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Stefan Steinmetz
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Dabei seit: 10.02.2006
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Das Lehm(1) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

PROLOG:


Das Lehm lag dunkel und still. Rallie Hoekker erkannte kaum den Weg vor sich. Es war kurz nach Neumond. Das einzige Licht kam von der dünnen bogenförmigen Sichel des Mondes, der gerade erst wieder anfing, zum Vorschein zu kommen. Es war so dunkel, dass sie kaum die Hand vor Augen sah.
Bei Vollmond hätte sie nicht gehen können. Bei Vollmond war das Lehm wach - hellwach.
Nur bei Neumond war das Lehm schwach und schläfrig. Nur in den Tagen um Neumond konnte man wagen, was sie tat.
Kurz nach elf Uhr abends war sie aufgestanden. Sie hatte sich in aller Stille angezogen und die beiden Zwillinge in die Tragetücher gelegt und sie sich umgehängt. Die Kleinen schliefen tief und fest. Der Pflanzentee, den sie ihren beiden Lieblingen in den abendlichen Brei gemischt hatte, tat seine Wirkung. Sie schliefen. Sie mussten schlafen. Wenn sie aufwachten und anfingen zu schreien, war alles aus. Das würde das Lehm wecken.
Rallie hatte ihrem schlafenden Mann einen letzten Kuss auf die Wange gehaucht und hatte das Haus verlassen, bittere Tränen weinend. Sie musste Elbert zurücklassen. Er wäre nie im Leben mitgekommen. Sie hatte einige Wochen zuvor versucht, mit ihm darüber zu reden.
„Frau! Du bist irre!“, hatte er gezischt und sich ängstlich umgesehen, als befürchte er, jemand könne hören, was Rallie sagte. Sie hatten beim Abendbrot gesessen. Jeder von ihnen hatte einen der Zwillinge auf dem Schoß gehalten und mit Brei gefüttert. Die beiden würden demnächst abgestillt werden; was der Grund für Rallies verzweifelten Vorstoß war.
„Du darfst nicht einmal daran denken!“, hatte Elbert geflüstert, die Augen weit aufgerissen. „Vergiss, was du gesagt hast, sonst bist du des Lehms! Das Lehm sieht alles! Das Lehm hört alles! Das Lehm ist überall!“
Rallie bog in den Dammweg ein, der sie von Lehmkaul fortführte. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Draußen im Lehm drehte sie sich um und schaute noch einmal zurück auf das Dorf, in dem sie aufgewachsen war. Lehmkaul lag still und dunkel auf der flachen Insel inmitten des Lehms. Die niedrigen Backsteinhäuser duckten sich auf die rote Erde. Nur das Bürgermeisterhaus ragte zwischen den einstöckigen Bauten auf. Droben am Dachgiebel brannte eine einsame Laterne. In allen Orten im Lehm brannten in den Bürgermeisterhäusern des Nachts diese Lichter. Für den Fall, dass jemand sich verlief und den Weg zurück suchte.
Sich verlaufen! Rallie musste ein Schnauben unterdrücken. Niemand im Lehm verlief sich in der Nacht. Nie. Nachts lag man im Bett und schlief. Nur die Schäfer übernachteten manchmal draußen bei ihren Herden und die Karawaner mit ihren Kamelen. Das Lehm war groß, die Wege weit. Nicht überall gab es Ortschaften, in denen man übernachten konnte.
Neben dem Damm gluckste es in einem Wasserloch. Das Geräusch klang unterdrückt und irgendwie schmierig. Als ob sich der lehmige Schlamm bewegen würde.
Im fahlen Licht der Mondsichel sah Rallie das Lehm rechts und links des schmalen Damms. Der Damm ragte kaum aus dem Lehm heraus; höchstens eine Handspanne weit. Das Lehm erstreckte sich nach allen Seiten. Trotz der Dunkelheit erkannte sie die rötliche Färbung der weiten Sand- und Lehmfelder. Hier und da wuchsen Büsche und vereinzelte Bäume auf kleinen inselartigen Erhebungen, die aus der flache Sandebene aufragten. Das Lehm bestand aus Sand und Lehm. Manchmal sah man den Lehm nicht unter dem Sand. Für einen Fremden mochte eine flache Senke aus festem Sand bestehen, doch darunter konnte sich trügerischer Lehm verbergen, in dem der Unvorsichtige einsinken würde.
Rallie kam an der Kreuzung an. Sie erkannte die alte Eiche und darunter die Statue der Heiligen Lehma. Ohne Zögern bog sie nach Osten ab. Der Ostweg war länger, viel länger als der Weg nach Süden. Aber um diese Jahreszeit war der Südweg zu unsicher. Im Herbst stieg das Lehm und manchmal überflutete es den Damm an einigen Stellen. Dann müsste sie durch den weichen, matschigen Lehm gehen und das Lehm würde womöglich spüren, was sie vorhatte, auch wenn es in den Neumondnächten schlief. Was schlief, konnte aufwachen.
Rallie Hoekker bewegte sich langsam. Gemessenen Schrittes ging sie über den kaum sichtbaren Weg, der sie durch die lehmig-sumpfige Landschaft trug. Binsenbüschel hockten in der Düsternis. Ihre dicken, fleischigen Halme wirkten wie hochragende Finger, die nach ihr greifen wollten. Sie wollte das Lehm nicht auf sich aufmerksam machen. Es hieß, das Lehm schliefe in den Neumondnächten, aber wer wollte das so genau wissen?
Das Lehm lebte. Das Lehm fühlte. Das Lehm ließ niemanden gehen.
Rallie war froh, in Lehmkaul zu wohnen. Der kleine Ort lag nahe am Rand des Lehms. Hätte sie sich von Lehmingen aus auf dem Weg machen müssen, wäre das ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Lehmingen lag in der Mitte des Lehms. Der Rand der roten Einöde aus Sand und Lehm war von dort aus mehr als einen Tagesmarsch entfernt. Bei Tag hätte das Lehm gespürt, was Rallie Hoekker vorhatte. Es hätte kein Entkommen gegeben. Auch so war es riskant, was Rallie tat. Sie tat es für ihre beiden kleinen Lieblinge.
Ich gebe euch nicht her, dachte sie. Nie im Leben! Keins von euch!
Still setzte sie ihren Weg fort.
Nach einer Stunde sah sie linker Hand das einsame Nachtlicht von Lehmborn in der Dunkelheit funkeln. Es war kaum wahrnehmbar und wirkte verschwommen. Dort drüben war Nebel aufgestiegen.
Rallie seufzte unhörbar. Das bedeutete, dass ihr Weg sie genau in den Nebel hineinführen würde. Das hatte noch gefehlt! Auch ohne Nebel sah sie fast nichts. Ausgerechnet heute Nacht war es stark bewölkt. In der Nacht zuvor war der Himmel überm Lehm sternenklar gewesen. Sie hatte um Mitternacht einen Blick nach draußen geworfen. Beinahe wäre sie mit ihren kleinen Zwillingen losgezogen. Aber sie hatte den Kleinen keinen Schlaftee ins Abendessen getan. Wenn sie mitten im Lehm aufgewacht wären - nicht auszudenken.
Obwohl alles in Rallie nach Flucht schrie, bewegte sie sich weiterhin langsam und ohne jede Hektik. Sie durfte die Aufmerksamkeit des Lehms nicht auf sich ziehen.
Sie passierte Lehmborn und ließ das kleine Licht hinter sich. Nun war es nicht mehr allzu weit, eine Stunde Fußmarsch vielleicht. Dann würde sie an der Insel im Lehm vorbeikommen, wo die riesige Statue der Heiligen Lehma stand, die ganz große. Man hatte sie vor vielen, vielen Jahren an dem Ort errichtet, an dem die Gläubigen den Weg ins Lehm gefunden hatten. Nur wenige hundert Meter dahinter endete das Lehm in einem Wiesengrund vorm Wald. Dort am Waldrand lag Landsweiler, die Siedlung der Außenstehenden, die dort Holz gewannen und es mit ihrer Eisenbahn quer durch den Wald fortbrachten. Mit dieser Eisenbahn transportierten sie auch die Ziegel und Ziegelsteine, die sie den Lehmleuten abkauften und den wertvollen Rötel aus dem Lehm und all die anderen Handelswaren.
Wenn sie in Landsweiler war, würde Rallie in Sicherheit sein – sie und die beiden Kleinen.
Wäre ich nur schon dort, dachte sie voller Inbrunst. Rallie hatte Angst. Das Lehm lag still und bewegungslos in der Dunkelheit, aber es konnte erwachen. Wenn das geschah, war alles aus. Das Lehm würde sie nicht ziehen lassen. Nicht mit den Zwillingen.
Der Zweitling ist des Lehms.
Gebt dem Lehm, was dem Lehm gebührt.
Wir geben den Zweitling.
So war es immer gewesen. So würde es bleiben. Für immer. Das zweitgeborene Kind von Zwillingen gehörte dem Lehm.
Der Weg machte eine Biegung. Nun mäanderte er in lang gezogenen Schleifen und Kurven durchs Lehm. Er war kaum zu erkennen. Nur ein im Lehm Geborener konnte die Zeichen lesen. Ein Außenstehender wäre unweigerlich in eine der sumpfigen Stellen geraten und vom Lehm verschlungen worden. Das Lehm duldete keine Eindringlinge. Selbst auf den Dammwegen war einer von Draußen nicht sicher. Auch die Dammwege konnten sich in einen tückischen Schlund verwandeln. Nur die Gläubigen durften im Lehm leben. Als sie vor vielen Jahren im Lehm angekommen waren, hatte das Lehm sie gnädig aufgenommen.
Doch das Lehm erwartete dafür Gegenleistungen.
Es ist so dunkel, dachte Rallie. Warum muss es so dunkel sein?
Die Wolken wurden immer dichter. Sie sah die dünne Mondsichel nicht mehr. Wolken verdeckten sie. Das Licht war fast weg. In grauer Düsternis bahnte Rallie sich ihren Weg.
Hätte ich doch tagsüber gehen können, dachte sie sehnsüchtig. Sie fühlte, wie ein Lachen in ihrer Kehle aufsteigen wollte und musste es mit aller Macht unterdrücken. Bei Tag das Lehm verlassen? Mit Zwillingen? Was für eine lächerliche Vorstellung!
Dem Rand des roten Gebietes konnte man sich nur in Gruppen nähern. Einzelpersonen liefen Gefahr, vom Lehm verschlungen zu werden. Man musste die festgelegten Wege nehmen. Nur bei Landsweiler durfte man das Lehm verlassen.
Ja, die Schäfer ließen manchmal ihre Herden auf dem breiten Grasstreifen weiden, der das gesamte Lehmgebiet umgab, doch wehe demjenigen der versuchte, in den Wald zu gelangen! Er wurde sofort von seinen Kumpanen verfolgt und ins Lehm zurückgebracht.
Eine Einzelperson schaffte es meist nicht mal auf den Grasstreifen. Das Lehm war wach. Das Lehm passte auf. Das Lehm ließ niemanden gehen. Was im Lehm geboren war, gehörte dem Lehm.
Schritt für Schritt setzte Rallie Hoekker ihren Weg fort. Bald musste die Insel mit der großen Statue der Heiligen Lehma auftauchen. Weit konnte es nicht mehr sein. Trotzdem hatte Rallie Angst. Erst wenn sie aus dem Lehm heraus war, würde sie sich gestatten aufzuatmen.
Was sie tat war der reine Irrsinn. Es war gefährlich. Lebensgefährlich. Aber sie musste es tun; ihren Kindern zuliebe.
Und waren nicht vor einem Jahr Brilla und Jidler Lerong gegangen? Die Bronzegießer hatten Zwillinge gehabt wie Rallie. Es war Zeit gewesen, die Kinder abzustillen und den Zweitling vom Erstgeborenen zu trennen. Stattdessen verließen die Lerongs das Lehm. Sie hatten es geschafft, denn man hatte ihre Kleidung nicht irgendwo an einen der Dammwege angespült gefunden. Wenn das Lehm einen Flüchtling erwischte, ließ es die Kleidung des Sünders deutlich sichtbar für die anderen Gläubigen am Wegesrand liegen. Von Brillas und Jidlers Kleidern hatte es keine Spur gegeben. Also hatten sie es geschafft.
Es ist möglich, dachte Rallie.
Allerdings waren auch viele gescheitert. Rallie versuchte, nicht daran zu denken.
Die Wolkendecke riss auf. Rallie erkannte deutlich die dünne Mondsichel. Wie ein silberner Bogen hing sie am Himmel. Das schwache Licht ließ das Lehm rötlich-düster aufglimmen. Rechts und links des Weges hockten Binsenbüschel im Sand. Wassertümpel glucksten in Lehmsenken.
Neue Wolken zogen heran. Rallie merkte sich die Position des Mondes und setzte ihren Weg fort. Allmählich wurden die beiden Kinder schwer. Auch der vollgepackte Rucksack schien mit jeder Minute an Gewicht zuzulegen. Und die Angst wuchs. Rallie spürte ihr Herz gegen ihre Rippen pochen. Oh, diese Angst! Mit jedem Schritt, den sie tat, nahm sie zu.
Rechts und links des Weges ragten Krüppelbäume und kleine Büsche aus der Finsternis. Immer weiter führte der breite Pfad. Rallie erkannte Wagenspuren im Sand unter ihren Füßen. Sie war auf dem rechten Weg. Bald würde die Statue der Lehma auftauchen.
Oder?
Rallie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Die rötliche Düsternis schien die Zeit selbst zu verschlucken. Wann kam endlich die Insel?
Ich müsste längst dort sein, dachte sie. Lehmborn liegt hinter mir. Lange schon. Wo bleibt die Insel?
Sie schaute sich um.
Und wieso stehen hier so viele Krüppelbäume?
Sie erinnerte sich nicht an derart viele Gewächse rechts und links des Weges nach Landsweiler. Allerdings war sie den Weg zum Dorf der Außenstehenden schon seit vielen Monaten nicht mehr gegangen. Das letzte Mal hatte sie die Ziegelkarawane begleitet, als sie im fünften Monat schwanger gewesen war. Vielleicht waren die Büsche höher geworden. Alles im Lehm veränderte sich ständig.
Aber wuchsen Bäume und Büsche so schnell in die Höhe?
Rallie spürte, wie eine Gänsehaut ihren Körper überzog. Sie blieb stehen. Vorsichtig tastete sie mit den Füßen den Boden ab. Der Untergrund war seltsam weich, als befände sich direkt unter der Sandoberfläche purer Lehm. Aber da waren die Wagenspuren. Kein Wagen konnte durch weichen, nachgiebigen Lehm fahren. Wagen fuhren nur auf den breiten, festen Dammwegen, die das Lehm wie Adern durchzogen.
Wie Adern …
Auch Bäche durchzogen das lehmige Sandland wie Adern. Rallie meinte, in der Nähe Wasser glucksen zu hören. Ein kleiner Bach? Sie dachte scharf nach. Gab es bei der Insel mit der großen Lehmastatue einen Bach?
Die Bäche veränderten ihren Lauf ständig. Das Lehm selbst war dafür verantwortlich. Wo heute eine sumpfige Lehmsenke war, konnte sich morgen eine flache Sandbank aus dem Lehm erheben und das Wasser eines Baches dazu veranlassen, um die leichte Geländeerhöhung herum zu fließen.
Rallie setzte sich wieder in Bewegung. Sie war unruhig. Ihre Furcht wuchs mit jeder Minute. Sie wollte raus aus dem Lehm. Unbedingt.
Sie stolperte über eine tiefe Karrenspur. Beinahe wäre sie gestürzt. Vor sich erkannte sie eine hoch aufragende Säule in der fast vollkommenen Düsternis. Rallie atmete auf. Endlich. Sie hatte die Insel mit der Statue der Heiligen Lehma erreicht. Sie blies hörbar Luft ab. Ihr Herz pochte wild. Ihre Angst ließ nach. Sie war so gut wie raus aus dem verfluchten Lehm. In wenigen Minuten würden sie und ihre beiden Kinder frei sein.
Neben dem Dammweg gab es ein Geräusch. Nasser Lehm gab einen Ton von sich, der wie „Quorrr“ klang. Rallie hörte leises Gleiten und Schaben. Sofort blieb sie stehen. Hatte sie das Lehm auf sich aufmerksam gemacht? War das Lehm erwacht? Oder waren das nur normale Geräusche, verursacht von einem Sumpfloch?
Erneut ertönte das Geräusch. Es klang wie ein langsamer, dumpfer Furz. Etwas schwappte.
Rallie lief weiter. Sie wollte weg, so schnell es ging. Es fiel ihr schwer, langsame Schritte zu machen. Alles in ihr schrie danach, zu rennen. Aber sie wollte nicht kurz vor dem rettenden Rand vom Lehm erwischt werden. Wenn das Lehm erst einmal erwachte …
Der dunkle Pfahl ragte vor ihr aus der Düsternis. Er war breit und viele Meter hoch. Die Statue der Heiligen Lehma.
„Gleich sind wir in Sicherheit“, wisperte Rallie ihren schlafenden Kindern zu. „Nur noch ein paar Minuten.“
Sie kam der aufragenden Statue immer näher. Sie bohrte sich rechter Hand in den dunklen, wolkenverhangenen Nachthimmel.
Rechts? Rallie schaute verdutzt in die Dunkelheit. Sie war für ihre Augen fast undurchdringlich. Lag die Insel mit der Heiligenstatue nicht auf der linken Seite des Weges? Plötzlich begann ihr Herz zu rasen. Heiße Furcht brandete in ihr auf. Hatte sie sich verlaufen? Hatte sie den falschen Weg gewählt? Eine halbe Stunde zuvor hatte der Weg sich nach links gewandt, wo er eigentlich geradeaus hätte weiterführen sollen. Nun ja … links … nur ein wenig, eine lang gezogene Biegung. Nicht weit abgewichen von der Richtung, in die Rallie musste. Oder?
Wieder änderte der Dammweg seine Richtung. Rallie atmete auf. Es ging nach rechts und schon nach wenigen Schritten ragte die Lehmastatue nun linker Hand von ihr auf. Na bitte. Sie war auf dem richtigen Weg.
Nur dass dieser Weg zunehmend schmaler zu werden schien. Rallie konnte es nicht genau sehen. Die dünne Sichel des Mondes war hinter dichten Wolken verborgen. Es war stockfinster. Sie erkannte kaum die Hand vor Augen. Rechts und links ragten Krüppelbäume aus dem Lehm. Wie anklagende Finger reckten sie sich aus dem Sandboden in den Nachthimmel.
Rallie ging auf die Statue der Lehma zu. Endlich! Nun war es nicht mehr weit.
Bald sind wir draußen, dachte sie. Bald, meine beiden Lieblinge. Ihr werdet nicht getrennt. Ich werde nicht eins von euch verlieren. Nein.
Die Lehma ragte direkt neben dem Dammweg auf. Die Wolken verzogen sich. Die dünne Mondsichel spendete ihr spärliches Licht. Rallie konnte die Umgebung wieder besser sehen. Sie sah die Statue der Lehma neben dem Damm. Der Schock traf sie wie ein Blitzschlag.
Es gab keine Statue. Neben dem Weg stand keine Statue der heiligen Lehma. Dort ragte nur ein Klotz aus Lehm aus dem Sand empor.
Ein winselnder Laut brach aus Rallie Hoekkers Kehle. Lehm! Alles war aus Lehm! Nicht nur der aufragende Klotz, der einer Statue ähnelte. Auch die Bäume und Büsche ringsum waren nichts als Gebilde aus Lehm, nichts als Trugbilder in der Nacht. Sie war in die Irre gegangen.
Rallies Herz begann zu rasen. Nicht in die Irre gegangen. In die Irre geführt! Vom Lehm! Das Lehm hatte sie in die Irre geführt. Das Lehm hatte ihr vorgegaukelt, dass sie den Weg zur Statue der heiligen Lehma ging. In Wirklichkeit hatte es einen Weg erschaffen, der Rallie ins Lehm leitete, mitten hinein.
Mitten hinein ins sichere Verderben.
Rallie fing an zu zittern. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Sie war außer sich vor Angst. Panisch schaute sie sich um in der Hoffnung, irgendwo einen Hinweis zu entdecken, einen Stein, einen Fels, einen Baum, den sie kannte; ein Zeichen, dem sie folgen konnte. Hinaus. Hinaus aus dem schrecklichen Lehm.
Da war nichts. Buchstäblich nichts. Nur Lehm.
Ich muss zurück!
Sie drehte sich um und begann den Weg zurückzulaufen, den sie gekommen war. Sie rannte. Sie war nicht mehr imstande, langsam zu gehen. Sie rannte um ihr Leben. Rallie schlotterte vor Angst. Sie wollte zu der Abzweigung, an der sie fehlgegangen war. Wenn sie die erreichte und abbog, wenn sie an der echten Lehmastatue vorbei rannte zum Rand des Lehms, wenn sie das schaffte, dann hatte sie eine Chance.
Sie glaubte nicht daran. Das Lehm war erwacht. Das Lehm hatte sie gespürt und einen falschen Weg für sie gebildet, aus Lehm, ein grausiges Trugbild.
Die Todesangst verlieh Rallie Flügel. Sie rannte so schnell wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Die Zwillinge in den Tragetüchern erwachten, Schlaftee hin, Schlaftee her. Gerk begann leise zu jammern.
„Scht! Still mein Kleiner!“, keuchte Rallie überm Rennen. „Bitte sei still! Wir sind gleich in Sicherheit.“
Sie betrog sich selbst. Sie wusste, dass es keine Sicherheit für sie gab. Doch sie rannte. Sie rannte in Panik wie ein fliehendes Tier, wie ein Schaf, dass vor einem Horro davonlief. Blindlings stürmte sie voran.
Da! Die Abzweigung! Schnell, den anderen Weg nehmen! Hier gab es wirkliche Bäume und Büsche, keine Trugbilder aus Lehm. Droben am Himmel verzogen sich die Wolken. Die dünne Mondsichel ließ ihr trübes, silberfarbenes Licht zur Erde sickern. Rallie erkannte den Weg vor sich. Nun sah sie Zeichen. Sie erkannte den kantigen Felsklotz rechts, auf dem ein Grasbüschel wuchs. Sie sah den verdrehten Baum vor der Kurve, hinter der die Statue der heiligen Lehma stand.
So nah. So nah! Nur noch bis zur Statue und ein wenig weiter. Das Ende des Lehms war nah. Rallie rannte.
Die Statue tauchte aus der Dunkelheit auf.
„Gleich sind wir in Sicherheit“, keuchte Rallie. Sie hielt ihre Kinder fest und rannte, was das Zeug hielt.
Direkt vor der heiligen Lehma öffnete sich der Boden. Rallie sank bis zu den Knien in weichen Lehm ein.
Rallie schrie. „Nein! Nein!“ Sie schluchzte. Verzweifelt versuchte sie, in dem sich auflösenden Boden voranzukommen. Dabei sank sie tiefer ein. Schon war sie bis zu den Hüften im weichen Morast versunken. Sie spürte die nasse Kälte des Lehms. Panisch schlug sie um sich.
Kalter weicher Schlamm kroch an ihrem Leib aufwärts. Nein! Bitte nicht! Nein! Oh bitte nicht!
Sie spürte, wie es sie hinabzog in den Schlund der Erde. Das Lehm saugte sie in sich hinein. Rallie schluchzte. Sie schrie. Sie verging vor Angst. Das Lehm hatte sie gepackt. Sie war verloren. Das Lehm würde sie verschlingen.
Der teigige, nasse Morast kroch unerbittlich an ihrem Körper hinauf, während Rallie immer tiefer in den kalten Lehm hinunter gezogen wurde. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei. Er wurde nie geboren. Eine arm dicke Ranke aus lebendem Lehm kroch in Rallies Mund und glitt in ihrem Hals abwärts zur Lunge. Rallie bekam keine Luft mehr. Eisiges Entsetzen mischte sich mit Panik. Sie zappelte in Todesangst. Sie erstickte.
Sie fühlte, wie das Lehm in sie hineinglitt, wie es ihr die Luft zum Atmen nahm.
Plötzlich zog sich der kalte, schmierige Morast aus ihrem Mund zurück. Rallies verstopfte Luftröhre öffnete sich. Sie sog verzweifelt Luft ein. Ihr Herz donnerte. Ihr Kopf dröhnte. Sie kam um vor Angst. Sie atmete. Hektisch. Verzweifelt.
Der Morast kam zurück. Wieder glitt eine lebende Ranke aus Lehm in ihrem Mund. Sie konnte nichts dagegen tun. Rallie bekam keine Luft. Sie kämpfte um ihr Leben, irre vor Angst.
Das Lehm ließ sie leiden.
Lange.
Immer wieder zog sich der weiche Schlamm zurück, ließ ihr ein paar Atemzüge, nur um zurückzukehren und wie eine kalte, schmierige Schlange in Rallies Hals zu gleiten.
Es dauerte.
Es wurde unaussprechlich.
Rallie bekam genau mit, wie das Lehm sie schließlich vollends erstickte. Sie fühlte nichts als Todesangst und Verzweiflung. Sie würde nicht frei sein wie Jidler und Brilla Lerong. Sie würde ihre beiden Kinder nicht befreien. Sie würde nicht frei sein. Sie starb. Sie starb unter entsetzlichen Qualen. Das Lehm ermordete sie. Das Lehm hatte seine Freude daran, sie totzuquälen.
Das Schrecklichste war, dass sie ihre beiden Kinder jammern hörte, als das Lehm auch die Zwillinge grausam erstickte. Das war das Schrecklichste für Rallie Hoekker. Sie hörte ihre Kinder leiden, bis sie endlich vom Lehm erstickt wurde.

07.07.2017 14:12 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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