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Stefan Steinmetz
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Das Lehm(29) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Sie drangen in den dichten Wald ein, der das Lehm umgab.
„Meine Tante hat gesagt, es ist nicht weit bis zur Bahnlinie“, sagte Themas. „Die verläuft rund ums Lehm. Von überall her wird das geschlagene Holz nach Landsweiler transportiert und von dort aus weiter ins Königreich Bayern verbracht. Neben den Bahnschienen verläuft ein Weg für Fußgänger, Radler und Fuhrwerke.“
Tante Brillas Beschreibung erwies sich als korrekt. Nach zwanzig Minuten erreichten sie eine breite Schneise. Mittendrin lief die 600mm-Bahnlinie und daneben gab es einen breiten Weg, auf dem man gut gehen konnte. Sie wandten sich nach rechts. Bis Landsweiler waren es nur wenige Kilometer.
Während sie dem Weg neben den Gleisen folgten, wurde es Tag. Als sie zu der Stelle kamen, an der die Karawanenstraße aus dem Lehm kommend die Trasse kreuzte, schauten sie nach rechts, ob vielleicht eine Suchmannschaft zu sehen war. Der kaum erkennbare Weg, der durch den Wald zur Bahnstrecke führte, war menschenleer.
„Vielleicht haben wir Glück und es kommt niemand“, meinte Themas. „Wenn sie der Dammstraße folgen, kann es sein, dass sie unsere Klamotten auf Höhe der Lehma-Statue am Wegesrand finden. Dann gelten wir als tot.“
„Wenn nicht, gelten wir als entkommen“, meinte Trischa düster. „Wenn sie die Kleider nicht finden, müssen sie annehmen, dass es uns gelungen ist, dem Lehm zu entwischen. Wir müssen in Landsweiler gleich in den ersten Zug einsteigen.“ Sie blickte Themas von der Seite an: „Weißt du, wie man das macht?“
„Tantchen hat es mir erklärt“, antwortete Themas. „Keine Angst, ich bringe uns sicher in den ersten Frühzug nach Rodental.“
Drisies Schwester war die ganze Zeit still neben ihnen hergelaufen. Jetzt sprach sie zum ersten Mal laut: „Das Lehm wird wütend sein. Das ist furchtbar. Wir werden frei sein, aber die gefangen gehaltenen Kinder sind es nicht. Bestimmt will das Lehm besänftigt werden.“
Sie schauten einander an. Jeder wusste, was das Mädchen meinte. In der Vergangenheit hatte das Lehm nach der Flucht von Bürgern oft Gaben gefordert. Heute würde die Angst umgehen im ganzen Lehm. Kinder, die in ihren Verliesen unter den Treppen lebten, würden um ihr jämmerliches Leben zittern. Der Tod würde umgehen im Lehm. Es würden Opfer auserkoren werden.
Bei dem Gedanken, dass unschuldige Kinder im Sumpf erstickt werden sollten, weil eine Handvoll Menschen geflohen waren, wurde es Themas speiübel. Das Schrecklichste war, dass er absolut nichts daran ändern konnte. Es war perfide. Es war eine Strategie des Lehms, mit der Drohung, Kinder zu töten, Leute von der Flucht zurückzuhalten.
„Wenn ich wüsste, wie es geht, würde ich es töten!“ Das kam von Thimas. „Es müsste ein Gift geben, dass man in die Bäche schütten kann, eine Substanz, die das Lehm umbringt. Ich würde keinen Augenblick zögern, dieses Gift anzuwenden.“
„Ich auch nicht“, sagte Truschka. „Wenn es doch möglich wäre! All die armen Kinder, die ein Leben in Todesangst führen! Es ist entsetzlich!“
Themas wurde noch mehr schlecht. Er wusste, dass es ein solches Gift nicht gab. Eisen hielt das Lehm zurück, aber es tötete es nicht.
„Wir können nichts machen“, sagte er. „Nur hoffen, dass unsere kopierten Hefte gefunden werden und weitere Menschen das Lehm verlassen. Wenn die auch Kopien hinterlassen, werden im Lauf der Zeit immer mehr Leute dem Lehm den Rücken kehren.“ Er ließ den Kopf hängen. „Doch bis dahin werden viele Kinder einen elenden Tod sterben, als Opfer für eine bösartige, dämonische Lebensform, die aus einer anderen Welt in die unsere kam.“
Kurz darauf erreichten sie den Baum, den Onkel und Tante ihm beschrieben hatten. Themas fasste in die Höhlung und fand eine hübsche Summe Geld darin. Es war mehr als genug für Fahrkarten nach Rodental. Er steckte das Geld ein und sie setzten ihren Weg fort. Sie waren langsam. Themas wäre viel schneller gewandert, wäre er allein gewesen. Aber die drei Kinder, die ein Leben lang in Verliesen unter den Treppen eingekerkert gewesen waren, waren das Gehen nicht gewohnt. Sie waren inzwischen sehr müde.
Was sollen wir machen, wenn die aus dem Lehm eine Suchmannschaft schicken?, fragte sich Themas. Ich könnte ihnen davon laufen; Trischa auch. Aber unsere Geschwister und die Kleine von Honicks nicht. Die können sich kaum noch auf den Beinen halten.
Er war froh, als sie endlich in Landsweiler eintrafen. Es war hell geworden. Themas führte die kleine Schar die Hauptstraße hinauf zum Bahnhof. Unterwegs probierte er die Tür eines Kleiderladens. Sie war abgeschlossen.
„Schade“, sagte er. „Es ist noch zu früh. Ich hätte gerne Kleider und Schuhe für Drisies Schwester gekauft. Unser Geld würde dafür reichen. Ich habe ja auch noch meine eigenen Münzen mit, die ich mit dem Verkauf von Rötel verdient habe.“ Er zuckte die Achseln. „Nichts zu machen. Gehen wir zum Geschäft, wo ich eine neue Mundharmonika bekomme.“
Trischa war nervös. „Wäre es nicht besser, gleich zum Bahnhof zu gehen?“ fragte sie. Immer wieder warf sie ängstliche Blicke um sich. Es waren kaum Menschen unterwegs, so früh am Morgen. Die fünf Lehmkinder waren auffällig in ihren beinahe farblosen Kleidern. Eine Suchmannschaft würde sie sofort entdecken. „Es ist nicht weit. Da drüben liegt der Bahnhof. Ich kann das Schild lesen.“
„Der Frühzug geht erst in einer Stunde“, sagte Themas. „Meine Tante hat es mir erklärt. Es ist mehr als genug Zeit.“ Er ging zu dem Laden, in dem er seine Mundharmonika gekauft hatte. Die Tür war abgesperrt. „Ach Mist!“ Er rüttelte frustriert am Türgriff.
Über ihnen wurde ein Fenster geöffnet. Ein Mann beugte sich heraus: „Nanu! Kundschaft, so früh am Morgen? Wartet einen Moment, Kinder. Ich mache euch auf.“
Kurz darauf drehte sich ein Schlüssel im Schloss und die Tür des Ladens schwang nach innen. Der Besitzer des Geschäfts lächelte sie an: „Guten Morgen wünsche ich. Herein spaziert, die Herrschaften. Immer herein. Was darf’s denn sein?“
„Eine Mundharmonika“, antwortete Themas. „Ihnen auch einen guten Morgen.“
Der Mann schaute sie alle fünf an. „Es soll wohl eine aus Messing sein, schätze ich. Ihr seid aus dem Lehmland, richtig?“
Sie nickten. Sah man das so deutlich?
„Eure Kleider“, meinte der Mann. „Keiner außer euch trägt solche Farben. Eigentlich sind es ja keine. Alles ist naturfarben, die Wolle hell oder braun und dann dieses ungewöhnliche Ziegelrot. Das gibt es bei uns nicht. Haben eure Schafe rote Wolle?“
„Die Kamele“, antwortete Themas. „Sie geben eine feine rötliche Wolle.“
„Bei euch gibt es keine gefärbten Stoffe?“
Themas schüttelte den Kopf: „Färben gilt als Hochmut. So sagt es der Priester.“
„Ah ja“, sagte der Ladeninhaber. „Eine Glaubensangelegenheit. Nun denn.“ Er machte eine einladende Geste: „Kommt zur Theke. Die Mundharmonika habe ich im Regal liegen. Vielleicht möchtet ihr ja noch ein paar Sachen mitnehmen?“
„Ein Lehrheft für Mundharmonikaspiel“, sagte Themas.
„Haben Sie Vergrößerungsgläser?“ fragte Truschka. „Meine Schwester hat eins. Es ist toll. Wenn man durch schaut, wird alles größer.“
„Ich habe Lupen da“, meinte der Mann. „Nicht die teuren wie im Optikladen, aber anständige Qualität.“ Er legte Truschka ein Vergrößerungsglas vor, das in ein Lederetui eingeklappt werden konnte. „Zweifache Vergrößerung.“
Thimas fragte nach einer Mundharmonika.
„Leider habe ich keine mehr aus Messing da“, sagte der Ladenbesitzer. „Dein Bruder bekommt die Letzte. Ich müsste sie für dich bestellen. Die anderen Instrumente haben Schalldeckel aus Stahl und stählerne Stimmzungen.“
„Das macht nichts“, sagte Thimas. Er ließ sich von dem Mann verschiedene Instrumente zeigen.
Trischa lief die ganze Zeit nervös im Laden herum. Immer wieder ging sie zu dem großen Schaufenster und warf ängstliche Blicke hinaus. „Macht schneller!“, bettelte sie. „Wir müssen zum Bahnhof. Nun macht schon!“
Thimas wählte eine Mundharmonika aus.
„Und die junge Dame?“, fragte der Ladenbesitzer. „Auch eine Kleinigkeit?“ Drisies Zwillingsschwester schaute ihn aus großen Augen an. „Zu einem kleinen Mädchen wie dir, gehört eine Puppe“, sagte der Mann lächelnd. „Ich habe welche da.“ Er holte ein kleines Püppchen aus dem Regal und legte es dem Mädchen in die Hände. „Wie wäre es mit der? Kostet nicht viel.“
Das Mädchen brachte kein Wort hervor, aber ihr Blick sprach Bände.
„Wir nehmen sie“, sagte Themas. Er holte das Geld hervor und bezahlte.
Am Schaufenster stieß Trischa einen erschrockenen Schrei aus. „Sie kommen!“, rief sie. „Sie sind da!“ Sie kam zu Themas gelaufen. „Prick Holfer und Nelder Borkruther! Und Relf Kulling, der Bronzegießer! Und Männer aus Lehmkaul! Sie müssen die Glocken geläutet haben! Sie kommen! Sie sind am Bahnhof!“
„Rasch! Hinter die Theke!“, rief der Ladeninhaber. „Versteckt euch, Kinder!“ Er ging zur Tür und schaute hinaus. „Sie sind am Bahnhof und schnüffeln herum.“
„Woher …?“, fragte Themas aus ihrem Versteck hinter der Ladentheke hervor.
„Die gleichen Kleider“, antwortete der Mann. „Man erkennt die Lehmländer sofort. Bleibt unten! Ich gebe euch Bescheid, wenn sie weg sind.“
Trischa kauerte neben Themas. Sie hielt sich an ihm fest. „Was sollen wir machen, wenn sie hierher kommen?“
„Wenn sie kommen, schließe ich die Tür vor ihrer Nase zu“, sagte der Ladenbesitzer. Er holte eine Taschenuhr hervor und klappte sie auf: „Eine halbe Stunde, bis der Frühzug geht.“ Er wandte sich an die Kinder: „Den wollt ihr doch nehmen, habe ich Recht? Ihr seid ausgerissen.“
„Ja“, sagte Themas.
„Keine Sorge, mein Junge. Hier wird niemand Leuten helfen, die Kinder einfangen wollen. Ihr seid nicht die ersten Flüchtlinge. Ich weiß ja nicht, was in diesem Lehmland los ist, aber es laufen alle naslang Menschen von dort weg. Das ist jedermanns gutes Recht. Wir helfen den Suchmannschaften nicht. Wir helfen denen, die fliehen.“ Er spähte zur Tür hinaus. „Die sind da drüben festgewachsen. Ich habe eine Idee, Kinder. Gebt mir Geld. Ich gehe rüber und kaufe Fahrkarten für euch. Bei mir schöpfen sie keinen Verdacht.“
Themas gab dem Mann ein paar Münzen. „Danke, dass Sie uns helfen“, sagte er.
„Ehrensache“, meinte der Ladenbesitzer. „Man hilft Menschen in Not. Das gehört sich so. Bleibt hinter der Theke, damit man euch nicht sieht. Ich sperre die Tür hinter mir zu, damit keiner in den Laden kommt, solange ich unterwegs bin.“ Er verließ den Laden.
„Oh du lieber Himmel!“, jammerte Trischa. „Themas, ich habe Angst!“
Er legte den Arm um ihre Schultern: „Ich auch. Aber wir schaffen es. Der Mann hilft uns.“
„Die Zeit wird knapp! Was sollen wir tun, wenn die Suchmänner nicht weggehen?“ Trischa klang verzweifelt. „Wir können nicht zum Bahnhof, solange Prick Holfer und die Anderen dort sind!“ Sie zuckte zusammen, als ein lauter Pfiff ertönte. Sie lugte hinter der Theke hervor. Zwischen zwei Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah man einen Zug zum Bahnhof fahren. Er wurde von einer Garrattlokomotive gezogen. „Oh nein! Da kommt der Zug! Wir werden ihn verpassen!“
Themas wurde es warm. Er musste heftig schlucken. Das sah nicht gut aus. Von seiner Tante wusste er, dass der Frühzug zehn Minuten Aufenthalt in Landsweiler hatte. Man lud Post und andere Fracht in den Gepäckwagen hinter der Lok. Sie hatten nur noch wenige Minuten. Wenn die Suchmannschaft am Bahnhof blieb, hatten sie keine Chance, in den Zug zu steigen.
Es rasselte an der Tür. Sie schwang auf. Der Ladenbesitzer war zurück. „Kinder? Rasch! Kommt mit nach hinten!“ Er steckte Themas die Fahrkarten zu und lief durchs Haus. Er öffnete eine Tür, die hinten hinaus ging und geleitete sie durch einen großen Garten zu einem schmalen Weg, der hinter den Häusern entlang führte.
„Hört zu, Kinder!“, sagte der Mann. „Diese Lehmmänner sind immer noch am Bahnhof Ihr könnt dort nicht in den Zug steigen.“ Er deutete nach rechts. „Ihr müsst da lang! Die Straße läuft parallel zur Hauptstraße und hinter der Ortschaft kommt ihr zu einer Kreuzung. Haltet euch rechts und ihr gelangt zu dem Weg, der neben der Bahnlinie aus Landsweiler hinaus führt. Ich habe mit dem Lokomotivführer gesprochen. Er ist ein guter Bekannter von mir. Wenn der Zug kommt, stellt ihr euch neben die Gleise und winkt. Dann hält er an und ihr könnt einsteigen. Danach fährt er sofort wieder an. Rasch jetzt, Kinder! Ihr müsst schnell laufen! Der Zug fährt gleich ab!“
„Vielen Dank“, sagte Themas. „Danke, dass Sie uns helfen.“
„Gern geschehen“, sagte der Ladeninhaber. „Lauft! Eilt euch!“
Sie rannten los.
„Nicht so schnell!“, rief Drisies Zweitling. Sie versuchte verzweifelt, Schritt zu halten. „Ich kann nicht so schnell. Mir tun die Beine weh!“
Themas riss sie hoch und trug sie: „Weiter! Beeilt euch!“ Keuchend stürmte er voran.
Hinter ihnen ertönte ein doppelter Pfiff. Die Lokomotive fuhr an.
Sie kamen zur Kreuzung. „Rechts!“, schnaufte Themas. Er schleppte seine lebende Last so schnell er konnte. Da waren die Gleise. Der Zug kam auf sie zu. Eine grüne Garratt zog die Personenwagen.

GrüneGarratt4 by Stefan Steinmetz, auf Flickr

Sie blieben stehen und winkten. Zischend schloss sich die Zugbremse. Der eiserne Lindwurm kam direkt neben ihnen zum Stehen. Ein Mann in Eisenbahneruniform schaute aus dem Führerhaus: „Steigt ein, Kinder! Rasch! In den Wagen gleich hinter dem Gepäckwagen!“
Sie sprinteten am Zug entlang und stiegen in den ersten Personenwaggon. Themas stieg als Letzter ein. Er warf einen Blick zum Bahnhof. Er sah Prick Holfer mit jemandem aus Lehmkaul auf dem Bahnsteig stehen. Die beiden beachteten den haltenden Zug nicht.
Themas stieg ein. Er schloss die Tür hinter sich.
Sie fanden eine Sitzgruppe, wo sie einander gegenüber sitzen konnten. Trischa saß neben Themas. Truschka und Thimas nahmen Drisies Schwester in die Mitte.
Erneut erklang der doppelte Pfeifton. Die Lok begann zu stampfen. Mit einem sanften Ruck setzte sich der Zug in Bewegung.
Thimas sprang auf. Er zog das Fenster herunter und schaute hinaus.
„Der Bürgermeister steht da und schaut den Bahnhof an“, meldete er. „Die warten alle, dass wir durchs Bahnhofsgebäude kommen.“ Er schloss das Fenster und ließ sich auf den Sitz fallen. „Wenn wir unsere Fahrkarten selbst gekauft hätten, wären wir ihnen direkt in die Arme gelaufen. Die hätten uns eingefangen und ins Lehm zurück gebracht.“
Sie schauten sich an. Alle wussten, was die Worte von Thimas bedeuteten. Trischa und Themas wären vors Lehmgericht gestellt worden und mit höchster Wahrscheinlichkeit ins Lehm geschickt worden. Die drei Kerkerkinder hätte man wieder unter der Treppe eingesperrt, um sie demnächst hervor zu zerren und dem Lehm zu opfern.
Drisies Schwester fing an zu weinen. Sie presste ihre Puppe an sich und schluchzte haltlos.
Truschka nahm sie in den Arm: „Heh, ist ja gut, Honickmädchen. Sie können uns nicht kriegen.“
„I-Ist das w-w-wahr?“, fragte das Mädchen unter Tränen. „Ich habe so A-Angst!“
Truschka drückte sie an sich. „Wir sind in Sicherheit. Der Zug fährt zu schnell für die Männer aus dem Lehm. So schnell können die nicht rennen, dass sie uns einholen. Es kann dir nichts passieren.“
„Wirklich nicht?“, piepste die Kleine.
„Wirklich nicht“, antwortete Truschka. „Willst du mal aus dem Fenster gucken? Wir sind schon ganz weit weg von Landsweiler. Und weiter als dorthin dürfen Leute aus dem Lehm nicht. Sie können uns nicht nach Rodental folgen.“
„Ist das weit weg vom Lehm?“, fragte das Mädchen.
„Und ob!“, mischte sich Themas ein. „Zu Fuß braucht man fünf oder sechs Tage bis dorthin.“
Drisies Schwester schaute Themas aus verweinten Augen an. „Du hast mich raus gelassen. Du hast mich befreit. Danke!“
„Ich konnte nicht an deinem Gefängnis vorbei gehen und nichts tun“, sagte Themas. „Du hast rausgeschaut. Dein Gesicht werde ich nicht vergessen, und wenn ich hundert Jahre alt werde.“
„Angst!“, sagte das Mädchen. „Ich hatte immer Angst. Mein ganzes Leben. Wir alle haben Angst. Immer! Das ist schrecklich. Man fürchtet sich den ganzen Tag lang. Man hat dauernd Angst. Man weiß, was einem passiert, wenn man erwählt wird.“ Sie schluchzte laut auf. „Sie schicken einen ins Lehm und das Lehm verschlingt einen. Es bringt einen um. Ganz langsam! Man wird qualvoll erstickt. Ich ha-ha-hatte immer Angst! Die ganze Zeit.
Wenn die Lehma ins Dorf kam, war es am schlimmsten! Wir alle haben in unseren Gefängnissen gezittert. Jeder hat sich gefürchtet. Jeder hat gewusst: Wenn dich die Lehma ansieht, kommen sie dich holen. Dann musst du ins Lehm. Dann wirst du erstickt.“
Das Mädchen fing wieder an zu weinen. „Können sie uns wirklich nicht fangen?“, schluchzte sie.
„Wirklich nicht“, sagte Truschka. „Frag Themas!“
„Sie können uns nichts mehr antun“, sagte Themas. „Du brauchst keine Angst zu haben, … Wie heißt du eigentlich?“
Das Mädchen blickte ihn aus rotgeweinten Augen an: „Schwester. So hat Drisie mich immer genannt. Die anderen Kinder sagen Honickmädchen zu mir.“
„Möchtest du nicht einen richtigen Namen?“, fragte Themas. „Ich bin der Themas und mein Zwillingsbruder heißt Thimas. Trischas Schwester heißt Truschka. Deine Schwester heißt Drisie. Du könntest dich Drusie nennen.“
Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe. Sie schaute unentschlossen. „Könnte ich auch Dresie heißen?“, fragte sie.
„Selbstverständlich“, sagte Themas. „Ab heute bist du Dresie Honick, das Mädchen, das dem Lehm entkommen ist.“
„Dresie“, sagte sie leise. Ihre Tränen trockneten. Sie lächelte Themas an. „Dresie, die Schwester von Drisie Honick.“ Sie gähnte. „Ich bin müde.“
„Kein Wunder“, meinte Themas. „Du warst die halbe Nacht wach und bist kilometerweit gelaufen. Das sind deine Beine nicht gewohnt, wo du doch immer eingesperrt warst. Schlaf ein bisschen, Dresie. Wir wecken dich rechtzeitig.“
Das Mädchen lehnte sich an Truschka und schloss die Augen. Sie schlief sofort ein.
Themas schaute Dresie an. Selbst im Schlaf entspannte sich ihr Gesicht nicht. Man sah ihrem Gesicht die Furcht an, die ihr Leben neun Jahre lang beherrscht hatte. Er dachte daran, dass er das Mädchen um ein Haar in seinem Verlies zurückgelassen hätte. Ihm wurde ganz anders zumute bei dem Gedanken. Und er dachte voller Grauen an die vielen Kinder, die unter den Treppen der Häuser im Lehm eingesperrt waren. Das Lehm würde Opfer verlangen. Mindestens eins. Wahrscheinlich mehrere. Themas wurde übel, wenn er daran dachte.

02.09.2017 15:54 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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