Am nächsten Tag war Themas bei Sirko Hohlgrim und wurde von dem Mann ins Papiermachen eingeweiht. Alle jungen Leute, die nicht mehr zur Schule gingen, halfen überall aus, wenn sie nicht ihren Eltern zur Seite standen. Auf diese Weise lernten sie verschiedene Berufe kennen.
Themas konnte sich kaum konzentrieren. Sirko war ein netter älterer Mann, der ihm geduldig zeigte, wie man abgetragene Kleidungsstücke, Brennesseln und eine bestimmte Schilfsorte in kleine Fetzen schnitt und in einem Wasserbad mittels rotierender Messer noch mehr zerkleinerte, bis ein dicker Brei daraus wurde.
Themas bediente die Kurbel, die die Fetzen im Wasser kleinschnitten. Er dachte die ganze Zeit über daran, was er am Abend zuvor getan hatte. Er hatte Angst. Würde man ihn bestrafen? Es hieß doch: Das Lehm weiß alles.
Doch je mehr der Tag fortschritt desto besser fühlte er sich. Anscheinend wusste das Lehm nichts. Es mochte spüren, wo sich ein Mensch aufhielt, aber hören konnte es nichts.
Themas lernte, mit einem Sieb das über einen rechteckigen Holzrahmen gespannt war, etwas von dem Papierbrei aus dem Bad zu entnehmen und daraus unter sanftem Rütteln ein Blatt zu machen. Sobald das Wasser abgetropft war, drehte man das Sieb um und stürzte das neue Blatt auf eine Unterlage. Nachdem genügend Blätter zusammengekommen waren, immer mit einem Polster dazwischen, wurden sie in einer Presse gequetscht, um noch mehr Wasser herauszudrücken.
Danach hängten er und Sirko die neuen Blätter zum Trocknen auf Schnüre.
Später würde der Papiermacher ihm zeigen, wie man aus den losen Blättern Schreibhefte machte.
Der Tag verging und nichts geschah. Themas hatte befürchtet, die junge Lehma würde mit ihrem Gefolge aufkreuzen und ihn beschuldigen, gegen das Gesetz verstoßen zu haben, indem er mit seinem Zwillingsbruder sprach. Wenn das Lehm bemerkt hätte, dass er mit seinem Zweitling zusammengewesen war, hätte es dies der Lehma mitteilen können. Doch wie es aussah, hatte das Lehm nichts von dem Vorfall mitbekommen.
Vielleicht dauerte es nur lange, bis die Lehma kam? Wenn sie sich im Norden in Rötelheim oder Lehmtal aufhielt, konnte es zwei Tage dauern, ehe sie Lehmborn erreichte.
Themas wartete drei weitere Tage. Ihm war unwohl. Er fürchtete sich. Doch mit jedem Tag, der verging, ohne dass die Lehma erschien, ging es ihm besser.
Das Lehm weiß nicht alles, dachte Themas, als er nach eine Tag beim Papiermüller zu seinem Elternhaus zurückkehrte. Es sieht auch nicht alles, wie die Priester immer behaupten. Das Lehm ist blind und taub. Es kann nur Erschütterungen spüren und darauf reagieren. Wie eine Spinne in ihrem Netz.
Genau wie Tante Brilla es ihm erklärt hatte.
Er nahm sich vor, von nun an jede Woche seinen Zwillingsbruder zu besuchen, wenn die Eltern in der Bürgerversammlung waren.
Zuerst stand jedoch sein erster Besuch im Draußen bevor. Er freute sich darauf.
*
Bei vollem Mond gingen sie ins Draußen. Bereits am Tag zuvor waren die Leute, die die Karawane begleiten würden, in Lehmborn eingetroffen. Von überall her hatte man die Schätze des Lehms herbei gebracht. Zentnerweise Ziegel waren auf den Karren aufgeschichtet. Bester Rötel war in kleinen Säckchen verpackt. Dazu kamen weitere Artikel, die in Landsweiler bei den Händlern verhökert werden sollten. Im Draußen waren die bronzenen Bestecke aus Lehmweiler äußerst beliebt. Die Gabeln, Löffel und Messer erzielten gute Preise. Seltsamerweise liebten die Leute im Draußen auch die handgeschnitzten Löffel aus dem harten Holz der knorrigen Büsche. Ebenfalls beliebt waren die Handlaternen aus getriebenem Kupferblech mit ihren durchsichtigen Glaszylindern. Auch für die feingesponnene Wolle der Lehmschafe und der Kamele fanden sich Abnehmer.
Diese Dinge würden sie in Landsweiler gegen Feuer- und Bauholz eintauschen und gegen Gebrauchsgegenstände wie Nadeln, Tuchstoffe und Lederwaren.
Früh am Morgen ging es los. Trischa kam mit Themas mit vors Dorf, wo die Karawane aufgerödelt wurde. Das Mädchen hatte vor Aufregung ganz rote Backen. Sie hing an Themas´ Arm. „Ach, ich möchte so gerne mitkommen“, sagte sie. „Es ist zu schade, dass ich noch ein halbes Jahr warten muss.“ Sie zog Themas am Arm: „Gelt, du wirst mir alles genau erzählen, Themas?“
„Ja“, sagte er und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie gut es ihm gefiel, dass Trischa an ihm hing und ihn nicht losließ. Sie liefen neben der Karawane her, die sich zum Aufbruch bereit machte. „Ich erzähle dir alles bis in die kleinsten Einzelheiten.“
„Und du bringst mir etwas von draußen mit?“, fiepte das Mädchen. „Du hast es versprochen!“
„Natürlich bringe ich dir etwas mit“, sagte Themas todernst. „Ich glaube, ich bringe dir eine Dampflokomotive mit.“
Trischa riss die Augen auf: „Das geht nicht! Diese Dampfdinger sind aus Eisen!“ Sie sah Themas böse an, als der anfing zu grinsen. „Du Schuft! Du wolltest mich reinlegen!“
„Nur ein bisschen“, gestand Themas. Es gefiel ihm, dass sie noch immer an seinem Arm hing. Zu schade, dass sie nicht mit raus durfte.
Mork Ärlemon kam an ihnen vorbei: „Trischa, lass den Themas los! Wir brechen auf.“
Schade, dachte Themas. Er hätte es gerne gesehen, wäre Trischa noch länger an ihm hängengeblieben.
Trischa krallte sich ganz fest an seinen Arm. „Ich komme mit!“, verkündete sie mit lauter Stimme. „Ich begleite die Karawane bis zur Statue der Lehma.“
Morks Frau Preta kam vorbei: „Der arme Themas! Muss der Junge dich wirklich so weit am Arm voran schleppen?“
Der „arme Themas“ lächelte nur und „schleppte“ Trischa mehr als gerne mit sich.
Vorne stieß einer einen lauten Pfiff aus. Andere antworteten mit gleichen Pfiffen. Die Leute trieben die Kamele an. Mit einem niesenden Geräusch scheuchten sie die Tiere voran. Überall ertönte das gellende „Atsch!“ und die Kamele kamen in Gang. Murrend und grummelnd zogen sie die schweren Holzkarren voran. Der lange Zug bewegte sich mitten durch Lehmborn.
Themas und Trischa liefen in der Mitte der Karawane neben dem Ziegelkarren der Ärlemons her. Noch immer hing Trischa an dem „armen“ Themas, dem das ausnehmend gut gefiel.
Die Laune von Themas war schlagartig gestiegen, als er erfuhr, dass Trischa noch bis zur Lehma bei ihm bleiben würde. Das waren noch ein paar Kilometer.
Sie kamen am Haus der Banbirks vorbei. Trischa warf einen schnellen Blick zur Treppe. Themas sah ein helles Gesicht in der Dunkelheit hinter dem Eisengitter schweben. Große Augen schauten zu ihnen heraus. Trischa hob unmerklich ihre freie Hand. Sie winkte ihrem Zweitling zu. Themas staunte nicht schlecht.
Trischa auch?!, dachte er, während er beobachtete, wie das in Lumpen gekleidete Mädchen unter der Treppe Trischas versteckte Geste schüchtern erwiderte.
Irre!, dachte Themas. Trischa winkt ihrer Zwillingsschwester! Ob sie auch mit ihr redet? So wie ich neuerdings?
Er nahm sich vor, nach seiner Rückkehr mit dem Mädchen zu sprechen. Im Moment ging es nicht. Es waren zu viele Leute um sie herum. Ihn wunderte dass niemandem die kleine Geste von Trischa aufgefallen war. Er schaute sich um. Die drei Priester, die die Karawane begleiteten, liefen an der Spitze des Zuges. Gut so! Es wäre bestimmt nicht gut gewesen, wenn Nelder Borkruther, Ulaf Tricht oder gar Mook Orpek mitgekriegt hätten, was Trischa getan hatte.
In einer Gefühlsaufwallung legte Themas seine Hand auf Trischas und drückte. Er lächelte sie an. Sie erwiderte das Lächeln. Er nickte mit dem Kopf zu Banbirks Haus zurück und machte eine Augenbewegung. Dann nahm er seine Hand weg und winkte. Sie nickte lächelnd.
Ich muss mit ihr sprechen, nahm er sich vor. Darüber müssen wir reden. Vielleicht heute Abend.
Die Karawane folgte der alten Wandererstraße zum Lehmrand. Sie war breit und gut sichtbar und sie veränderte ihren Lauf so gut wie nie. Einen Kilometer hinter Lehmborn durchquerten sie einen Wasserlauf an einer Furt und folgten der Straße in Richtung Lehmkaul. Sie passierten das Dorf am Rand des Lehms in Sichtweite. Der breite Weg führte von Lehmkaul aus durch knorriges Gebüsch und über ausgedehntes Heideland. Hier und da standen Baumhaine auf kleinen inselartigen Erhöhungen im rötlichen Lehm.
Der Dammweg mäanderte durchs Lehm. Neben der Straße glucksten Wassertümpel. Binsenbüschel stachen aus dem Sand neben dem Wasser. Am Wegesrand wuchsen hier und da kleine, knorrige Krüppelbäume. Der Dammweg war mit Wagenspuren überzogen.
Die Straße machte einen lang gezogenen Schlenker nach links und sie kamen zur Lehmastatue. Sie stand auf einer Insel mitten im Lehm, eine riesenhafte Statue aus Ton. Sie war fast fünf Meter hoch und stellte die erste Lehma dar: ein junges Mädchen mit Stirnpony und schulterlangen Haaren in einem armseligen, abgerissenen Gewand, dem man ansah, dass es einen langen, beschwerlichen Weg hinter sich hatte. Die Füße der Lehma waren nackt. An den Knöcheln trug sie aus Gras geflochtene Bänder, an denen in regelmäßigen Abständen kleine Eisenringe aufgereiht waren.
Reba Derber war elf Jahre alt gewesen, als die Menschen auf ihrer langen Flucht im Lehm anlangten. Sie hatte Kontakt zum Lehm aufgenommen und für ihre Mitmenschen Fürbitte geleistet. Sie hatte die Menschen ins Lehm geführt. Sie hatte die Gesetze des Lehms verkündet. Sie war die erste Lehma geworden und hatte Zeit ihres Lebens zwischen den Menschen und dem Lehm vermittelt.
Themas schaute die Statue an. Sie war absolut lebensecht gemacht. Er wunderte sich über den entspannten und geradezu gütigen Ausdruck in dem Kindergesicht. Nach dem was Tante Brilla ihm erzählt hatte, war Reba Derber ein verzogenes kleines Biest gewesen, das seine Zwillingsschwester ohne mit der Wimper zu zucken dem Lehm geopfert hatte.
Ulaf Tricht, der Dorfpriester von Lehmweiler, kam zu ihnen: „Es ist Zeit, liebe Trischa. Du musst deinen Themas jetzt loslassen und zurückbleiben.“ Er lächelte Trischa freundlich an: „Tröste dich, Mädchen. Er kommt ja heute Abend wieder zu dir. Nicht mehr lange, und du darfst ebenfalls mitkommen ins Draußen. Aber glaube mir, so toll ist es nicht. Nicht umsonst bleiben die meisten nach dem ersten Besuch für immer weg oder gehen nur noch selten mit der Karawane nach Landsweiler.“ Der Priester lief weiter.
Trischa ließ Themas´ Arm los: „Bis dann.“
„Bis dann“, antwortete Themas.
Im Weitergehen schaute er zurück. Trischa stand einsam bei der Lehmastatue auf dem von Wagenrädern und von Kamelhufen aufgewühlten Dammweg. Sie winkte. Er winkte zurück. Die Statue der Lehma schaute zu. Themas sah genauer hin. Aus seiner jetzigen Perspektive sah die junge Lehma nicht mehr entspannt und gütig aus. Stattdessen wirkte ihr Gesicht verkniffen und ihr Blick war stechend, gerade so wie der Blick Grutie Umpfbeetls oft war, der derzeitigen Lehma.
Seltsam, dachte Themas. Ihm war der veränderte Blick der fünf Meter hohen Statue früher nie aufgefallen. Allerdings war er, soweit er sich erinnern konnte, auch nie weiter als bis zur Lehma-Lnsel gekommen, wenn er eine Karawane begleitet hatte. An der Insel hatte er die Leute ziehen lassen. Er schaute noch einmal das Gesicht der Lehma an. Es stimmte, von dieser Seite aus betrachtet, wirkte ihr Blick stechend. Als wolle sie ihm sagen: „Ich habe ein Auge auf dich, Themas Irrlucht! Ich sehe alles! Komm bloß nicht auf dumme Gedanken! Denk nicht einmal daran, dem Lehm zu entfliehen! Das schaffst du niemals! Du gehörst dem Lehm! Niemand darf das Lehm verlassen! Ich passe auf!“
Bei Tante Brilla und Onkel Jidler hast du aber nicht besonders gut aufgepasst, du Trine!, dachte Themas.
Der Weg machte einen Bogen und hochwachsendes Gestrüpp nahm ihm den Blick auf die Lehma. Gleich ging es ihm besser.
Dem Lehm entfliehen, dachte er. Die Tonstatue kann jedenfalls nichts dagegen tun.
Die Leute, die die Karawane begleiteten, jedoch sehr wohl. Themas wusste von zwei Menschen, die in Landsweiler versucht hatten, sich abzusetzen. Sie waren verfolgt und festgehalten worden. Man hatte sie ins Lehm zurückgebracht und über sie zu Gericht gesessen. Es war viele Jahre her. Themas war damals noch klein gewesen. Er wusste nur, dass man die zwei Ausreißer nach Rötelheim verbannt hatte. Sie hatten nie wieder die Karawane ins Draußen begleiten dürfen.
Ich werde nicht entfliehen, dachte er bei sich. Jedenfalls nicht heute.
Er wollte unbedingt zu Trischa zurück und wieder das angenehme Gefühl spüren, wenn sie sich an seinen Arm hängte.
Und er musste mit ihr sprechen. Über die Zweitlinge unter der Treppe.
|