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Stefan Steinmetz
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Der Elfenmacher(37) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Chayenne Kowak lag unter ihrem Bett. Inzwischen hatte sie sich an diese Art der Übernachtung gewöhnt. Sie hatte ihrer neuen Freundin Apollonia Kolbe alles bis ins kleinste Detail erzählt. Schließlich war es Pollys Idee gewesen, unterm Bett zu schlafen.
„Ich habe extra noch einmal unterm Bett gesaugt“, berichtete Chayenne am Morgen nach ihrer ersten ungewöhnlichen Übernachtung. „Ich habe die Zudecke unters Bett geschoben, bis ganz nach hinten an die Wand. Dann habe ich das Kopfkissen bei der Wand auf die Decke gelegt. Ich bin unters Bett gekrochen und habe mich nahe der Wand auf die Decke gelegt und dann die Zudecke über mich drüber gezogen. Da war ich schön eingemummelt; wie ein Rollbraten. Wenn jemand zufällig unters Bett guckt, sieht der höchstens eine an der Wand zusammengerollte Decke. Das sieht aus, als würde die dort unten aufbewahrt.“
Polly hatte sie umarmt und ihr Glück gewünscht. Polly, die nette Polly Kolbe. Ihre Freundin. Ihre erste richtige Freundin. Chayenne Kowak hatte noch nie eine beste Freundin gehabt. Sie hatte Schulkameradinnen, aber echte Freundinnen waren das nicht. Polly war ganz anders. Polly war freundlich und nett und Polly versuchte sie zu beschützen.
Polly hatte ihr ein Meerschweinchen geschenkt. Zuerst waren Chayennes Eltern dagegen gewesen, aber Opa Siegfried hatte zu ihrem Papa gesagt: „Du hast ja selber Meerschweinchen gehabt, Peter. Was soll das?“
„Was wird, wenn sie sich nicht um das Tier kümmert?“ hatte Chayennes Vater dagegen gehalten.
„Dann wirst du es halten, wie ein Kowak es hält“, hatte der Opa mit seiner strengsten Stimme gesagt. „Dann ziehst du ihr die Hammelbeine lang, wie ich es mit dir auch gemacht habe. Stell dich nicht so an! Das Mädchen bekommt das Tier. Das sage ich. Und du sagst nichts dagegen. Die Chayenne ist für ihr Alter schon sehr verständig. Die wird sich schon kümmern.“ Damit war es beschlossene Sache. Chayenne würde ihr Meerschweinchen kriegen. Sobald die Jungen von Sir Henry, der jetzt eine Lady Henriette war, alt genug waren, würde Chayenne eines der niedlichen Tierchen erhalten.
Chayenne freute sich ganz närrisch auf ihr das Tier.
Oh, sie würde sich gut um ihr Meerschweinchen kümmern. Sie hatte bereits Pollys Meerschweinchenbuch von vorne bis hinten durchgelesen und sie wusste genau Bescheid, wie man diese Tierchen pflegte. Am wichtigsten war Gesellschaft. Sie würde versuchen, für ihr Schweinchen noch einen Kameraden zu bekommen.
Polly. Die liebe Polly. Wenn Chayenne an das Mädchen dachte, spürte sie ein seltsames Gefühl im Herzen. Etwas Ähnliches hatte die nie gefühlt. Es war ein schönes Gefühl; ein bisschen war es, wie wenn sie zu ihren Großeltern auf Besuch kam. Sie liebte ihren Opa und ihre Oma und es war immer schön, zu ihnen zu kommen.
Mit Polly Kolbe war es ähnlich. Immer wenn Chayenne Polly traf, fühlte sich dieses neue Gefühl. Es war eine Art Liebhab-Gefühl. In Pollys Gegenwart hatte Chayenne anfangs eine nie gekannte Schüchternheit gefühlt. Selbst jetzt war ihr immer seltsam zumute, wenn sie das Mädchen traf. Polly hatte gesagt, sie seien jetzt Freundinnen, aber Chayenne hatte immer noch Angst, dass sie diese Freundschaft aufkündigen könnte. Polly war böse auf Chayenne gewesen, weil sie in der Schule so viel Krach mit anderen Schülerinnen hatte. Dabei hatte Chayenne sich nur gewehrt. Die anderen Kinder konnten echt fies sein. Die blickten auf eine Kowak runter und behandelten sie wie Luft oder sie taten, als sei eine Kowak dreckig und dass man nichts mit der zu tun haben durfte. Die Kowaks wurden geschnitten.
Aber aufgeben durfte eine Kowak nicht. Eine Kowak ließ sich nichts gefallen. Eine Kowak gab nicht klein bei. Eine Kowak musste sich wehren.
Die Worte ihres Vaters: „Untersteh dich und komm heulend heim und erzähl mir, dich hätte eine verdroschen. Dann gebe ich dir Grund, zum Flennen! Dann prügel ich dich windelweich! Wehr dich! Eine Kowak lässt sich nichts gefallen!“
Chayenne hatte sich an den Befehl ihres Vaters gehalten, aber die vielen Prügeleien hatten sie isoliert. Sie hatte keine echte Freundin gehabt. Niemand wollte mit „diesem Pack“ etwas zu tun haben. Den Kowaks hing noch immer der Ruf an, wie ein Heuschreckenschwarm über Runsach hergefallen zu sein.
Die Kowaks waren „die Zugezogenen“, die „Reingeschmeckten“, die „Schmarotzer“. Die Kowaks waren „das Gesocks“ und mit Gesocks wollte niemand etwas zu tun haben. Viele Eltern verboten ihren Kindern, sich mit den Kindern der Kowaks abzugeben.
Nur Polly war anders. Chayenne mochte Polly sehr.
Sie hatte Polly erzählt, sie hätte nun nicht mehr so schlimm Angst, aber eigentlich war das gelogen. Chayenne fürchtete nach wie vor jede kommende Nacht. Sie wusste von ihrer Uroma, dass der Schratzl jedes Schloss mit seinen magischen Kräften öffnen konnte. Einen Menschen konnte man vielleicht mit der zusammengerollten Decke unterm Bett hereinlegen; aber den Schratzl? Was, wenn er sie riechen konnte? Oder vielleicht hatte er besondere Sinne und konnte sie irgendwie spüren.
Nein, entschied Chayenne. Dann hätte er mich an dem Abend auf der Treppe an dem Haus spüren müssen. Mit Grausen dachte sie an die unheimliche Verfolgung, als der Unhold sie das erste Mal zu fangen versuchte. Das Monster hatte nur zwei Schritte von ihr entfernt gestanden. In aller Deutlichkeit erinnerte sich Chayenne an die hohle Knisterstimme, die ihren Namen geflüstert hatte. Wie raschelndes Papier hatte die Stimme des Schratzls geklungen: „Wo bist du, Chayenne? Wo bist du, mein Mädchen? Ich komme dich holen. Ich bringe dich in meinen Keller. Du brauchst dich nicht zu verstecken. Ich weiß genau, wo du steckst.“
In dem Moment hatte Chayenne sich in die Hosen gemacht. Sie war außer sich vor Angst gewesen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so gefürchtet, wie in jenem Moment, als diese entsetzliche, hohle Knisterstimme dicht neben ihrem Kopf geflüstert hatte.
„Ich kriiiiiiege dich, Chayenne! Du entkommst mir nicht! Du bist mein!“
Seitdem war der Schratzl hinter ihr her. Der schreckliche Monstergnom aus der Unterwelt hatte sie auserkoren. Er hatte Chayenne Kowak als Opfer erwählt und er würde keine Ruhe geben, bis er sie bekam.
Chayenne hatte ihre Uroma gefragt, wie man dem Schratzl enkommen konnte, aber die hatte es nicht gewusst. „Vielleicht hilft Beten“, hatte sie gemeint. „Geh in die Marienkapelle und zünde für die Mutter Gottes eine Kerze an und bete zu ihr um Beistand. Die Mutter Maria hört alles.“
Das klang nicht gerade nach einer wirklichen Lösung. Es würde erst gut werden, wenn jemand den gemeinen Schratzl erwischte und ihn einsperrte. Bis dahin würde das bösartige Geschöpf weiter Jagd auf kleine Kowak-Mädchen und auf Chayenne Kowak im Besonderen machen.
Chayenne vergrub sich tiefer in der Decke. Tagsüber war es sommerlich warm, aber nachts kühlte es ab und sie lag mit ihrer Decke auf dem Boden und nahe bei der Wand. Wieder einmal war sie mitten in der Nacht aufgewacht. Das passierte in letzter Zeit häufig. Sie hörte etwas im Schlaf, vielleicht ein Rascheln in der Hecke neben dem Haus, den Schrei eines Kauzes oder sonst ein Geräusch und schon war sie wach und voller Furcht, der Schratzl könnte kommen.
Chayenne drehte sich in der Decke herum. Nun lag sie mit dem Rücken zur Wand. Sie streckte ihren Kopf gerade weit genug aus ihrem Nest, um ein Ohr freizubekommen und mit den Augen an der Decke vorbei in ihr Zimmer zu spähen.
Im fahlen Licht eines halben Mondes und einer weit entfernten Straßenlaterne erkannte sie ihr Zimmer nur in Umrissen. Sie sah die Beine ihres Schreibtisches und davor den fünfeckigen Stern ihres Schreibstuhls mit den Rollen darunter. Neben dem Schreibtisch stand ihre Schultasche, fertig gepackt für den Unterricht. Viel hatte Chayenne nicht einpacken müssen. Die Sommerferien standen unmittelbar bevor. Alle Arbeiten waren geschrieben. Sie würden nur ein bisschen malen und in Deutsch etwas lesen und in der folgenden Stunde einen Film über die Wüste Namib in Afrika anschauen.
Chayenne lauschte mit klopfendem Herzen. Was hatte sie geweckt? Das Haus lag still da. Es schien zu schlafen. Hier und da knackte es leise. Das waren die Möbel. Davor fürchtete sich Chayenne nicht.
Da hörte sie Schritte. Chayenne zuckte zusammen. Es kam jemand!
Deutlich hörte sie das Tappen von Schuhen auf Asphalt. Das waren aber mehrere Leute. Sie hörte leise Stimmen.
Chayenne entspannte sich. Die Bürgerwehr war unterwegs. Sie blies die Luft ab, die sie unwillkürlich angehalten hatte. Nur die Bürgerwehr. Sie fühlte war erleichtert. Kein Schratzl. Es waren Männer aus ihrer Verwandtschaft, die draußen auf der Straße patrouillierten, um ihr das Monster vom Hals zu halten. Erleichterung erfasste Chayenne. Nur die Bürgerwehr. Gott sei Dank.
Im Nebenraum klickte es leise. Chayennes Magen zog sich augenblicklich zu einem kleinen, heißen Ball zusammen. Sie kannte dieses Klicken. Das war die Fliegentür! Wenn man die Tür zur Terrasse öffnete, rutschte die Fliegentür manchmal aus der Halterung. Das war auch so angedacht. Schließlich sollte die Fliegentür den Ausgang zum Garten dicht machen, damit keine Insekten ins Haus kamen, wenn man die normale Terrassentür öffnete, um zu lüften. Wenn man die Terrassentür öffnete, blieb die Fliegentür zu. Manchmal schnappte sie aber aus dem Halter, der sie an Ort und Stelle fixierte.
Es war finstere Nacht. Es war schlicht unmöglich, dass ihre Mutter oder ihr Vater die Tür zur Terrasse öffneten. Die schliefen weiter hinten im Gang.
Chayenne hielt den Atem an. Hatte sie sich verhört. Ihre Zimmertür war verschlossen. Es war nicht leicht, etwas im Wohnzimmer nebenan zu hören.
Ich habe mich getäuscht, dachte sie. Oder vielleicht hat der Nachtwind an der Tür gerüttelt und die Fliegentür hat sich von der normalen Tür gelöst.
Aber das ging nicht, wenn die normale Tür verschlossen war. Dann war das Fliegengitter fest in den Türrahmen gepresst. Da klickte nichts.
Chayenne hörte ein neues Geräusch. Diesmal standen ihr schlagartig die Haare zu Berge. Das Geräusch kam von links. Dort war die Tür, die in ihr Zimmer führte. Sie vernahm ein leises Schaben. Jemand drückte die Türklinke herunter.
Ich habe nicht abgesperrt!, dachte sie in Panik. Die Tür ist offen!
Natürlich hatte sie nicht abgesperrt, weil sie dachte, der Schratzl käme durch ihr Fenster, um sie zu holen.
Mit einem leisen Klicken gab das Türschloss nach. Ein kaum wahrnehmbares Scharren war zu hören. Die Tür zu Chayennes Zimmer wurde mit äußerster Behutsamkeit geöffnet.
Chayenne erstarrte. Jemand betrat ihr Zimmer. Sie wusste, wer das war: Der Schratzl! Der Schratzl kam, um sie zu holen und in seinen Keller zu bringen, gerade so wie er es versprochen hatte.
Schrei!, kreischte eine Stimme in ihrem Kopf. Los! Du musst schreien! Schrei wie am Spieß! Dann kommen deine Eltern!“
Chayennes Kehle war wie zugeschnürt. Sie traute sich nicht, zu schreien. Erstens hatte sie Angst, nur ein jämmerliches Krächzen hervorzubringen und zweitens hatte sie die Worte ihres Vaters noch gut im Gedächtnis: „Da ist keiner, Chayenne. Du hast bloß schlecht geträumt.“
Was, wenn sie jetzt los brüllte? Würde ihr Vater angestürzt kommen? Oder würde er sich knurrend im Bett umdrehen und murmeln: „Nicht schon wieder!“ und einfach weiterschlafen.
Vielleicht würden ihre Eltern sie auch hören, aber der Schratzl war schnell genug, sie unter dem Bett herauszufischen und fort zu schleppen, bevor sie in Chayennes Zimmer waren. Sie mussten ja erst mal wach gebrüllt werden.
Von der Tür her näherten sich leise, schleichende Schritte. Chayennes Körper überzog sich mit einer Gänsehaut. Obwohl sie in ihre Decke eingemummelt war, wurde ihr eiskalt. Ihr Herz schlug zum Zerspringen.
Die schleichenden Schritte näherten sich ihrem Bett. Eisiges Entsetzen kroch in Chayenne hoch. Sie musste die Kiefer aufeinander pressen, um nicht vor Angst mit den Zähnen zu klappern.
Im fahlen Licht sah sie zwei Beine vor ihrem Bett auftauchen. Sie erkannte Stiefel mit weichen Sohlen und Hosen, die in diesen Stiefeln steckten.
Nein! Nein!!!
Chayenne machte sich vor Angst ganz steif.
Ich muss mich verstecken! Ich muss mich tief in der Zudecke verstecken! Ich muss meinen Kopf einziehen! Wenn er unters Bett schaut, erkennt er mein Gesicht!
Aber sie war zu keiner Bewegung fähig. Sie zitterte am ganzen Leib. Mit aller Gewalt unterdrückte sie ein Wimmern. Wenn er sie hörte, war es um sie geschehen.
Das Monster war da. Der Schratzl war gekommen. Er stand direkt vor ihrem Bett.
Chayenne hörte ein sanftes Rascheln. Es klang, als ob jemand etwas aus einer Hemdtasche zog. Ein leises Grietschen wie wenn ein Glasfläschchen aufgeschraubt wurde. Sie nahm einen seltsamen Geruch wahr.
Das Betäubungsmittel! Er schraubt die Flasche mit dem Äther auf! Er will mir einen äthergetränkten Lappen aufs Gesicht drücken!
Ein feiner Lichtstrahl glühte auf. Er war so dünn wie eine Nähnadel. Mit einem solch dünnen Lichtstrahl konnte man sich in einem Zimmer umsehen, ohne dass draußen jemand den Lichtschein sah.
Chayenne sah, wie die Person vor ihrem Bett von den Füßen aufwärts erstarrte. Der Schratzl sah im Schein seines dürren Lichtfingers, dass ihr Bett leer war. Damit schien er nicht gerechnet zu haben. Chayenne vernahm ein seltsames Geräusch. Es klang, als drücke sich jemand eine Hand vor den Mund, damit man ihn nicht sprechen hören konnte.
Eine volle Minute lang rührte sich die Gestalt vor Chayennes Bett nicht. Es war nicht das kleinste Geräusch zu hören. Nur Chayenne hörte etwas: Ihren donnernden Herzschlag.
Geh weg!, flehte sie in Gedanken. Bitte lieber Gott, mach dass der Schratzl weggeht.
Papa wach auf! Bitte wach auf! In meinem Zimmer ist ein Ungeheuer! Ich kann nicht rufen, sonst hört er mich und er zerrt mich unter meinem Bett hervor und schleppt mich weg, bevor du kommst! Papa! Bitte!
Eine leise Stimme kroch zu ihr unters Bett, eine Stimme die wie sanftes Papierrascheln klang: „Chayeeeenne! Wo bist du? Wo bist du, meine Kleine?“ Die Stimme klang hohl und knisternd, ein schauerliches, kaum hörbares Wispern. Chayenne erkannte die Stimme. Es war die gleiche, die neben ihr geflüstert hatte, als sie im Abenddunkel zitternd vor Angst auf der Treppe gesessen hatte, damals in der Nacht, als der Schratzl sie durchs halbe Dorf verfolgt hatte.
„Chayenne? Wo ist meine kleine Elfe? Ich bin gekommen, um dich zu holen.“
Der dünne Lichtfinger rutschte vom Bett herunter. Er piekte direkt vorm Bett in den Boden von Chayennes Zimmer. Sie sah die Stiefel des Schratzl. Sie erkannte die dicken, geräuschdämpfenden Sohlen.
Er bückt sich! Er wird unters Bett schauen!
Eisiges Entsetzen schüttelte Chayenne. So leise sie konnte, schob sie sich etwas tiefer unter ihre Decke. Ihr Kopf musste verschwinden, bevor der schreckliche Schratzl unters Bett sah!
„Chayenne?“ knisterte die Stimme des Monsters. „Wo bist du denn, mein kleiner Elfenschatz? Hast du dich versteckt?“
Chayenne verstand jedes Wort, obwohl ihr Kopf jetzt unter der Decke steckte. Eins ihrer Ohren ragte ins Freie und empfing die grausige Knisterstimme. Sie begann lautlos zu weinen. Ströme von Tränen rannen ihr übers Gesicht. Ihr war schlecht vor Angst.
Bitte geh!, flehte sie in Gedanken. Bitte geh weg!
„Chayenne? Komm zu mir! Ich werde eine hübsche kleine Elfe aus dir machen. Chayenne, wo bist du?“
Sie hörte ein leises Knacken. Wie wenn einer sich bückte und sein Knie knackte.
Er bückt sich! Er bückt sich! Er schaut unters Bett! Er wird mich finden! Hilfe!
Chayennes Magen verdrehte sich im Bauch. Er ringelte sich wie ein Wurm am Angelhaken. Sie war starr vor Schreck. Sie wusste, sie musste schreien. Sie musste brüllen wie am Spieß. Aber sie konnte nicht einmal atmen.
„Chayenne!“ knisterte das Schratz-Ungeheuer. „Du bist nicht da! Ich komme, um dich zu holen und du bist nicht da! Böses Mädchen! Nun muss ich woanders suchen, weil mein kleines Vögelchen ausgeflogen ist. Aber ich komme wieder, Chayenne! Keine Sorge. Ich komme wieder.“
Chayenne sah nichts, weil ihr Kopf unter der Decke steckte, aber sie hörte wie sich verstohlene Schritte entfernten. Leise, ganz leise schloss sich ihre Zimmertür. Der Schratzl verschwand. Endlich traute sich Chayenne wieder zu atmen. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Ihr war übel vor Furcht. Aber sie fühlte zuallererst eine unendliche Erleichterung.
Bis sie das gedämpfte Geräusch hörte. Augenblicklich erstarrte sie. Sie hatte etwas gehört. Sie konnte nicht sagen, was es war. Als wäre jemand mit seiner Kleidung an einem Möbelstück hängen geblieben.
Er ist hier! Er ist immer noch hier! In meinem Zimmer! Er hat die Tür von innen geschlossen, damit ich denke, er ist weg! Aber er ist dageblieben und nun lauert er darauf, dass ich unter dem Bett hervorkomme.
Chayenne begann unkontrolliert zu zittern. Sie konnte nicht mehr. Sie war unfähig noch länger still unterm Bett zu liegen. Sie hatte solche Angst, dass sie jeden Moment erbrechen würde. Ihre zugeschnürte Kehle öffnete sich. Chayenne saugte gierig Luft in ihre Lungen. Dann schrie sie.
Sie schrie und schrie. Sie brüllte wie am Spieß.
Als ihre Eltern ins Zimmer gestürmt kamen, fanden sie ihre Tochter zuerst nicht. Dann hörten sie die Schreie und fanden Chayenne unterm Bett. Ihr Vater zog Chayenne unterm Bett hervor.
„Chayenne! Chayenne! Es ist gut“, sprach er tröstend und nahm sie in die Arme.
„E-E-Er war hier!“ schluchzte Chayenne. „D-D-Der Sch-Schratzl! Hier i-i-in meinem Z-Z-Zimmer! Ich habe ihn gesehen und gehört!“ Sie blickte ihren Vater flehend an: „Papa! Ich habe nicht geträumt! Ich war hellwach! Wenn ich nicht auf Polly gehört hätte und unterm Bett geschlafen hätte, hätte er mich geholt!“ Unter Tränen berichtete sie, was sich zugetragen hatte.
Ihr Vater drehte den Kopf zu ihrer Mutter: „Ruf die Polizei, Karin!“
Die Polizei traf wenige Minuten nach dem Anruf ein. Chayenne musste alles noch einma von vorne erzählen. Diesmal behauptete keiner, sie hätte nur schlecht geträumt. Alle hatten sie den leichten Hauch von Äther wahrgenommen, der in ihrem Zimmer in der Luft hing.
„Er kam vom Wohnzimmer aus herein?“ fragte der Polizeibeamte.
„Ich glaube ja“, antwortete Chayenne. „Ich habe dieses Geräusch gehört, als die Fliegentür aus ihrer Halterung heraus geflitscht ist. Da hört man so ein leises Klicken.“
„Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen“, verlangte der Polizist.
Die beiden Beamten sahen sich das Schloss der Terrassentür an.
„Nichts zu sehen“, meinte der Eine. „Wenn wir es mit einem Profi zu tun haben, kann er ein solches Schloss öffnen, ohne Spuren zu hinterlassen.“ Er wandte sich an Chayennes Vater: „Sie sollten an allen Türen Riegel anbringen.“
„Worauf sie Gift nehmen können“, knurrte der. „Von heute an lassen wir nachts die Rolläden runter und ich baue Schlösser an, diese kleinen Riegel, die man nur von innen öffnen kann.“
„Das ist eine gute Idee“, sagte der Polizist. „Solche Maßnahmen helfen tatsächlich. Zwar kann man die überwinden, doch es kostet viel Zeit und vor allem: Es macht Lärm.“
„Der Schratzl kann aber alles mit seiner Zauberkraft öffnen“, sagte Chayenne zaghaft. „Auch Riegel. Die Uroma sagt ...“ Mitten im Satz brach sie ab. Sie starrte auf das kleine Dingelchen auf dem Boden: „Da!“
Alle drehten sich um. Auf dem Teppichboden lag ein kleines, silbriges Ding. Es sah aus wie ein metallenes Boot auf einem Ozean aus Stoff.
Einer der Polizisten holte eine kleine Tüte aus der Tasche. Er praktizierte das kleine Teil hinein und hielt die Tüte gegen das Licht der Wohnzimmerlampe. Es war ein abgebrochener Griff vom Schieber eines Reißverschlusses.
Chayenne erinnerte sich an das leise Geräusch, dass sie gehört hatte. Als ob einer an einem Möbelstück hängen geblieben war. Sie erkannte drei große Buchstaben auf einer Seite des kleinen Schiebergriffs: MMW. Sie kannte die Marke. „My Military Wear“ hieß die. Das waren Militärklamotten, die man im Internet bestellen konnte.
Auch der Polizist erkannte das Kürzel: „Damit steht fest, dass es kein Schratzl war, junge Dame. Oder glaubst du, der Schratzl bestellt seine Kleider bei MMW im Internet?“
Sein Mobiltelefon summte. Der Beamte nahm das Gespräch an. Chayenne sah, wie sein Gesicht die Farbe änderte.
„Verdammt!“ presste der Polizeibeamte hervor. Dann drückte er das Gespräch weg. Er blickte konsterniert in die Runde: „Ein Mädchen ist entführt worden. Keine drei Straßen weiter.“

18.03.2015 10:32 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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