Registrierung PM-BoxMitgliederliste Administratoren und Moderatoren Suche Häufig gestellte Fragen Zur Startseite  

Stefans Geschichten » Willkommen auf der Homepage von Stefan Steinmetz » Die kleine Privat-Ecke » Das Lehm » Das Lehm(20) » Hallo Gast [anmelden|registrieren]
Druckvorschau | An Freund senden | Thema zu Favoriten hinzufügen
Neues Thema erstellen Antwort erstellen
Autor
Beitrag « Vorheriges Thema | Nächstes Thema »
Stefan Steinmetz
Administrator




Dabei seit: 10.02.2006
Beiträge: 1733

Das Lehm(20) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Am Tag der Messe wanderte Themas mit seinen Eltern ins Zentrum des Lehms wie immer. Den ganzenWeg über dachte er über sein Zusammentreffen mit Tante Brilla und Onkel Jidler nach. In seinem Kopf war für nichts anderes Platz als für die geplante Flucht.
Und für Trischa Banbirk.
Als er sie endlich sah, hätte er sie am liebsten fest in die Arme geschlossen. Er traute sich nicht, weil so viele Leute um sie herum waren. Sie fassten einander an den Händen und begrüßten sich. Themas konnte den Blick nicht von Trischa lösen. Seit dem Horro-Angriff hatten sich seine Gefühle für das Mädchen noch intensiviert. Auch Trischa war anders geworden. Sie war näher an ihn heran gerückt. Als Themas in ihre Augen schaute, wusste er, dass er nicht ohne das Mädchen fortgehen konnte.
Es brannte ihm unter den Nägeln, Trischa sofort in seine Fluchtpläne einzuweihen, aber sie waren nie allein. Es war zu gefährlich. Themas musste sich gedulden. Er musste abwarten, bis er mit Trischa allein war.
Nach dem gemeinsamen Essen setzte sich Philka Kahleg aus Lehmtal auf eine Erhebung im Gelände und spielte auf ihrer Mundharmonika. Themas stand Hand in Hand mit Trischa da und lauschte. Viele Leute standen dabei und hörten dem Mädchen beim Spielen zu.
Philka war erst zwölf, ein schmales Ding in rotbraun kariertem Wollrock und grau-beiger Häkelbluse, die braunen Haare zu Affenschaukeln geflochten. Sie saß da, die Augen halb geschlossen und entlockte dem kleinen Musikinstrument die unglaublichsten Töne. Sie ließ die Mundharmonika gellen und schluchzen. Es klang, als lebe das Messinginstrument.
Von einem Freund wusste Themas, dass Philka sich von ihrem Großvater ein Lehrheft aus Landsweiler hatte mitbringen lassen, das die verschiedenen Spieltechniken auf der Mundharmonika erklärte.
Das sollte ich auch machen, überlegte Themas, während er der klagenden Melodie lauschte, die von hellen Trillern und tiefen Seufzern unterbrochen wurde. So möchte ich auch spielen können. Wenn ich das nächste Mal mit der Karawane ins Draußen …
Der Gedanke stoppte mittendrin.
Es wird kein nächstes Mal geben, dachte Themas. In zwei Wochen werde ich das Lehm verlassen. Entweder, es gelingt mir, oder ich werde ums Leben kommen. Wenn ich es schaffe, kann ich mir im Draußen so viele Lehrhefte übers Mundharmonikaspiel kaufen, wie ich nur will. Und Mundharmonikas!
Der Händler hatte ihm erklärt, dass es auch Instrumente aus Eisenblech gab mit Stimmzungen aus Edelstahl. Die klangen besser und sie hielten länger.
„Die kleine Messingharmonika ist eine Sonderanfertigung“, hatte er Themas mit einem Augenzwinkern erklärt. „Nicht nur die Stimmplatten und die Stimmzungen sind aus Messing, auch die Schalldeckel sind daraus gemacht. Die sind normalerweise immer aus Stahlblech. Aber ihr Leute aus dem Lehm kauft ja nichts aus Stahl und Eisen.“ Er hatte Themas die Mundharmonika im stabilen Pappkästchen gereicht: „Auf die Art kann auch ein Junge wie du ein Instrument erwerben, dass er immer und überall dabei haben kann. Ich wünsche dir viel Freude damit.“
Die werde ich haben, dachte Themas.
Er beschloss, fleißig auf dem Instrument zu üben. Und das Heft von Tante Brilla zu kopieren. Er schaute zu Trischa und lächelte. Sie erwiderte das Lächeln. Am liebsten hätte er sie geschnappt und raus vors Dorf geschleppt, um ihr von der Flucht zu erzählen. Leider war das nicht möglich. Er musste sich gedulden, bis sie zu Hause in Lehmborn waren.

*

Die Geduld von Themas wurde auf eine harte Probe gestellt. Zurück in Lehmborn wollte er Trischa so schnell als möglich allein sprechen, doch das war ein Ding er Unmöglichkeit. Weil sie so lange fort gewesen war, hing ständig eine Blase von Freundinnen an Trischa und ihre Eltern und die nahen Verwandten waren immerzu um sie herum.
Themas platzte schier vor Ungeduld, aber er konnte nichts machen. Er musste warten.
Weil er nichts Besseres zu tun hatte, verzog er sich mit seiner neuen Mundharmonika weit hinaus ins Lehm und übte fern der Ortschaft auf dem kleinen Instrument. Nebenbei kopierte er heimlich das Heft von Tante Brilla. Auf seinen Touren hatte er stets ein leeres Heft und einen Bleistift bei sich. Versteckt in einem Knorrengebüsch schrieb er Wort für Wort aus dem Heft seiner Tante ab. Er bemühte sich um eine saubere Schrift. Schließlich sollte die Botschaft lesbar sein.
Tag für Tag schaffte er eine Kopie. Nebenbei übte er auf der Mundharmonika und auf dem Nachhauseweg hielt er Ausschau nach Wurzeln und Knollen und Kräutern, die er seiner Mutter für die Küche mitbrachte.
Die fertigen Hefte versteckte er auf dem Dachboden. Es war ein Risiko, aber Themas mochte sie nicht draußen lassen. Das Lehm veränderte sich oft und er wollte nicht, dass eine seiner kostbaren Kopien vom Sumpf verschlungen wurde.
Vier Tage nachdem Trischa wieder nach Hause gekommen war, wanderte Themas weit nach Süden. Er folgte nicht der Dammstraße. Er lief mitten durchs Lehm und folgte kaum sichtbaren Pfaden durch Heidekrautfelder und Sandflächen. Er wollte zu der kleinen Insel, die ihm Onkel Jidler zwei Jahre zuvor gezeigt hatte. Dort gab es ausgesucht guten Rötel. Auch wenn er vorhatte, das Lehm zu verlassen, musste Themas so tun, als führe er sein normales Leben weiter. Wenn er abends ein Säckchen besten Rötel mit nach Hause brachte, sah das gut aus.
Überm Wandern überlegte Themas, wem er eine Kopie zukommen lassen wollte. Sein Freund Mirkus musste auf alle Fälle ein Heft bekommen. Fitchell Derber ebenfalls. Fitchell war ausgesprochen rebellisch. Für den war die Schrift genau richtig. Für Imriff Sorbel, Themas´ dritten Freund, eher nicht. Imriff war ein Simpel und ebenso gläubig wie seine Eltern.
Stuffar wird eine Kopie kriegen! Der Sohn des Ziegelmachers.
Themas nickte, als er den Entschluss fasste. Er machte sich keine Sorgen. Ihm würden schon Leute einfallen, die er mit einer Kopie der Schrift beglücken konnte. Er wollte auf alle Fälle sämtliche zehn Hefte, die er besorgt hatte, vollschreiben.
Themas schaute auf. Überm Nachdenken war er ganz nahe an den Rand des Lehms geraten.
Da war die kleine Insel inmitten eines kahlen Sandfeldes, ein Buckel, der ihm bis zum Bauch reichte. Oben drauf stand ein kleines Bäumchen. Ansonsten war der Hügel so kahl wie die nähere Umgebung.
Etwas stach Themas ins Auge. Er brauchte einige Sekunden, bis er verstand. „Uff!“ Er starrte über den kleinen Hügel hinweg zum Rand. Dort war ein breiter Wiesenstreifen, der das Lehm vom Wald trennte. Mitten auf der Wiese hatte jemand einen Stock in den Boden gerammt. Ein Schild aus Pappe hing an dem Stock. „Hallo“, stand in großen Druckbuchstaben auf dem Schild.
Themas starrte die Pappe an. Ganz offensichtlich hatte man das Ding mit Absicht mitten auf der Wiese aufgestellt. Man wollte Aufmerksamkeit erregen. Seine Aufmerksamkeit! Er erkannte die Schrift. Es waren die leicht schräg gestellten Lettern, wie sein Onkel Jidler sie schrieb.
„Onkel!“, flüsterte Themas. „Du warst hier! Direkt am Rand des Lehms!“
Sein Onkel war ein hohes Risiko eingegangen, so nahe ans Lehm zu kommen. Es hätte passieren können, dass es ihn erwischte. Das Lehm hasste Flüchtlinge.
Wozu?, überlegte Themas. Da sah er das Stoffbündel auf dem kleinen Hügel. Er erkannte das Muster. Es war die Bluse, die Tante Brilla getragen hatte, als sie einander in Landsweiler trafen.
Themas trat näher und nahm das Bündel in Augenschein. Nein, das war keine Bluse. Es war nur ein Stück Ärmel, das jemand zu einem kleinen Säckchen genäht hatte. Er hob es auf. Es wog schwer. In seinem Innern klirrte es leise. Neugierig öffnete er das Säckchen und ließ seinen Inhalt in seine Hand fallen. Als er sah, um was sich handelte, erschrak er. Er war froh, dass er das Zeug nicht auf den Boden geschüttet hatte. Das Lehm hätte glatt durchgedreht, wenn es das gespürt hätte.
Es waren schmale Ketten aus Eisengliedern – sechzehn insgesamt.
„Eisenketten“, flüsterte Themas. Er starrte die Dinger an. „Für jeden von uns vier Stück. Eine für jedes Hand- und Fußgelenk. Als Schutz gegen das Lehm!“
Tante Brilla und Onkel Jidler hatten das hier für ihn deponiert. Sein Onkel musste ganz nahe an den Rand des Lehms getreten sein und dann hatte er das Säckchen auf den kleinen Hügel geworfen, in der Hoffnung, dass Themas vielleicht hier vorbeikommen würde. Die Eisenketten waren ein zusätzlicher Schutz für ihre Flucht.
Themas steckte die Ketten in das Säckchen und band es zu. Er schob es unter seine Kleidung. Hastig grub er etwas Rötel aus und füllte ein Stoffsäckchen damit. Zu Hause würde er es seinen Eltern zeigen und davon sprechen, es beim nächsten Karawanenzug ins Draußen zu verkaufen und sich ein Lehrheft für die Mundharmonika zu kaufen. Er musste auf seine Tarnung achten.
Dann stand er still da und schaute auf die Wiese hinaus. Dort, keine fünf Schritte entfernt, war die Freiheit. Sie war zum Greifen nahe. Wie oft hatte er hier schon gestanden und geschaut.
Es wäre ein Leichtes, ein paar Sätze zu machen und auf das Gras hinaus zu springen, überlegte er.
Würde es das sein? Er spürte förmlich, wie das Lehm lauerte. Eine seltsame, unwirkliche Stille herrschte. Kein Vogel sang. Nicht einmal eine Grille zirpte. Das Lehm lag auf der Lauer. Würde er auch nur einen einzigen Schritt weiter in Richtung Rand tun, würde sich der Boden unter seinen Füßen öffnen und ihn verschlingen.
Themas drehte sich um. Langsam ging er zurück ins Lehm. Er lief nach Hause. Er musste mit Trischa sprechen.
Als er in Lehmborn ankam, fand er das Mädchen zusammen mit Freundinnen. Sie begrüßte ihn freundlich.
Themas wartete einen Moment ab, in dem niemand Trischa Aufmerksamkeit schenkte.
„Morgen muss ich dich allein sprechen!“, flüsterte er.
„Ist gut“, antwortete sie, ohne zu fragen, warum.
„Mittags, draußen am Knorrengebüsch, wo es nach Lehmkaul geht“, wisperte er. „Sieh zu, dass dir niemand folgt!“
Sie nickte stumm.

19.08.2017 12:24 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
Neues Thema erstellen Antwort erstellen
Gehe zu:

Powered by Burning Board Lite 1.0.2 © 2001-2004 WoltLab GmbH