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Stefan Steinmetz
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Das Lehm(6) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Themas war mit Trischa draußen bei den Schäfern. Sie halfen beim Hüten und suchten nach essbaren Wurzeln fürs Abendessen. Eigentlich war Themas mit seinen Freunden Mirkus, Fitchell und Imriff verabredet gewesen, doch dann war Trischa aufgetaucht und hatte ihn gefragt, ob er mitkommen wolle, die Schäfer besuchen, die weit draußen vor Lehmborn die Schafe und Kamele weideten.
Früher wäre Themas mit seinen Freunden gegangen, aber seit er Herzklopfen bekam, wenn er Trischa traf, war das anders. Er war der Einladung des Mädchens ohne Zögern gefolgt.
Nun stand er mit ihr auf einer kleinen Geländeerhöhung und ließ den Blick übers Lehm wandern. Die Schafe und Kamele weideten auf einer schier endlos großen Grasfläche. Wadenhohe Heidekrautpolster standen überall im grünen Gras und hier und da wuchs knorriges Gestrüpp.
Die Hauptfarbe der Landschaft war ein helles Ziegelrot. Wo kein Gras wuchs, zeigte sich Sand und Lehm in rötlicher Farbe. Es war die Farbe der Heimat. Die Farbe des Lehms.
Sogar die Menschen trugen Kleidung in dieser Farbe. Die Wolle der Kamele war von der gleichen Farbe wie das Lehm. Sie wurde in fast alle Stoffe eingewebt.
Themas warf einen Blick auf Mork Ärlemon, den Schäfer. Er stand auf seinen Schäferstab gelehnt inmitten der grasbewachsenen Heide und hatte ein wachsames Auge auf seine Tiere. Die Spitze des Schäferstabes funkelte in der Sonne. Es war eine aus Bronze gegossene Spitze. Sie war scharf und machte den Stab im Bedarfsfall zum Speer. Damit wehrten die Schäfer Raubtiere ab. Denn so friedlich wie es schien, war das Lehm nicht. Es gab den Horro.
Von Süden kam eine Gruppe Kinder gelaufen, angeführt von Dorfpriester Nelder Borkruther. Der Priester erklärte seinen Schützlingen das Lehm. Er zeigte ihnen das grüne, saftige Gras, das eine gute Weide für Kamele und Schafe abgab und das harte, sägezahnartige dunkle Gras, das die Ziegen liebten, die die Dörfler hielten.
Er beschrieb das niedrig wachsende Heidekraut und das mannshohe Gestrüpp.
Die Kindergruppe kam heran und die Kleinen verteilten sich, um die Schafe zu streicheln und die Kamele, die den Kopf senkten, an den Ohren zu kraulen. Nelder ließ sie machen. Er unterhielt sich angelegentlich mit Mork und seiner Frau Preta über das Wetter und darüber, dass diese Weidefläche seit langem stabil war.
„Wohl“, meinte Mork. „Es kann sich aber jeden Tag ändern. Morgen schon kann der Boden hier weich und tückisch werden und alles verschlingen, was darüber läuft. So ist das Lehm.“
Die Kinder kamen herbei und wollten die bronzene Spitze von Morks Schäferstab anschauen.
„Das ist eine scharfkantige Waffe“, erklärte der Dorfpriester. Nelder Borkruther war nicht nur Priester. Er war auch der Lehrer von Lehmborn und unterrichtete die Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Von ihm lernten sie lesen und schreiben und rechnen und er erklärte ihnen das Lehm.
Er zeigte auf die Spitze des Schäferstabes: „Was ein anständiger Schäfer ist, der wehrt mit dieser Waffe einen angreifenden Horro ab. Töten kann man das Untier selten. Es reicht, es abzuwehren, damit die Herde fliehen kann. Aber noch besser ist es, einem Horro erst gar nicht nahe zu kommen.“
Nelder schaute in die Runde: „Wer sagt mir, wie man einen lauernden Horro erkennt?“
Die kleine Tithra, Tochter von Ziegelmacher Clometsch Borkruther, hob die Hand: „Er liegt in einer flachen Sandkuhle unter der Erde. Man erkennt seinen Kopf. Wo der ist, gibt es eine kleine Erhöhung im Sand und da gucken seine Atemröhrchen raus. Die sehen aus wie Grashalme. Wenn man ihm nicht zu nahe kommt, kann er einem nichts tun.“
„Sehr schön, Tithra“, lobte Nelder. „Der Horro, auch Sandhund genannt, ist das einzige Geschöpf im Lehm, das uns Menschen gefährlich werden kann. Er sieht aus wie die Seehunde im Draußen, die im Meer leben. Sein Körper ist bis zu drei Meter lang und zylindrisch gebaut, mit kräftigen Grabflossen an den Flanken. Der Kopf des Untiers gleicht dem Kopf eines Bären, nur dass sein Maul noch größer und seine Hauer noch länger und furchterregender sind. Wenn ein Tier oder ein Mensch einem lauernden Horro zu nahe kommt, schießt er aus dem Sand hervor und fällt sein Opfer an. Dabei brüllt und knurrt er laut.“ Nelder Borkruther imitierte das Geräusch, das ein angreifender Sandhund von sich gab: „Horrorrooorll!“
„Was tut man, wenn ein Horro aus dem Sand hervorbricht?“, fragte der Priester.
Tithras Bruder Ulbert meldete sich: „Einen Satz zur Seite machen und rennen, was das Zeug hält.“
„Ganz genau, Ulbert. Man muss sofort wegspringen. Dann hat man eine Chance. Erstarrt man hingegen vor Furcht, ist es um einen geschehen. Der Horro packt sein Opfer, beißt ihm die Kehle durch und dann zerrt er es unter die Sandoberfläche, wo er es auffrisst.“
Themas sah Trischa an: „Und da sagen sie immer, das Lehm sei gut zu uns und dass es uns beschützt. Wie kann es dann zulassen, dass ein Ungeheuer wie der Horro unser Leben bedroht?“
„Themas!“, wisperte Trischa erschrocken. „Nicht so laut! Nicht vor den Kindern!“
„Ist doch wahr!“, behauptete er störrisch.
„Ist es nicht“, hielt das Mädchen dagegen. „Das Lehm kann den Sandhund nicht spüren, so lange er still auf der Lauer liegt. Er sondert aus Drüsen seiner Haut etwas ab, das das Lehm taub macht. Der Priester hat es uns erklärt, als wir noch Schüler waren.
Man kann einen Horro leicht erkennen, wenn man die Augen aufhält. Zudem finden sich die Sandhunde nur selten im Innern des Lehms. Sie liegen am Rand auf der Lauer, um Tiere zu erwischen, die von draußen ins Lehm kommen. Hirsche und Rehe und Wildschweine zum Beispiel.“
„Im Draußen gibt es kein Horros“, sagte Themas. „Der Sandhund muss mit dem fliegenden Samenkorn gekommen sein, das durchs Weltenall trieb und auf der Erde landete.“
„Das stimmt, Themas.“ Der Priester man zu ihm. „Der Sandhund war Teil des Samens, der hier landete, ebenso wie das Gestrüpp, das niedrige Heidekraut, das Knorrengras, der große blaue Krebs und vieles andere, das es im Draußen nicht gibt.“
„Aber wozu?“, fragte Themas. „Der Horro frisst Tiere, die vom Draußen ins Lehm kommen. Das tut das Lehm selbst gerne. Es lässt die Hirsche ins Land und wenn sie tief genug drinnen sind, versinken sie im Boden. Das Lehm verschlingt sie. Wenn es zulässt, dass ein Horro stattdessen einen Hirsch auffrisst, verliert das Lehm ihn als Beute.“
„Die Ausscheidungen, Themas“, erklärte der Priester. „Die Ausscheidungen des Horro düngen das Lehm.“ Er lächelte Themas und Trischa an: „Genau wie die unseren. Ihr wisst doch, wo das, was aus euch herauskommt, landet? Na also!“ Nelder wirkte vergnügt. „Alles ist ein Kreislauf aus Geben und Nehmen. Das Lehm nimmt unsere Gaben und es schenkt uns seine Gaben dafür.“
Der Priester wandte sich an seine Schüler. Er zeigte auf Mork Ärlemon und machte eine Geste, die die ganze Landschaft mit einschloss: „Ein rechter Schäfer findet sichere Weiden für seine Tiere. Er weiß um die Gefahren im Lehm. Sein Auge unterscheidet mühelos Untiefen und feste Wege. Es mag sein, dass es zu einer neuen Weide Luftlinie nur wenige hundert Meter sind und doch wird ein guter Schäfer einen Umweg von mehreren Kilometern in Kauf nehmen, um seine Herde auf sicheren Wegen dorthin zu führen.“
Trischa nahm die Hand von Themas: „Gehen wir zurück? Ich will meiner Mutter bei der Gartenarbeit helfen.“
Nur zu gerne ging Themas mit dem Mädchen. Er achtete darauf, dass Trischas Hand in seiner blieb.
Unterwegs ließ er den Blick über die Landschaft schweifen. Der rötliche Lehmsand war überall. Auf kleinen Hügeln wuchs Gestrüpp. Im Gras blühten farbige Blumen. Es war schön im Lehm. Alles hätte gut sein können, wenn da nicht die armen Kinder unter den Treppen gewesen wären. Die Existenz der Zweitlinge vergällte Themas alle Freude an seiner Heimat. Und er war nicht der Einzige, dem es so ging, das wusste er. Onkel Jidler und Tante Brilla waren nicht umsonst aus dem Lehm geflohen.
„Bald ist Vollmond“, begann Trischa. „Dann geht die Karawane ins Draußen und du wirst sie begleiten. Sag, bringst du mir wirklich etwas mit?“
„Aber ja“, sagte er. „Ich werde etwas suchen, das dir gefällt, Trischa.“
Sie lächelte ihn an. „Ich bin gespannt, was du draußen erleben wirst. Du musst mir alles erzählen! Ich bin so neugierig. Ich muss ja noch ein Jahr warten, bevor ich mit darf.“ Sie seufzte. „Wer weiß, wie es auf mich wirkt. Es gibt Leute, die gehen einmal mit nach draußen und dann nie wieder.“
„Es gibt auch Menschen, die sich weigern, das Lehm je zu verlassen“, sagte Themas. „Andere möchten jedes Mal mit der Karawane hinaus nach Landsweiler. Die Menschen sind verschieden. Was einer mag, gefällt dem anderen nicht.“
Sie kamen zum Dorf. Themas fühlte Bedauern, als er Trischas Hand loslassen musste. Er wäre am liebsten den ganzen Tag lang Hand in Hand mit dem Mädchen gegangen.
„Bis dann“, sagte Trischa und bog in den Weg ab, der zu ihrem Elternhaus führte.
„Bis dann“, rief Themas ihr hinterher. Er marschierte zu seinem Haus. Beim Näherkommen sah er seinen Zweitling zwischen den Gitterstäben hindurch spähen. Er winkte ihm zu. Die Geste wurde erwidert.
Heute Abend tue ich es!, nahm er sich vor. Heute Abend werde ich es machen! Wenn meine Eltern zur Bürgerversammlung gehen.
Allein der Gedanke ließ sein Herz wild klopfen.

*

Themas stand am Fenster. Er lugte hinter dem Vorhang hervor und beobachtete seine Eltern, die den Weg hinunter schritten. Sie gingen zur Bürgerversammlung wie alle Erwachsenen im Dorf.
Themas wartete ab, bis keiner mehr draußen zu sehen war. Er holte den Stoffbeutel, den er vorbereitet hatte und schlich zur Haustür hinaus. Er sah sich um. Wenn man ihn erwischte, war das mindeste, was ihn erwartete, ein geharnischtes Donnerwetter, wenn nicht sogar Schlimmeres.
Er hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn man ihm auf die Schliche kam. Er wusste, dass es verboten war, aber sonst nichts.
Der Weg zwischen den Backsteinhäusern lag verlassen. Es war früher Abend und sämtliche Kinder hielten sich in den Häusern auf. Sie hatten Order, im Haus zu bleiben, bis die Eltern von der Versammlung zurück waren.
Themas blieb oben auf der Treppe stehen. Schräg gegenüber stand das Backsteinhaus der Familie Stukep, links war das Haus der Higels und dahinter das der Errlings. Die Häuser standen in weiten Abständen. Es gab keine wirklichen Wege, eher freien Platz zwischen den Bauten.
Das Haus gegenüber sah fast genauso aus wie das Haus, in dem Themas mit seinen Eltern wohnte. Es war komplett aus roten Ziegelsteinen errichtet. Es hatte ein Kellergeschoss, das zur Hälfte aus dem Boden herausragte und darüber die Wohnetage. Unter dem Dach befanden sich die Schlafräume der Familie. Kleine Gauben mit Butzenscheibenfenstern hockten auf dem mit Biberschwanzziegeln gedeckten Dach.
Die Haustür ging auf die Treppe hinaus. Rechts und links führten mehrere Stufen nach unten. Ein Geländer schützte die Treppe. Unten, genau in der Mitte, dräute eine dunkle Öffnung mit einer schmiedeeisernen Gittertür. Dort in dem kleinen Raum unter der Treppe steckte das armselige Kind, das irgendwann eine Gabe an das Lehm werden sollte. Der Anblick der Gittertür ließ Themas schaudern.
Purer Zufall, dachte er. Nichts als ein Zufall sorgte dafür, dass ich leben darf und nicht in einem solchen Loch stecke.
Noch einmal sah er sich um. Dann schritt er die Treppe hinab. Er setzte sich vor das Gitter unter der Treppe und holte etwas aus dem Stoffbeutel. Drinnen sah er „das-unter-der-Treppe“ kauern. Große Augen musterten ihn fragend.
Themas holte das Brot und die Möhren hervor. Er reichte sie durchs Gitter: „Hier. Essen. Du verstehst?“
Sein Zwilling kam zum Gitter und schnappte sich das Essen. Hungrig verschlang er die Köstlichkeiten. Themas zog es das Herz zusammen. „Die-unter-der-Treppe“ bekamen normalerweise nur Reste und auch davon nicht viel. Wahrscheinlich litten sie ständig Hunger. Der Junge im Verlies aß, als gelte es sein Leben.
Themas schaute zum ersten Mal das Verlies unter der Treppe genauer an. Es war ein kleiner Raum, nicht einmal hoch genug, um darin zu stehen. Hinten an der Wand gab es einen Wasserhahn aus Bronze. Dort konnte der Bewohner des Gefängnisses Wasser trinken. Ebenfalls ganz hinten an der Wand war ein Loch im Boden. Auch dort gab es eine Wasserzapfstelle. Themas wurde ganz anders bei dem Anblick. Das musste eine primitive Toilette sein. Unter dem Loch verlief wahrscheinlich ein Rohr in den Untergrund, genau wie bei den Toiletten in den Wohnhäusern. Man spülte alles mit Wasser in den Untergrund. Das Lehm nahm die Gabe an und verwandelte sie in Dünger.
Der Junge im Verlies war fertig mit essen. Stumm schaute er zu Themas hinaus. Themas wusste nicht recht, was er tun sollte. „Du … ähm ...“, begann er. Wie sollte er seinen Bruder fragen, ob er noch Hunger hatte? Er rieb sich über den Bauch: „Du satt?“ Dann machte er eine fütternde Geste mit der Hand zu seinem Mund: „Oder du mehr Essen?“ Würde der Zweitling ihn verstehen? „Du verstehen?“, fragte er.
„Ich kann dich gut verstehen“, antwortete es aus dem Verlies. Wenn Themas nicht auf dem Boden gesessen hätte, wäre er vor Überraschung auf den Hintern gefallen.
„Du … du kannst ja richtig sprechen!“, sagte er. Er war total verblüfft.
„Wir alle können sprechen“, antwortete sein Bruder aus der Düsternis seines Gefängnisses. „Wir lauschen es den Menschen draußen ab und lernen es. Nachts, wenn alle schlafen, reden wir miteinander. Man redet mit dem Kerkerkind dessen Gefängnis am nächsten liegt und das gibt die Worte weiter. Wir sprechen Nachrichten durchs ganze Dorf.“
„Irre!“ Mehr brachte Themas nicht heraus. Damit hatte er nicht gerechnet. „Ich dachte immer, ihr könnt nicht richtig … also, wie soll ich sagen? Ihr gebt immer nur ein paar Brocken von euch. Ehrlich gesagt, das hört sich an, als ob ihr ...“ Er zögerte.
„Als ob wir nicht wirklich Menschen sind?“, half sein Zwilling nach. „Als wären wir zurückgeblieben und von dumpfem Gemüt?“
„Ähm … jjja“, sagte Themas lahm. „Ich verstehe das gerade nicht.“
Der Blick seines Bruders traf ihn mitten ins Herz: „Mama soll nicht wissen, dass ich genau wie du bin. Es würde ihr das Herz brechen. Sie soll denken, dass ich dumm und zurückgeblieben bin. So kann sie es leichter ertragen.“
„Heilige Lehma!“, wisperte Themas. Er verstand. „Tut ihr es alle?“
Sein Bruder nickte. „Alle ohne Ausnahme. Wir Größeren lehren es die Kleinen, sobald sie fähig sind, zu verstehen.“
Der eingesperrte Junge kam ganz nach vorne ans Gitter. „Es ist schlimm genug, dass Mama leidet, weil sie weiß, was irgendwann mit mir passiert. Wenn sie wüsste, dass ich kein stumpfsinniges, verblödetes Etwas bin, würde es sie noch viel mehr quälen.“
Themas musste tief durchatmen. „Ihr wisst, was auf euch zukommt?“
Sein Bruder nickte. „Wir wissen es und wir haben Angst. Schreckliche Angst.“
Themas konnte nicht anders. Er griff durch das Gitter und fasste nach der Hand seines Zwillings. Sie war bleich, diese Hand.
Weil er immer unter der Treppe eingesperrt ist, dachte er.
„Erzählst du mir?“, bat sein Zwilling.
„Erzählen?“ Themas runzelte die Stirn. „Was denn?“
„Alles“, antwortete sein Bruder. Seine Stimme war leise und heller als die von Themas. Sie klang, als würde der Besitzer dieser Stimme sie nur selten gebrauchen. „Erzähl mir von dir. Erzähl mir vom Leben.“
„Vom Leben?“
„Was hast du heute gemacht? Ich habe gesehen, wie du nach links gelaufen bist. Dort geht es hinaus auf die Weiden.“
„Ja, da war ich“, sagte Themas. „Mit Trischa Banbirk. Wir sind zu den Schäfern gegangen und wir haben die Schulkinder mit dem Priester getroffen.“
„Erzählst du es mir?“, bat sein Bruder mit dieser leisen und viel zu hellen Stimme.
Themas fing an zu erzählen.
Sein Zwilling lauschte atemlos. Irgendwann stupste er Themas an: „Du musst gehen. Sie kehren bald zurück.“
Themas fuhr auf: „Was? Schon so spät?“ Er blickte seinen Zwillingsbruder an: „Ich komme wieder. Jede Woche.“ Er zögerte. „Nur, wenn du willst.“
„Ich will“, sagte sein gefangener Bruder. „Ich werde dir zuhören und nachts alles weiter berichten, damit alle Kerkerkinder vom Lehm und dem Leben erfahren. Wir wissen so wenig.“ Er fasste nach der Hand von Themas: „Danke, dass du zu mir gekommen bist. Das bedeutet mir sehr viel. Du bist mein Bruder. Du hast mich als Menschen angesehen. Danke, Themas!“
„Schon gut“, würgte Themas hervor. Er stand auf. Er hatte einen dicken Kloß im Hals. „Bis dann.“
„Bis dann, Themas“, kam es leise unter der Treppe hervor.
Themas war froh, dass sein Zwilling von dort unten aus die Tränen nicht sehen konnte, die ihm über die Wangen liefen.

16.07.2017 15:37 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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