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Stefan Steinmetz
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Das Lehm(32) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Mitte September kam der Sommer noch einmal zurück. Mochte es nachts kühl werden, am Tag schien die Sonne vom blauen Himmel und brachte angenehme Temperaturen. Im Vorgarten der Lerongs fand ein kleines Fest statt. Honil und Lemka Toller aus der Gärtnerei waren da und Professor Kundar Jeblick, ein Insektenforscher. Er war ein Freund von Jidler. Dresie saß bei den Tollers. Sie war oft zu Besuch in der Gärtnerei. Ihre kleine Puppe hatte sie immer dabei.
Themas, Thimas, Trischa und Truschka waren bester Laune. Die beiden Jungs hatten Lehrstellen bei der Eisenbahn gefunden und die Mädchen hatten von Jidler ein kleines Fischerboot bekommen. Damit fuhren sie fast täglich auf den Rodensee hinaus und warfen ihre Netze aus. Ihren Fang verkauften sie auf dem Markt in der Stadt.
Dresie ging zur Schule. Sie hatte sich eingewöhnt und nette Freundinnen gefunden. Sie war oft bei den Tollers in der Gärtnerei. Lemka Toller war vernarrt in das Mädchen und hätte es gerne an Kindes Statt angenommen, doch Dresie bestand darauf, bei Themas zu bleiben. Sie würde ein Zimmer im Hause Lerong bekommen. Onkel Jidler hatte angefangen, mit Themas und Thimas einen Anbau zu mauern. Von den Nachbarn kamen oft welche und halfen, wo sie konnten. Es waren alles Leute, die aus dem Lehm geflohen waren. Man hielt zusammen und unterstützte sich gegenseitig.
Der Anbau sollte noch vor Anbruch des Winters fertig werden. Es war etwas eng bei Lerongs.
Nun saß man zusammen vorm Haus an einem langen Tisch. Auf einem Gussgrill, den Onkel Jidler persönlich hergestellt hatte, brutzelten Würstchen und Fische, die die Banbirkmädchen gefangen hatten. Tante Brilla drehte das Grillgut mit einer Zange um und sie passte auf, dass Allie und Mellie dem Grill nicht zu nahe kamen, damit sie sich nicht die Finger verbrannten.
Die Flüchtlinge waren seit einem Monat in Rodental und hatten sich gut eingelebt. Im Viertel hatten sie viele alte Bekannte getroffen. Viele dieser Leute waren Eltern von Zwillingen. Sie waren geflohen, um ihr zweitgeborenes Kind vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren.
Die kleine Stadt am Rodensee hatte sie mit offenen Armen empfangen. Die kleine Industrieansiedlung am östlichen Stadtrand brauchte Arbeitskräfte. Jeder Zuwanderer war hochwillkommen.
Themas warf Trischa einen Blick zu. Das Mädchen trug ein Kleidchen aus waidblauem Stoff. Die Farbe passte gut zu ihren braunen Haaren und den honigfarbenen Augen, fand er. Er bekam immer noch Herzklopfen, wenn er Trischa in die Augen schaute.
Ihm war aufgefallen, dass sein Bruder und Trischas Schwester sich häufig zusammen herumtrieben. Da schien sich etwas anzubahnen.
Onkel Jidler kam aus dem Haus. Er trug einen Holzkasten mit sechs Flaschen Bier: „Hier kommt Nachschub. Für die jungen Leute habe ich zwei Flaschen Limonade dabei.“
„Limo!“ Dresie rutschte von Lemka Tollers Schoß. Sie hopste über den kurzgeschnittenen Rasen zu Jidler und holte sich eine Flasche. Das Mädchen trug ein Kleid von hellroter Farbe mit weißem Ornamentmuster. Auch Dresie liebte es bunt. Keiner mochte mehr die grau-rötlichen Düsterfarben des Lehms tragen.
Nur eins hatte Dresie beibehalten: Sie lief fast immer barfuß. Nur wenn sie zur Schule ging, zog sie Schuhe an.
„Hoo! Frischer Gerstensaft“, rief Professor Jeblick. Er nahm sich eine Flasche und ließ den Bügelverschluss aufschnappen. Er goss das goldgelbe Getränk in sein Glas und hob es: „Lasst uns Jünger des Gambrinus sein! Prosit alle miteinander!“
Die Erwachsenen stießen an und tranken.
„Also mein lieber Jidler“, hob der Professor an, „ich habe mich in den letzten Tagen eingehend mit deinen Aufzeichnungen über dieses unglaubliche Land beschäftigt und mir so meine Gedanken gemacht. Es ist bekannt, dass das Lehm lebt. Es ist ein riesiger Organismus. Ich kann nicht exakt sagen, ob jedes Sandkorn ein Lebewesen ist, doch fest steht: Das Lehm besteht aus Millionen von Einzelteilen, die Leben in sich haben. Man könnte es mit einem gigantischen Ameisenstaat vergleichen. Es ist in einem gewissen Umfang intelligent. Es handelt sich um das, was die Forschung Schwarm-Intelligenz oder Quasi-Intelligenz nennt.
In den schlauen Büchern steht, dass der Same des Lehms außerirdisch war, dass er unendlich lange durchs Weltenall flog, bis er ins Schwerefeld unseres Planeten geriet und landete.
Findet der Same passende Bedingungen vor, geht er auf und wächst zu einem lebenden Gebilde von vielen Kilometern Durchmesser heran.
Das Lehm ist aufgebaut wie ein Ameisenstaat. Es zählt das Ganze, nicht das Individuum. Die einzelne Ameise stirbt für die Allgemeinheit. Der Tod eines Individuums gilt dem Lehm nichts. Das würde erklären, warum es den Opfertod von Menschen in Kauf nimmt.
Aber ich glaube nicht, dass es sich beim Lehm um eine riesige Falle handelt, die aufgestellt wurde, um Menschen einzufangen und dann zu terrorisieren.“
„Wie erklärst du dir dann das abscheuliche Kinderopferritual?“, fragte Jidler. „Und die Gabe, die das Lehm verlangt, wenn jemand geflohen ist? Flucht macht das Lehm wütend und es will Opfer zu seiner Besänftigung. Ich sage dir, Kundar, das Lehm hat unschuldige Menschen in eine gigantische Falle gelockt, um sie zu beherrschen und zu quälen. Denn genau das tut es seit Anbeginn der Besiedlung. Es tut ferner alles, um eine Flucht seiner Menschen zu verhindern. Wahrscheinlich sind die Opferkinder eine zusätzliche schmackhafte Nahrung für diese dämonische Lebensform.“
Themas saß da und lauschte den beiden Männern. Diese Diskussion war hochinteressant.
„So, so“, sagte der Professor. „Also gut, Jidler. Ich bestreite nicht, dass es sich beim Lehm um eine dämonische Lebensform handeln könnte. Das Samenkorn könnte aus einer Art Zwischenwelt stammen und hier gekeimt sein, um Angst und Schrecken zu verbreiten und sich am Leid der eingeschlossenen Menschen zu weiden. Unmöglich ist das nicht. Aber nicht sehr wahrscheinlich.
Wenn das Lehm außerirdischen Ursprungs ist, funktioniert dies Erklärung nicht. Ich denke eher, dass jeder Same nach dem Aufgehen versucht, in Symbiose mit einer intelligenten Lebensform zu leben, so der Planet eine solche hervorgebracht hat.
Menschen als Nahrung für das Lehm? Es bekommt genug Hirsche, Rehe, Bären und kleine Säugetiere und auch Vögel zu fressen, um seinen Proteinhunger zu stillen. Auf Menschen ist es nicht angewiesen.
Das Lehm will nicht, dass Menschen fliehen? Nun … vielleicht ist das so. Wenn es spürt, dass jemand flüchtet, tötet es diese Person.“ Der Professor nahm einen Schluck Bier. „Nicht vergessen, dem Lehm gilt das Leben eines einzelnen Individuums nichts. Wahrscheinlich kann es nicht einmal verstehen, was Individualismus ist. Es sieht immer nur das Ganze, die Masse, den Staat.
Aber nun frage ich dich, Jidler: Wenn das Lehm von vorneherein verhindern möchte, dass die Menschen ins Draußen entkommen, wie kann es dann sein, dass die meisten Ansiedlungen dort drinnen so nahe an der Außengrenze liegen? Wäre es nicht logisch, die Dörfer in einem Kreis um den inneren See zu konzentrieren, um die Fluchtwege so lange und beschwerlich wie nur möglich zu machen?
Du hast mir erzählt, dass die meisten Flüchtlinge ums Leben kommen, wenn sie die Dammstraße benutzen, weil das Lehm dort selbst in Neumondnächten nie tief schläft. Ich denke, das ist so, weil es diese Straße stabilisieren muss. Es muss dafür sorgen, dass sie nicht einfach verschwindet, wenn es einen Atemzug tut. Sonstwo verändert sich ja alles ständig. Bachläufe verändern sich. Wo heute Gras wächst, ist morgen eine öde Sandfläche. Kleine Hügel drücken sich aus dem Boden hoch oder versinken im Sand.
Die Dammstraße aber ist seit der Erstbesiedlung immer gleich geblieben. Weil das Lehm sie überwacht und ständig repariert und restauriert. Es erhält die Dammstraße für die Menschen. Weil es diesem Damm dauernd Aufmerksamkeit schenken muss, spürt es Flüchtlinge sogar in Neumondnächten, wenn es eigentlich tief schlafen sollte. Ein sehr kleiner Teil des Lehms bleibt wach und kümmert sich darum, dass der Damm nicht verschwindet, wenn der Riesenorganismus sich im Schlaf bewegt.“
„Schön und gut“, meinte Jidler. „Es ist also wach, weil es die Dammstraße erhalten muss. Es lauert nicht, sagst du, es strengt sich lediglich im Schlaf an, etwas auf seiner Oberfläche zu erhalten. Aber es bringt die Leute um, die über diese Straße fliehen wollen. Wenn das kein Zeichen von Bösartigkeit ist!“
„Dass es ab und zu einen Hirsch zu Nahrungszwecken tötet oder auch mal einen Dachs, ist kein Zeichen von Bösartigkeit“, hielt der Professor dagegen. „Doch wie ich bereits sagte, glaube ich nicht, dass das Lehm Menschen als Nahrung ansieht. Im Gegenteil, es scheint auf intelligente Lebensformen zu reagieren und eine Symbiose mit ihnen zu suchen. Es will mit Menschen in Symbiose leben.“
„Und warum bringt es sie dann um?“, fragte Jidler. „Warum verlangt es, dass zweitgeborene Zwillinge ein Leben lang in einem Kerker unter der Haustreppe leben, um irgendwann geopfert zu werden?“
„Als die Menschen ins Lehm einwanderten, bekam das Lehm zum ersten Mal Kontakt mit der intelligenten Lebensform der Erde“, sagte Kundar. „Eure Legenden berichten, dass die elfjährige Reba Derber Kontakt mit dem Lehm aufnahm. Das Mädchen schien die Fähigkeit zu haben, mit dem außerirdischen Organismus auf einer primitiven Ebene zu kommunizieren. Nur wenige Menschen können dieses Talent. Du hast erzählt, dass das Lehm die neue Lehma aus einer großen Anzahl kleiner Mädchen auswählt. Es scheint so, dass weibliche Menschen einen besseren Draht zum Lehm haben und manche unter ihnen besonders gut mit dem Lehm „reden“ können, beziehungsweise das Lehm „hören“ können.“
Der Professor seufzte abgrundtief. „Ja, und nun haben wir hier ein kleines Mädchen, Reba Derber, einen Zwilling und dieses Mädchen ist böse. Rebas Schwester wird bevorzugt. Reba leidet darunter. Sie hasst ihre Schwester. Sie wünscht ihr die Pest an den Hals. Vielleicht hat sie sogar Mordfantasien oder stellt sich vor, wie die verhasste Schwester auf irgendeine Art zu Tode kommt, sei es durch einen Sturz von einem hohen Felsen oder dass sie in einem Sumpf versinkt.
Das Lehm konnte zwar spüren, dass viele Menschen auf seiner Oberfläche herumliefen und dass diese Menschen eine intelligente Lebensform waren, aber es konnte nur die Gedanken der ersten Lehma deutlich wahrnehmen. Das Lehm nahm diese Gedanken auf. Es wurde gewissermaßen … wie soll ich sagen? … auf das Mädchen adaptiert? Die bösen Gedanken Rebas, ihre Wut, ihre Todesfantasien, ihre Zwillingsschwester betreffend, wurden gewissermaßen ins Schwarmgedächtnis des Lehms eingebrannt und dort verankert.
Das Lehm lernte: Der zweitgeborene Zwilling ist des Todes.
Und ich sage noch etwas: Reba Derber erfreute sich ihrer Macht und sie wollte unter keinen Umständen, dass sie die Herrschaft über die kleine Gemeinschaft verlor. Wenn die Menschen geflohen wären, als die erste Lehma das grausame Zwillingsopferritual einführte, hätte Reba niemanden mehr gehabt, den sie beherrschen konnte. Flucht galt ihr als todeswürdiges Verbrechen.“
Themas lauschte mit klopfendem Herzen den Ausführungen Professor Jeblicks. Er bekam eine Gänsehaut, als er Kundar zuhörte.
„Es war alles ein schrecklicher Irrtum“, sagte der Professor. „Das Lehm lernte von Reba Derber. Anscheinend konnte keiner der anderen Menschen mit dem Lehm kommunizieren. So übernahm es die total einseitige Ansicht eines bösen kleinen Mädchens, dass voller Hass steckte und das herrschsüchtig war. Das Lehm verankerte dieses Wissen auf ewig in seinem Schwarmgedächtnis und zwang den nachfolgenden Lehmas und Menschen diese falsche Lebensform auf.“
Der Professor schüttelte den Kopf: „Ein schreckliches Missverständnis und es war unmöglich, die Sache zu korrigieren.“
„Beim Himmel!“, sagte Jidler. „Ich glaube, du könntest Recht haben.“
„Wenn man mit ihm reden könnte“, sagte der Professor. „Wenn es einen Weg gäbe, mit dem Lehm Kontakt aufzunehmen … wenn man ihm klarmachen könnte, dass es falschen Gedanken und Gefühlen aufgesessen ist ...“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Alles ein schrecklicher Irrtum!“
Themas saß da wie erschlagen. Was Kundar Jeblick gerade gesagt hatte, war ungeheuerlich. Wenn es die Wahrheit war, dann mordete das Lehm seit Jahrhunderten, weil es bei der ersten Begegnung mit Menschen ein völlig falsches Bild von ihnen übermittelt bekommen hatte und seine beschränkte Intelligenz nicht zuließ, den Irrtum nachträglich festzustellen und zu korrigieren.
Er sah im Geist ein Mädchen vor sich, so alt wie Grutie Umpfbeetl und genauso hochnäsig und zickig, wie die kleine Lehma früher gewesen war. Dieses Mädchen war zum Bersten angefüllt mit hilfloser Wut und Hass. Seine Zwillingsschwester wurde von den Eltern stets vorgezogen. Ihre Leistungen und ihr Wohlverhalten wurden der Erstgeborenen vorgehalten. Mit den Jahren wuchs der Zorn in diesem Mädchen, bis er sich in puren Hass verwandelte.
Sie hasste ihre Schwester so sehr, dass sie ihr den Tod wünschte. Ihr Geist war mit glasklaren Bildern angefüllt, die das Sterben der Zweitgeborenen des Zwillingspaars zeigte.
Ausgerechnet dieses Mädchen hatte das Talent, mit dem Lehm in geistigen Kontakt zu treten und es übermittelte der beschränkten Intelligenz des Lehms all die grausamen Bilder. An diesen Bildern und Gefühlen orientierte sich das Lehm. Es baute sie in seinen Geist ein und verfuhr fortan nach einem bestimmten Schema. Es erkannte nicht, dass Reba Derber ein Kind voller Hass und Neidgefühle war, dass dieses Kind zutiefst verletzt war und Rebas Mordgedanken letzten Endes nichts weiter als das Ergebnis ihrer Hilflosigkeit waren.
All die Jahrhunderte hatte das Lehm sich kleine Mädchen ausgesucht, die ähnliche Gefühle hatten; kleine herrschsüchtige Dinger, die gerne bestimmten und darauf brannten, ihrer Herrschsucht freien Lauf zu lassen. Es hatte missgünstige, gehässige Kinder erwählt, die sich schlecht behandelt und vom Schicksal benachteiligt fühlten.
Die meisten der Auserwählten hatten mit sich dann in der Macht, die das Lehm ihnen in Hände legte, gesuhlt und sich wohlgefühlt. Sie hatten es genossen, über die Menschen im Lehm zu herrschen. Nur wenige hatten sich im Lauf der Jahre Gedanken gemacht. Wie sollte das Lehm wissen, dass es schlecht handelte? Die auserwählten Mädchen sandten Gefühle von Befriedigung in seinen Geist. Sie glaubten sich im Recht. Sie fühlten sich wohl, wenn sie ihre Herrschsucht auslebten.
„Beim Himmel!“, sagte Themas.
„Ja, Junge“, sagte sein Onkel. „Beim Himmel!“
„Beim Himmel!“, sagte Trischa. Sie fuhr auf. „Das ist doch die Hurckie!“
„Bitte?“ Themas verstand nichts. Was meinte Trischa?
„Hurckie!“, wiederholte Trischa. „Und Mirkus. Und ...“ Ihre Augen wurden groß. „Mama!“, schrie sie. „Papa!“
Dresie sprang von Lemka Tollers Schoß: „Mama!“ Sie rannte los, als sei das Lehm hinter ihr her.
Themas drehte sich um. Eine Gruppe Leute kam von rechts die Straße herauf auf sie zu. Er erkannte seinen Freund Mirkus mit seiner Schwester Hurckie. Hobert und Jempie Banbirk waren bei ihnen und die Honicks. Da waren mehrere Kinder aus Lehmborn.
Und seine Eltern.
Sein Herz machte einen wilden Hopser. Neben ihm sprang Thimas hoch und lief los. Themas folgte seinem Bruder. Er hörte noch, wie Tante Brilla den Namen ihrer Schwester rief, da lag er schon seinem Vater in den Armen, Thimas neben ihm in den Armen der Mutter. Dann ging es abwechselnd hin und her, auch Brilla drängte sich dazwischen und zum guten Schluss auch noch Jidler, der Schwager und Schwägerin in die Arme nehmen wollte. Küsse wurden getauscht und Tränen flossen, bei Irrluchts und Lerongs wie bei den Banbirks und den Honicks.
Es dauerte seine Zeit, bis Lemka Toller die nicht endenwollende Begrüßungszeremonie resolut unterbrach: „Leute, die Würstchen brennen an! Die Fische ebenso! Esst sie lieber, solange sie noch gut schmecken!“ Wie ein General begann sie Befehle zu geben. Ihr Mann und Onkel Jidler wurden zusammen mit Themas und Thimas zum Haus der Tollers geschickt, um zwei weitere Tische und genügend Stühle zu organisieren.
„Es ist noch lange hell und nicht zu kalt, um im Freien zu picknicken“, sagte Lemka. Dann bildete sie eine rein weibliche Expedition und beschaffte im Tollerschen Haus zusätzliche Furage in Form von Brot, Würsten, Bier und Limonade. Sie sandte Themas und seinen Bruder mit dem notwendigen Geld versehen zu einer nahen Metzgerei, um noch mehr Würstchen zum Braten zu besorgen.
Nach einer halben Stunde saßen alle an den drei Tischen und ließen sich eine erste Portion Gebratenes schmecken. Trischa saß neben Themas. Thimas saß auf seiner anderen Seite und Truschka neben ihm. Dresie saß selig zwischen ihren Eltern. Sie klammerte sich an den Arm ihrer Mutter, als wolle sie sie nie mehr loslassen.
Nachbarn waren auf den Trubel aufmerksam geworden und hatten Tische und Stühle herbeigebracht, nebst einem Vorrat an Getränken für Groß und Klein. Man aß und trank und war guter Dinge. Die Neuankömmlinge mussten die Geschichte ihrer Flucht erzählen. Das übernahmen die Eltern von Themas. Abwechselnd berichteten sie davon, wie sie das Heft vom Dachboden geholt und es gelesen hatten.
Sie beschlossen noch am gleichen Tage, zum nächsten Vollmond das Lehm zu verlassen. Sie begannen, das Heft zu kopieren. Sie wollten so viele Hefte wie möglich hinterlassen, damit auch andere Menschen eine Chance bekommen sollten, ihr großes Gefängnis zu verlassen.
Sie nahmen Kontakt zu den Banbirks auf und danach zu Honicks. Beide Familien entschlossen sich, ihnen bei Neumond zu folgen.
„Weil die Schlüssel noch immer zu jedem Schloss passten, nahmen wir uns vor, einige der eingesperrten Kinder mitzunehmen“, sagte der Vater von Themas. „Wenigstens sechs der armen Kinder wollten wir vor dem grausamen Schicksal bewahren, dem Lehm geopfert zu werden. Mehr konnten wir nicht mitnehmen. Wir rechneten damit, dass wir sie stützen oder sogar tragen müssten, da sie nicht gut laufen konnten. Sie waren ein Leben lang unter den Treppen eingeschlossen und langes Gehen nicht gewohnt. So nahmen wir pro Erwachsenem ein Kerkerkind mit.“
Sie waren in der Nacht durchs Dorf geschlichen und hatten sechs Kinder befreit: Die Schwester der siebenjährigen Jieny Ärlemon, dem Schäfermädchen. Die Schwester der achtjährigen Tithra Borkruther aus der Ziegelei. Die Schwester der neunjährigen Andra Preeglitz, die aus einer Ackermannfamilie stammte. Den zehnjährigen Bruder von Teber Higel, dem Sohn des Kamelkarawaners Jindrich. Dazu noch den zehn Jahre alten Zwilling von Homil Lhoder, dem Sohn des Papiermachers und zum guten Schluss noch das kleine sechsjährige Schwesterchen von Elkie, der Tochter der neuen Bronzegießer Relf und Alse Kulling, die die Gießerei von Jidler und Brilla übernommen hatten.
„Wir werden den Bruder von Homil Lhoder als Sohn annehmen“, sagte die Mutter. „Er hat den Namen Homas angenommen.“ Sie schaute Themas an: „Du wirst dich an den Gedanken gewöhnen müssen, einen kleinen Bruder zu haben.“
Themas lächelte Thimas an, dann seine Mutter: „Brüder kann man nie genug haben, Mama!“
„Es ist nur vorläufig“, sagte sein Vater. „Wenn seine Eltern das Lehm verlassen und nach Rodental kommen, wird Homas zu seinen Eltern zurück wollen. Wir haben im Voraus geplant, welche Kinder wir mitnehmen würden und dafür gesorgt, dass jede Familie eins der geheimen Hefte bekam. Sie liegen gut versteckt, aber man wird sie irgendwann finden.“
Die Eltern berichteten, wie die drei Familien eifrig Hefte kopierten. Sie beschafften sich Hefte und Papier das zu zu Heften zusammen nähten und schrieben, wann immer sie Zeit hatten.
„Es war die Idee von Duncka Honick, auch die anderen Dörfer im Lehm mit Heften zu beglücken“, berichtete Themas´ Vater vergnügt. „Wer konnte, der zog unter irgendeinem Vorwand hinaus und hinterließ Hefte in Südlehmingen, Lehmweiler und Lehmtal. Ich bin sogar bis hinauf nach Rötelheim gewandert. Lehmingen und Lehmberg im Zentrum konnten wir leicht am Sonntag versorgen, als die Messe abgehalten wurde.
Es war ein Risiko, so viele Hefte zu verteilen, doch wir wollten den Menschen eine Chance geben.“
„Wir haben das auch in unsere Kopien geschrieben“, sagte die Mutter. „Wir schrieben, dass man kopierte Hefte auch in andere Dörfer bringen sollte.“
„Diese Hefte werden sich im Sturmschritt im gesamten Lehm verteilen“, sagte der Vater. „Viele werden sich entschließen, dem Lehm zu entfliehen und das Heft vorher kopieren und verteilen.“ Er grinste. „Wenn es so weitergeht, werden dem Lehm allmählich die Menschen ausgehen. Nur wirklich tiefgläubige Leute werden bleiben, und das sind sehr wenige.“
„Ihr habt Mirkus und Hurckie mitgenommen“, sagte Trischa. „Wie habt ihr herausgefunden, dass die beiden fliehen wollten?“
„Überhaupt nicht“, antwortete der Vater von Themas. „Wir hatten keine Ahnung, dass die beiden Racker auf und davon gehen wollten. Sie sind allein aufgebrochen und haben sich durchgeschlagen bis zur Bahnlinie, die draußen rund ums Lehm führt.“
„Wir dachten, die wären die Suchmannschaft, die man uns hinterher gehetzt hat“, sagte Hurckie. „Der Mirkus und ich, wir sind erschrocken und haben uns versteckt.“
„Wir hockten in einem Gebüsch und wollten sie vorbei lassen“, sagte Mirkus. „Als wir ihnen zuhörten, verstanden wir, dass sie ebenfalls stiften gegangen waren und haben uns ihnen angeschlossen. Wir haben übrigens unsere Klamotten nicht ins Lehm geschmissen. Wir wollten, dass unsere Eltern glauben, dass wir entkommen sind. Wir hoffen, dass sie auch das Lehm verlassen.“
Mirkus wandte sich an Themas: „Ich habe eins von den Heften ins Haus des obersten Lehmpriesters geschmuggelt. Du erinnerst dich bestimmt an jenen Sonntag, als er mit uns sprach. Er klang, als würde er das, was das Lehm tut, nicht besonders mögen. Ich dachte, es könne nicht schaden, ihm ein Heft zukommen zu lassen.
Weißt du, was komisch ist? Die Lehma! Grutie Umpfbeetl hat sich total geändert. Sie ist nicht mehr so hochnäsig und zickig und sie scheucht die Leute nicht mehr herum. Sie ist total nett und soll ich dir was sagen, Mann? Sie hat nach eurer Flucht dafür gesorgt, dass das Lehm keine Gaben zur Besänftigung verlangte. Ist das nicht unglaublich?! Es scheint keine leichte Arbeit gewesen zu sein. Sie sah aus, als hätte sie vom Lehm Prügel bezogen.“
„Grutie hat eine Mundharmonika“, berichtete Hurckie. „Sie spielt oft darauf. Sie hat auch ein Lehrheft. Wenn sie spielt, hören die Menschen zu, aber sie stehen weit weg von der Grutie, nicht wie bei Philka Kahleg aus Lehmtal. Wenn die an den Sonntagen, wo Messe ist, in Lehmberg spielt, sitzen die Kinder ganz dicht um sie herum. Bei der Grutie traut sich keiner so nahe. Sie haben Angst vor ihr, weil sie die Lehma ist.
Letztens hat Grutie, als sie auf der Mundharmonika spielte, plötzlich angefangen zu weinen. Sie hat so ein trauriges Lied gespielt und dann fing sie an, ganz schrecklich zu weinen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Die Arlie hat mir erzählt, das war das Lied, das wo der Themas auf dem Platz vorm Bürgermeisterhaus gespielt hat. Ganz furchtbar geweint hat sie, die Grutie. Die hat ja so geschluchzt! Sie hat mir leid getan. Ich hätte sie beinahe umarmt, um sie zu trösten, aber ich habe mich nicht getraut, wo sie doch die Lehma ist.“
Themas warf Professor Jeblick einen Blick zu. Sein Onkel sah es. Jidler schüttelte unmerklich den Kopf. Themas verstand. „Nicht heute, Junge“, meinte sein Onkel. „Lass die Leute erst mal in Rodental ankommen und Fuß fassen. Dann können wir ihnen noch immer von Kundars Theorie erzählen. Heute wäre es zu viel für sie. Es würde sie geradezu erschlagen.“ Themas nickte. Jidler schenkte ihm ein Lächeln.
Bei gutem Essen und Bier fand man alte Bekannte, die allesamt im gleichen Viertel wohnten. Die Neuankömmlinge wurden auf verschiedene Familien verteilt, damit sie ein Dach überm Kopf hatten. Man begann mit Planungen, wo neue Häuser errichtet werden sollten. Alle wollten mithelfen, sie zu bauen. Man würde den Neubürgern auch finanziell unter die Arme greifen, bis sie eigenes Geld verdienten. Das würde schon bald sein. Arbeit gab es in der wachsenden Stadt am Rodensee mehr als genug. Alle waren guter Dinge.
Trischa lehnte sich an Themas: „Mama und Papa sind gekommen. Ach, ich bin ja so froh, Themas! Es hat furchtbar wehgetan, sie zurückzulassen. Jetzt erst geht es mir wirklich gut.“
Themas wusste, was seine Freundin meinte. Auch er hatte seine Eltern vermisst und kaum gewagt, zu hoffen, dass sie eines Tages den Mut aufbringen würden, das Lehm zu verlassen. Dass sie gleich zum nächsten Neumond ausreißen würden, war ihm nie in den Sinn gekommen. Eher hätte er damit gerechnet, dass sie nach Monaten des Nachdenkens aufgebrochen wären. Er war überglücklich, dass sie da waren.
Onkel Jidler hatte mit seinem Vater verabredet, an Stelle des geplanten Anbaus lieber ein freistehendes Haus zu errichten, auf dem Grundstück direkt neben dem der Lerongs. Dort konnten die Irrluchts Gartenbau betreiben und nebenbei in der Gießerei aushelfen. Auch die Banbirks wollten in direkter Nachbarschaft bauen. Themas und Trischa würden nahe beieinander wohnen. Der begonnene Anbau am Hause Lerong sollte trotzdem fertiggestellt werden. „Wir können den Platz gebrauchen“, meinte Onkel Jidler. „Außerdem können wir Flüchtlinge aufnehmen. Es scheinen ja demnächst mehr zu kommen.“
Irgendwann am späten Nachmittag nahm seine Mutter Themas zur Seite: „Junge, ich will dir etwas erzählen.“ Sie nahm ihn beim Arm und führte ihn von den Feiernden weg auf die andere Straßenseite. „Es braucht nicht jeder zu hören.“ Sie standen am Zaun der Tollerschen Gärtnerei und seine Mutter erzählte Themas vom Besuch der kleinen Lehma. Themas lauschte mit angehaltenem Atem.
„Sie hat es also tatsächlich geschafft, sich gegen das Lehm aufzulehnen!“, sagte er. Er berichtete seiner Mutter von Professor Jeblicks Ausführungen über das Lehmland.
Als er fertig erzählt hatte, starrte seine Mutter ihn mit geöffnetem Mund an: „Themas! Ist das wahr?“
Er zuckte die Achseln. „Der Professor glaubt es, aber der Beweis dafür steht aus. Ich denke, seine Theorie hat Hand und Fuß. Onkel Jidler denkt ebenso. Vielleicht schafft Grutie es, das Lehm … wie soll ich sagen? … irgendwie … umzupolen. Wenn es gelänge, dem Lehm klarzumachen, dass die grausamen Kinderopfer falsch sind, wenn es mit seiner begrenzten Intelligenz verstehen lernen könnte, dass es besser wäre, ohne diese unnötige Grausamkeit mit den Menschen in Symbiose zu leben, wer weiß, dann könnte es ein gutes Leben im Lehm geben.“
Er redete sich in Fahrt: „Weil, Mama, ohne die Opfer wäre es im Lehm nicht so schlecht, oder? Sie mal, das Lehm reguliert das Klima. Im Lehm wird es niemals brüllend heiß im Sommer. Onkel Jidler hat mir erzählt, hier im Draußen gibt es manchmal Jahre, in denen eine ungeheure Hitze über dem Land liegt und Dürre herrscht, die die Ernten bedroht. Ebenso gibt es kalte, verregnete Jahre, in denen die Obstbäume kaum Früchte tragen und das Korn auf den Ähren verdirbt. Es regnet manchmal wochenlang wie aus Kübeln. Das gibt es im Lehm nicht. Es schirmt sich ab. Und die Winter im Draußen können grausig kalt sein mit Temperaturen weit unter dem Punkt, an dem Wasser gefriert. Haben wir jemals den Mittensee mit Eis drauf erlebt?“ Er schüttelte den Kopf: „Nie! Eis gab es höchstens mal auf kleinen Pfützen. Das Klima im Lehm ist mild und für Mensch und Tier und Pflanze angenehm. Das Lehm versorgt das Land mit Wasser und den Boden mit Nährstoffen für Acker- und Gartenbau. Dafür erhält es von seinen Menschen Abfälle aller Art, die es zum Leben benötigt wie unsereins Vitamine und Mineralien. Auch die Toten verwertet es.
Wenn es nur lernen könnte, auf die Kinderopferungen zu verzichten! Viele Leute würden dann gerne im Lehm leben. Sie müssten nur auf Dinge aus Eisen verzichten, weil das Lehm kein Eisen verträgt. Bis auf die Nähnadeln müsste man halt alles wie zuvor aus Bronze oder ähnlichen Legierungen fertigen.“
Seine Mutter strich ihm lächelnd über die Wange: „Du würdest glatt wieder ins Lehm ziehen, nicht wahr?“
Themas schüttelte den Kopf: „Nein. Ich bin zu gerne bei Onkel und Tante und ich will Eisenbahner werden. Aber ich würde gerne ab und zu einen Besuch dort machen. Ohne die böse und harte Herrschaft, die bisher dort üblich ist, wäre es im Lehm ganz schön, fände ich.“
„Dann könntest du auch Grutie besuchen“, sagte seine Mutter. „Sie würde sich sehr freuen.“ Sie erzählte ihm von der Bitte der kleinen Lehma. „Sie lässt dir ausrichten, dass sie dich lieb hat und oft an dich denkt und sie bittet dich, auch manchmal an sie zu denken.“
„Das tue ich jeden Tag“, sagte Themas. „Jeden Abend bei Sonnenuntergang spiele ich auf der Mundharmonika das Lied, das ich für sie erfunden habe und denke an sie. Grutie war eine miese Zicke, aber sie hat sich geändert.“
„Total geändert, Themas!“, sagte seine Mutter. „Sie ist ein anderer Mensch geworden. Sie ist freundlich und hilfsbereit und will das grausame Kinderopfer abschaffen. Und sie ist einsam. Sie ist ein kleines Mädchen, das ganz allein ist.“
„Ja“, sagte Themas. „Das ist sie.“
Sie gingen zurück zu den Feiernden.
Im Westen machte sich die Sonne daran, unterzugehen. Themas holte seine neue Mundharmonika hervor und begann zu spielen. Während er nach Westen schaute, dorthin, wo das Lehm lag, gut achtzig Kilometer entfernt, spielte er das traurige Lied mit der bitter-süßen Melodie, das er einem traurigen Mädchen auf dem Sandplatz vorm Bürgermeisterhaus vorgespielt hatte, das Lied für die kleine Lehma. Er spielte es wie jeden Abend für das Mädchen, das sein Herz berührt hatte; für Grutie Umpfbeetl, das Mädchen mit den traurigen lehmfarbenen Augen.

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06.09.2017 15:40 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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