du kannst frei sein; frei wie wir anderen. Das Lehm wird keine Herrschaft mehr über dich ausüben.“
Sie lehnte sich an ihn, das Gesicht gegen seine Brust gedrückt. „Themas! Ach, Themas! Du willst mich mitnehmen? Mich? Den Todesengel des Lehms? Das Mädchen, das Angst und Schrecken über die Menschen im Lehm bringt? Mich?“ Er fühlte ihr Herz schlagen. Eine Weile drückte Grutie sich an ihn. „Themas!“, sagte sie. Sie klang selig. „Ach, Themas! Themas!“
Sie hob den Kopf: „Willst wirklich, dass ich mitkomme, Themas Irrlucht? Sag die Wahrheit! Bitte!“
Er nickte: „Ja, das will ich, Grutie. Komm mit uns. Du wirst frei sein. Ganz und gar frei. Du kannst im Draußen ein neues Leben anfangen.“
Grutie schaute aus großen Augen zu ihm auf .“Themas“, sagte sie. Noch immer klang ihre Stimme selig. „Oh, Themas!“ Dann wurde ihre Stimme schwer vor Traurigkeit: „Ich kann nicht. Es würde mich niemals gehen lassen. Niemals! Ich bin eine Sklavin. Ich bin eine Gefangene. Ich werde nie loskommen. Das Lehm lässt mich nicht frei; mein ganzes Leben nicht.“
Sie richtete sich auf und zog seinen Kopf zu sich herunter. Sie bedeckte sein Gesicht mit Küssen. „Pass gut auf dich auf, Themas Irrlucht! Das Lehm ist böse. Es wird alles tun, euch zu hindern. Du darfst auf keinen Fall der Dammstraße folgen! Nimm den Weg mitten durch die Wildnis! Geh langsam und ohne Eile. Spaziere, marschiere nicht! So kannst du es überqueren, ohne es aufzuwecken. Halte dich von den Hauptwegen fern!“
Sie küsste ihn wieder und wieder. Dann schmiegte sie sich an ihn. „Themas Irrlucht! Ach, Themas! Du wolltest mich mitnehmen. Mich! Mich!“ Sie seufzte selig.
Wieder sah sie zu ihm auf: „Wirst du manchmal an mich denken, Themas?“
Er fühlte, wie sich seine Kehle zusammenschnürte. „Ja, Grutie“, sagte er. „Heute Abend bei Sonnenuntergang werde ich für dich auf der Mundharmonika spielen. Jeden Abend bei Sonnenuntergang, von heute an. Ich verspreche es, Grutie.“ Er drückte sie ganz fest.
„Ich werde draußen sein und an dich denken, Themas“, sagte sie. Wieder seufzte sie. „Nun werde ich nie lernen, auf der Mundharmonika zu spielen.“
Themas holte sein Instrument aus der Tasche und reichte es ihr: „Hier, Grutie. Ich schenke sie dir.“
Sie starrte ihn an. „Themas! Aber wie willst du dann heute Abend …?“
„Ich kaufe mir eine neue“, sagte er. „Entweder in Landsweiler, wenn der Laden bereits so früh geöffnet hat, oder an unserem Ziel.“
Sie nahm das kleine Instrument aus Messing entgegen. Andächtig fuhren ihre schmalen Finger über die polierte Oberfläche. „Danke, Themas. Vielen Dank.“ Sie sah ihn an: „Du bist lieb. Sehr lieb! Danke!“ Sie legte ihm die kleine Rechte auf die Brust: „Du musst jetzt gehen, Themas Irrlucht. Ich muss euch morgen früh die Männer hinterher schicken. Die Priester wollen es so haben. Geh, Themas. Gehe schnell. Und hüte dich vor dem Lehm.“
Sie ließ ihn los. Wortlos drehte er sich um und ging zu seinen wartenden Kameraden.
Sie sagte etwas, so leise, dass er sie fast nicht verstand. „Ich habe dich lieb, Themas.“
Noch einmal drehte er sich um und schaute zu ihr zurück. „Ich habe dich auch lieb, Grutie.“
Dann ging er, gefolgt von seinem Zwillingsbruder, Trischa, Truschka und der kleinen Zwillingsschwester von Drisie Honick.
Als sie am Ende der Straße in den Nebenweg einbogen, der sie ins offene Lehm vorm Dorf bringen würde, blickte er sich noch einmal um. Grutie Umpfbeetl stand mitten auf der Straße und schaute ihnen hinterher. Die Mundharmonika schimmerte im Sternenlicht. Er hob die Hand zu einem letzten Gruß. Grutie grüßte zurück.
Sie verließen das Dorf und wanderten hinaus in die nachtstille Heide. Themas bemühte sich, im schwachen Licht der Sterne einen Weg zu finden, der über glatten, weichen Sand führte, damit Truschka, Thimas und Drisies Schwester nicht mit bloßen Füßen über das knorrige Heidekraut gehen mussten.
Sie gingen schweigend und sie gingen ohne Eile. Themas musste ständig an Grutie Umpfbeetl denken. Sie war nicht mitgekommen, aus Angst, das Lehm auf sich aufmerksam zu machen und damit ihrer aller Leben zu gefährden. Sie war zurückgeblieben, traurig und mit wundem Herzen. Sie tat ihm unendlich leid. Sie war hilflos dem Lehm ausgeliefert und gezwungen, schreckliche Dinge zu verkünden. Sie wollte das nicht; nicht mehr. Sie war nur ein armes, einsames, kleines Mädchen, das niemanden hatte. Er hätte sie gerne mitgenommen.
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