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Stefan Steinmetz
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Die großen Steine(2) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

Die großen Steine - Kapitel 2

"IRL? Geht das nicht ein bisschen weit?" Caro saß vorm Rechner und schüttelte den Kopf. Kein Mensch kannte ihre IRL, ihre Adresse "Im Realen Leben", oder "In Real Life" wie die Amerikaner sagten.
Nur Bettina kannte Caro persönlich. Denn Bettina war wie sie: eine Frau in einem Männerkörper.
Bei aller Offenheit; ihre Adresse hatte Caro stets verschwiegen. Man wusste auf Sellerie, dass sie im Ruhrgebiet am Rand einer großen Stadt lebte - mehr nicht und sie hatte nicht vor, mehr von sich herauszurücken.
Ein neues Fensterchen poppte mitten auf dem Bildschirm auf. Erneute PN von Waldohreule: "Caro? IRL bitte! Du hast fünf Minuten. Dann muss ich los.
Gruß, Martin."
Martin. Sein Realname. Martin Welter. Unter diesem Namen spielte er die Hauptrolle in der Bayerngeschichte "Der Durchgang". Es war ein herzergreifender Roman über einen knapp dreizehnjährigen Jungen in den Siebzigerjahren. Es ging Martin schlecht im Roman. In seiner Familie wurde er schikaniert und verprügelt und in der Schule erging es ihm nicht besser.
Waldohreule hatte viel von sich in diesem Roman preisgegeben. Aus der schrecklichen Hierwelt war er ins Königreich Bayern entkommen, nicht ohne Komplikationen, aber im allerletzten Moment hatte er es geschafft und seine große Liebe gefunden - eben jene Heidi, in die er sich in Kapitel 15 so doll verliebt hatte.
Ein neues Fenster: "Noch vier Minuten! Die Zeit läuft! Trau dich, Caro!"
Das wurde jetzt aber langsam lästig. Caro gefiel dieses Nachbohren nicht.
Aber er hatte stets ein freundliches Lächelsmiley dazu gepackt. Er meinte es nicht böse.
Nächste PN: "Drei Minuten noch!"
Was würde er mit ihrer Realadresse anfangen? Konnte er ihr Schaden zufügen? Warum sollte er das tun? Nein, so ein Typ war er nicht. Aber was wollte er von ihr?"
Neue private Nachricht: "Zwei Minuten jetzt!"
Was konnte jemand mit einer Adresse anfangen? Sie wusste, dass er sich die Adressen Anderer erbeten hatte, dann hatte er zu Weihnachten selbstgemachte Weihnachtskarten verschickt. Er hatte sich selbst geknipst und Fratzen geschnitten. Diese Fotos hatte er dann mittels Weihnachtsmannmütze und weihnachtlichen Klebebildchen in "Postkarten vom Weihnachtsmann" verwandelt und den Leuten zu geschickt. Caro hatte die Bilder zu sehen bekommen - übers Internet. Sie waren witzig. Und irgendwie nett.
Neue PN: "Allerletzte Chance! Noch eine Minute, dann muss ich los! Entscheide dich!"
Caro holte tief Luft. Soll ich oder soll ich nicht. Dann flogen ihre Finger über die Tasten und sie begann zu schreiben: "Caroline Uhlig, Lortzingstraße 46 ..."
Sofort klappte ein neues Fensterchen mit seiner Antwort auf: "Danke. Bis in vierzig Minuten. Adieu."
"Äääh ... wie jetzt?" Caro saß vorm Rechner und hatte ein, gelinde ausgedrückt, komisches Gefühl im Bauch. In vierzig Minuten? Was würde in einer dreiviertel Stunde geschehen? Wollte Martin etwa persönlich bei ihr vorbeischauen? Ohne eingeladen zu sein? Das war nicht gerade das, was sie jetzt gebrauchen konnte.
Dann entspannte sie sich. Martin wohnte in einer Kleinstadt im Saarland. Es war unmöglich, in einer knappen dreiviertel Stunde ins Ruhrgebiet zu kommen. Dazu hätte er ein Flugzeug gebraucht, noch dazu ein verdammt schnelles.
Sie lehnte sich zurück. Was hatte der Kerl vor? Sie musste sich eingestehen, dass sie neugierig war. Was hatte Martin sich ausgedacht?
"Vielleicht eine Pizza?" So was konnte man übers Internet bestellen - in ganz Deutschland. Bezahlt wurde per Kreditkarte.
"Pizza ..." Nun ja ... eine leckere Pizza wäre nicht schlecht. Mit einer Flasche guten Rotweins dazu.
Caro las die Postings in der Taverne. Die Falbkatze war aufgetaucht und debattierte mit Bettina und Kerker-Karl über Leute, die ihren Kindern die fürchterlichsten Vornamen gaben.
"Chantal-Aegide! Stellt euch das mal vor! Wer tut seinem Kind das an?" fragte die Falbkatze.
"Wahrscheinlich ein Schreibfehler", meinte Kerker-Karl. "Die Mutter ist Legasthenikerin."
Lachsmileys ...
Es klopfte an der Tür. Nanu? Besuch?
Die Eule!, schoss es Caro durch den Kopf. Sie schaute auf die Uhr. Exakt achtunddreißig Minuten waren seit Waldohreules letzter PN vergangen.
Dann entspannte sie sich. Wenn, dann war das der Pizzadienst. Vielleicht hatte er sogar bei Fleurop einen Strauß Blumen dazu bestellt.
Sie ging zur Tür: "Hallo? Wer ist da?"
"Ich bins", kam es gedämpft durch die Tür. "Die Eule."
Unmöglich! Der Kerl konnte nicht in weniger als einer Dreiviertelstunde vom Saarland hierher kommen! Dann entspannte sie sich. Sie musste unwillkürlich lächeln. Der kam nicht aus dem Saarland. Der kam von nebenan! Es war Sommer und der gute Martin stand irgendwo auf dem Campingplatz draußen am See. Er konnte leicht mit einem Laptop ins Internet. Vom See waren es nur wenige Kilometer bis zu ihrer Wohnung.
Caro grinste. Natürlich! Hatte die Eule nicht etwas von einem Faltcaravan gesagt? Einen Camplet wollte er sich anschaffen, eins von diesen Dingern, die man hinterm Auto herzog. Unten war es ein Wohnwagen und wenn man es aufklappte, bestand es oben aus Zeltbahnen.
Caro öffnete die Tür. Martin Welter stand davor. Sie kannte ihn von Fotos.
"Nahmt Caro? Hast du ein paar Stunden Zeit?" Er lächelte wie ein Schuljunge. Ihr gefiel das Lächeln.
Sie machte die Tür ganz auf: "Komm rein." Sie führte ihn ins Wohnzimmer, wo der Rechner vor sich hinsummte.
"Ich hab nicht viel Zeit", sagte er. "Nur ein paar Minuten. Wenn du mitkommen willst, mach schnell." Er schaute sie von oben bis unten an: "Fertig angezogen bist du ja schon, hübsches Fräulein."
Caro spürte, dass sie um ein Haar rot geworden wäre. Fräulein! Er machte wohl nur den Versuch, freundlich zu flirten. Er war selber kein Jüngling mehr. Jetzt wo er mitten im Wohnzimmer stand, sah man ihm sein Übergewicht an und sein Gesicht war gerötet.
Er hat Diabetes und dadurch Bluthochdruck.
Soviel wusste Caro. Die Brille, die er trug, sah teuer aus. Wahrscheinlich eine Trifokalbrille. Auf seinem Kopf waren nur noch wenige Haare übrig. Sie waren höchstens vier Millimeter lang. Er trug eine Jeans und ein dünnes grünkariertes Flanellhemd mit hochgekrempelten Armen. Er sah älter aus als auf den Fotos. Älter und auch ein Stück weit müde und krank.
Hatte er nicht geschrieben, dass ihn seine Schichtarbeit körperlich kaputt machte? Zu wenig Schlaf. Immer müde und fertig? Man sah es ihm an.
Sie waren beide ungefähr gleichgroß. Schade, es hätte ihr Spaß gemacht, als Frau ein bisschen zu ihm aufzuschauen.
"Wo willst du mit mir hin?" fragte sie, um die Konversation nicht abreißen zu lassen. Inzwischen hatte sie wieder da deutliche Gefühl, irgendwie im falschen Film zu sein.
Er lächelte, was ihn jünger wirken ließ: "Es wird dir gefallen." Als sie nach ihren Zigaretten griff, wehrte er ab: "Kannst du ruhig dalassen. Glaub mir. Nimm lieber so viel Silber mit, wie du tragen kannst."
"Silber?" Sie stand eindeutig neben sich.
Er nickte: "Die Münzen. Pack dir welche ein. Hast du einen Beutel oder so was?"
Sie nickte. Was sollte das werden? Ein Spiel? Etwas in ihr sträubte sich gegen das, was Martin Welter verlangte. Doch der andere Teil von ihr übernahm die Führung. Wie durch ein umgedrehtes Fernglas sah Caroline sich den Schrank öffnen und Silbermünzen in den schwarzen Samtbeutel tun. Sie nahm nur Silber Maple Leafs, weil die in kleinen Plastikdöschen geliefert wurden, die sie vor Kratzern schützten.
Martin schaute schweigend zu.
Caro hielt ihm den Beutel hin. Er war prall gefüllt: "Reicht das?"
Er lächelte wieder sein Schuljungenlächeln: "Sieht ganz so aus. Gehen wir?"
Sie ging zum Rechner und fuhr ihn herunter, sah gerade noch, wie Kerker-Karl etwas zu Falbkatze sagte. Die bescheuerten Vornamen für Kinder.
Dann waren sie draußen vorm Haus. Martin lotste sie in die Straße, die nach draußen vor die Stadt führte; nicht die Hausserstraße, wo viel Verkehr herrschte, sondern die Ulmenstraße, die durch ein stilles Wohnviertel führte und in einen Feldweg mündete.
"Was, wenn der Kerl ein Spinner ist?" fragte die ängstliche Seite in Caro. "Du kennst den doch gar nicht!"
"Mir egal", antwortete die mutige Seite von Caro. "Das hier wird ein kleines Abenteuer und das ist exakt das, was ich jetzt brauche."
Genau das würde es werden, da war sie sich inzwischen ganz sicher. Der Spaziergang hinaus in die Felder vor der Stadt gehörte dazu. Martin hatte sein Auto irgendwo da draußen geparkt, um sich unterwegs mit ihr zu unterhalten. Dann würde er sie zu seinem Campingplatz kutschieren und sie würden einen angenehmen Abend vor seinem Caravan verbringen. Die Silbermünzen hatte er vorgeschlagen, um sie dort anzuschauen. Wahrscheinlich hatte er welche von seinen eigenen dabei, im Album oder lose. Sie würden Silbermünzen schauen und ein bisschen so tun, als seien sie im Königreich Bayern.
Die Eule war ein Steampunk-Fan. Vielleicht hatte er seinen Caravan entsprechend hergerichtet. Vielleicht hingen Petroleumlaternen mit bunten Lampenschirmen am Vorzelt und er hatte Klappstühle aus Holz im Retrolook parat.
Egal. Es war ein Abenteuer. Ein kleines zwar nur, aber ein Abenteuer. Genau das, was Caro im Moment brauchte. Die Schwermut, die ihr Denken in der letzten Stunde beherrscht hatte, war vollkommen verflogen. Sie war aufgeregt wie ein Schulmädchen.
Sie schritten den holprigen Feldweg entlang, der mitten durch Felder und Wiesen führte. Die untergehende Sonne überpinselte alles mit goldenem Licht. In der Ferne sah sie die Landstücke, die von dichten Hecken eingefasst waren. Es gab viele davon inmitten der bewirtschafteten Felder. Es waren Brachflächen. Die Landwirte erhielten EU-Gelder dafür, dass sie Land unbewirtschaftet ließen. In den Hecken lebten seltene Vögel oder anderes geschütztes Getier.
"Ich habe keinem was von meinem Lottogewinn erzählt", fing Martin ansatzlos an.
Sie schaute zur Seite: "Lotto?"
Er nickte: "Sechzehn Millionen Eier. Vor knapp zwei Jahren." Nun lächelte er: "Richtig fett was abgestaubt habe ich. Bin ganz still geblieben und schnellstens von meiner Heimatstadt weggezogen - raus aufs Land. Ich habe mir meinen Traum vom Selbstversorgerhof erfüllt. Gibt noch viel Arbeit, aber die ersten Beete im Bauerngarten habe ich, dazu Treibhäuser und sogar meine geliebte 600mm-Feldbahn. Vorerst nur mit einer kleinen Diesellok, aber ich hatte vor, mir eine Dampflokomotive zu besorgen."
Hatte vor ...
"Bin leider nicht so fit, wie ich es gerne wäre", fuhr Martin fort. "Der Diabetes macht mir zu schaffen. Bluthochdruck und Neuropathie an den Füßen. Das wird immer gefühlloser. Eine unangenehme Sache. An den Händen fängt es auch schon an. Dazu Spreizfüße. Meine Füße sind hin. Ohne Einlagen kann ich nicht mehr laufen. Dazu noch miese Augen, Probleme mit dem Knie und der Hüfte, das ganze Programm." Er fuhr sich über den spärlich behaarten Kopf: "Auf den Hubschrauberlandeplatz könnte ich ebenfalls verzichten."
Er machte eine wegwerfende Geste: "Aber was solls? Ansonsten war alles okay. Und es war wirklich gut, dass ich diese Schnapsidee in die Tat umsetzte. Hat ganz schön was gekostet, das kann ich dir sagen. Es war völlig plem-plem, aber ich wollte es unbedingt machen."
Sie näherten sich einem der von Hecken eingefassten Wiesenstücke. Martin bog in einen Weg ab, der sie genau dorthin bringen würde: "Ist nicht mehr weit."
Caro verstand. Im Lotto gewonnen. Martins Faltcaravan stand nicht auf einem Campingplatz. Er hatte dieses von Hecken umgebene Stück Land von einem Landwirt gemietet, ganz privat. Ein Stück Land von der Größe eines Fußballplatzes.
Dort steht sein Caravan, überlegte sie. Wir werden es uns im Vorzelt gemütlich machen und zusammen auf den Sonnenuntergang anstoßen.
Lottogewinn. Vielleicht hatte er einen Flachbildfernseher dabei und würde ihr Filme zeigen, irgendso ein Zeugs über Steampunk, das er aus dem Internet gefischt hatte. Oder Dokus über Luftschiffe. Er war verrückt nach Zeppelinen, eine Leidenschaft die Caro mit ihm teilte.
Ihr kleines Abenteuer begann ihr immer besser zu gefallen.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Die Eule stammte von Sellerie, von der Seilerei. Martin interessierte sich für Fesselspielchen. Auch wenn er keine Geschichten darüber mehr zum Besten gab.
Caro schluckte. Konnte es sein, dass der Gute ihr gleich ein Paar Handschellen präsentierte? Oder das eine oder andere Seil? Bei dem Gedanken bekam sie heiße Ohren.
Er lief mit ihr zu dem mit Hecken umwachsenen Landstück. An einer Stelle wuchsen die Büsche nicht ganz so dicht und dort führte er Caro hindurch.
Dahinter befand sich eine Wiese, auf der niedriges Gras wuchs. Die untergehende Sonne vergoldete alles. Es war ein zauberischer Platz. Einfach wunderschön.
Aber es gab keinen Faltcaravan.
Stattdessen sah Caro das Ding da stehen, mitten auf der Wiese, gleich vorne wo sie hereingekommen waren.
"Uff!" Mehr brachte sie im ersten Moment nicht heraus. Sie hatte mit allem gerechnet, aber damit nicht.
D - E U L E stand in großen Buchstaben auf der Seite des Dings. Es war groß und wirkte gedrungen und kraftvoll, wie es da auf der Wiese hockte.
"Das ist ja nicht möglich!" entfuhr es Caro. "Das ... das ist eine Focke Wulf 190!"
Die Flugzeugspiele im Computer. Wo war das gewesen. Die Seite hieß www.dieIrren.de und es gab sie nur in ... Nachtkind. Genau. In seinem Roman Nachtkind hatte die Eule es zum ersten Mal beschrieben. Die Freunde trafen sich abends im Internet auf der Irrenseite und flogen in virtuellen Kampfflugzeugen des Zweiten Weltkriegs umher und knallten sich gegenseitig ab. Von daher kannte sie das Flugzeug, dass in der Abenddämmerung vor ihr stand. "Ist das eine echte?"
Martin schüttelte den Kopf: "Kein echter Warbird. Da kommt einer ja kaum ran. Nee, dass ist eine Art Nachbau." Er griente: "Allerdings nicht detailgenau." Er führte sie zu dem Flugzeug. Vor der in den Abendhimmel ragenden Schnauze des Dings dräute eine riesige dreiflügelige Luftschraube.
Die misst mindestens drei Meter im Durchmesser, dachte Caro ehrfürchtig.
Martin klopfte auf die Schnauze des Fliegers: "Da steckt ein Vierzehnzylinder-Doppelstern drunter, genau wie in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts." Sein Lächeln verbreiterte sich: "Aber es ist ein Dieselmotor. Ich schätze, ich habe das einzige Dieselflugzeug der Welt."
"Diesel?" Nun musste auch Caro lächeln. Steampunk hatte eine Unterart, die sich Dieselpunk nannte. Im Steampunk gab es nur Dampfmaschinen, beim Dieselpunk gab es auch Dieselmaschinen, aber keine Benzinmotoren. Die Eule hatte eine Menge Geld für einen außergewöhnlichen Flieger ausgegeben.
"Es war bescheuert, das Dingens anzuschaffen", sagte Martin. "Aber ich musste es einfach haben! Ich hab den Flugschein gemacht und dann etliche Flugstunden auf dieser Kaffeemühle absolviert. Ein geiler Kahn, das kann ich dir sagen."
"Hier rauf", bat er und machte ihr eine Räuberleiter mit den Händen.
Caro schluckte. Der wollte wirklich mit dem Ding fliegen!
Wie sonst?, dachte sie. Er ist damit her geflogen. Deswegen ist er so fix da gewesen.
Sie kannte sich nicht exakt aus, aber sie glaubte sich zu erinnern, dass eine FW 190 über sechshundert Stundenkilometer schnell war.
Sie zögerte. War das jetzt nicht ein bisschen zu viel Abenteuer? Was hatte die Eule vor?
Sie fliegt mit mir ins Saarland, zu ihrem tollen Selbstversorgerhof und dort hat die Eule ein Haus und ein Flügel davon ist total im Stil von Steampunk eingerichtet, mit alten viktorianischen Möbeln, holzverkleideten Wänden, Gaslaternen aus Messing und so weiter.
Caro ließ sich von Martin auf die Tragfläche des Vogels helfen. Er setzte mit einem Sprung nach, der sehr unelegant wirkte. Er plumpste mit dem Bauch auf die Tragfläche und zog sich hoch. Er wirkte wie ein Seeelefant, der sich aus dem Wasser hievte.
"Die Scheiß-Hüfte", brummte er, als er ihren Blick bemerkte. Er machte sich an der großen Kanzel aus Plexiglas zu schaffen und schob sie nach hinten. Sie sah den Pilotensitz und das Armaturenbrett davor, unten die Fußpedale und den Steuerknüppel. Das kannte sie von Fotos und aus Filmen über den Zweiten Weltkrieg.
Was sie allerdings noch nie gesehen hatte, war der kleine Notsitz hinterm Pilotensitz.
"Der Prinzessinnensitz", sagte Martin. "Normalerweise befindet sich dort ein Zusatztank. Hab ich aber ausgebaut und den Sitz rein gequetscht. Ist verdammt eng, aber es dauert ja nicht lange. Setz dich , Caro."
Ihre Knie waren erstaunlich weich, als sie sich auf den Sitz manövrierte. Es war eng, aber sie war im Gegensatz zur Eule nicht füllig und saß recht bequem.
Vor ihr ließ sich Martin in den Pilotensitz plumpsen. Er zog die Plexiglashaube nach vorne und schloss sie. "Schnall dich an", bat er und legte selbst seine Sicherheitsgurte an. Caro tat es ihm nach. Na wenn das kein Abenteuer war! Ein Flug in die untergehende Sonne. Das war besser als auf einem Campingplatz zu hocken. Ganz gewiss.
Vorne betätigte Martin einen Schalter. Aus der Flugzeugnase ertönte ein dumpfes Jaulen, das sich schnell zu hellem Wimmern steigerte.
"Das ist ein ganz besonderer Vogel", erklärte die Eule. "Hinter dem Diesel steckt ein dünner scheibenförmiger Generator. An den Motor angekuppelt, erzeugt er den Strom für meine Elektrokanonen." Er zeigte nach draußen, wo auf jeder Seite zwei Rohre aus den Tragflächen ragten: "Railguns. Sie verschießen die Geschosse mittels elektrischer Felder. Nichts Neues aber es war schwer, sie zu bekommen. In Amerika habe ich in der Wüste ein paar mal wirklich damit geschossen. Die gehen echt geil ab, eh.
Der Geno lädt auch Batterien und große Kondensatoren mit Elektrizität auf. Zum Starten kann ich ihn mit Strom aus diesen Batterien als Elektromotor betreiben. Das ist das Jaulen da vor uns. Wenn die Drehzahl stimmt, kuppel ich den Diesel ein und er wird von der Schwungkraft des Scheibengenerators angeworfen."
Er reichte ihr etwas nach hinten: "Zieh das mal an. Es wird gleich ziemlich laut." Es war ein kleiner Kopfhörer mit einem winzigen Mikrofon. Caro zog ihn an. Vorne tat die Eule das Gleiche.
"Kannst du mich hören, Caro?" fragte er. Seine Stimme klang deutlich und klar verständlich aus den Kopfhörern.
"Ich höre dich gut und deutlich", antwortete Caro.
"Gut", meinte er. "Denn jetzt geht es los." Er machte irgendetwas an den Schaltern seines Cockpits und plötzlich erwachte direkt vor ihm ein brüllendes Ungeheuer. Die Schraube drehte sich ein paarmal lustlos, dann folgte eine Serie von Knallen und dann tobte der Dieselmotor los.
Es war, wie er gesagt hatte. Es war laut.
Gleich darauf wurde es noch lauter, als Martin dem Motor die Sporen gab. Mit einem Ruck bewegte sich das Flugzeug vorwärts. Sie rumpelten über den unebenen Boden. Vorne orgelte der riesige Motor. Das Flugzeug beschleunigte rasant. Schon kamen die Hecken auf der anderen Seite der Wiese in Sicht. Sie sausten genau darauf zu. Caros Magen zog sich ein Stück weit zusammen. Dann gab es einen sanften Ruck und die Erde blieb unten ihren zurück. Ein weiterer Ruck.
Das Fahrwerk. Er hat das Fahrwerk eingezogen. Sie schaute durch die Plexiglashaube nach draußen.
Sie stiegen in den orangefarbenen Abendhimmel. Drunten war alles mit flüssigem Gold übertüncht. Ja, das war ein Abenteuer, ganz zweifellos. Allein dieser Flug war schon Abenteuer genug.
"Es dauert nicht lange", tönte es aus Caros Kopfhörern. "Das ist ja das Praktische: dass es ganz nah bei deiner Heimatstadt ist. Deswegen habe ich dich auf Sellerie angeschrieben. Dachte mir, du würdest gerne mitkommen."
Mitkommen. Wohin? Wo fliegst du hin, Waldohreule?
"Wir sind da", sagte Martin. "Nicht erschrecken. Beim Stürzen macht die Kaffeemühle einen Höllenlärm und sie schüttelt sich wie ein nasser Hund. Ist aber alles unter Kontrolle."
Stürzen ... was meinte er mit stürzen?
Sie war gestürzt. Mit dreizehn Jahren. Mit dem Fahrrad. Das Knie hatte sie sich aufgeschlagen, wirklich böse aufgeschlagen. Ihr Kumpel Andreas neben ihr: "Mensch hör auf zu flennen wie ein Mädchen! Stell dich nicht so an!"
Aber sie war ein Mädchen! Innerlich zumindest.
Plötzlich begann sich der Horizont zu drehen. Caros Magen drehte sich mit. Martin hatte die Maschine auf den Rücken gelegt und nun stellte sie sich auf den Kopf. Die Nase des Flugzeug zeigte auf die Erde. Sie fingen an mit sich ständig steigernder Geschwindigkeit zur Erde hinab zu stürzen.
Das hat er damit gemeint! Stürzen! Wir sind im Sturzflug! Äähm ... Alter? Das geht jetzt ein bisschen weit, ehrlich. Würdest du das bitte lassen? Es reicht mit Abenteuer.
Das Flugzeug zitterte und bockte.
"Die Kaffeemühle macht geradeaus und voll aufgeladen siebenhundertzwanzig über Grund", tönte es aus den Ohrhörern. Die Stimme der Eule war gelassen. "Im Sturzflug wird sie noch ein bisschen schneller. Keine Angst, die Schraube ist auf Sturzflug gestellt und die Sturzflugbremsen sind raus. Brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das sieht nur so aus, als ob wir uns gleich in den Erdboden bohren würden. Die Koordinaten stimmen genau. Wir kommen im richtigen Winkel runter und mit dem richtigen Tempo."
"Nein!" rief Caro. Wie weit war es bis unten? Ein Kilometer? Einen halben? Vierhundert Meter? Sie stürzten rasend schnell abwärts. Der Motor brüllte. Die Maschine bebte.
Nicht! Bitte nicht! Ich will doch meine Gartenwirtschaft! Meine Katze! Die OP! Die Katzen-OP-in-der-Gartenwirtschaft!"
"Keine Bange", sagte Martin. "Alles unter Kontrolle."
Ein Irrer! Ein Wahnsinniger! War gekommen, um sie mit in den Tod zu reißen. Weil ihm sein Scheiß-Diabetiker-Leben auf die Nerven ging. Schluss machen! Und mal eben nebenbei einen anderen Menschen mit in den Tod reißen!
"Nein!" wimmerte Caro. Der Erdboden füllte ihr ganzes Gesichtsfeld aus. Felsen! Da unten waren Felsen und Bäume. Da waren ...
Motorgebrüll. Laut. So laut. Der Erdboden ... Der Erdboden!!!
Caros Magen zog sich zu einem heißen kleinen Ball zusammen. Ihr gesamter Körper verkrampfte sich vor Angst.
Meine Katze! Meine Katzekatzekatzegartenwirtschaftskatzekatzen-OP-OP-Katzekatze!!!"
Das Flugzeug schlug auf den Boden auf.
Es gab eine Art Platschen. Es klang als wenn man im Freibad bei den Sprungbrettern unter Wasser schwamm und jemand neben einem ins Wasser einschlug - ein gedämpftes Platschen. Nur das dieses Platschen kein bisschen gedämpft war und es war lauter und größer, viel größer.
Die Abendsonne war schlagartig weg. Sie rasten durch undurchsichtige samtene Dunkelheit. Nur der Mond leuchtete in der Düsternis. Caro erkannte tief drunten bleigraue See. War das ein Ozean? Oder ein Sumpf? Standen da Bäume? Sie erkannte es nicht in der Finsternis dort draußen vor der Plexiglaskanzel.
Der Motor der FW 190 orgelte . Der Diesel nagelte laut. Es klang wie ein Dieselmotor nach einem Kaltstart im Winter.
Sie schienen durch eine Art riesige Höhle zu fliegen. Weit hinten schien der Mond. Er wirkte seltsam bleich. Er war pockennarbig und ähnelte den Bildern, die Caro vom Planeten Merkur gesehen hatte. Das war es nicht allein, was ihre Gedanken total durcheinander brachte.
Es waren zwei! Es waren zwei Monde.
Das kann nicht sein! Das kann einfach nicht ...
"Fass keine Metallteile an", sagte die Eule. "Hier drinnen ist es verdammt kalt. Sibirien ist ein Dreck dagegen."
Caro schaute zum Rand der Plexiglashaube. Sie sah dort Eisblumen entstehen. Sie hörte den Diesel nageln. Kalt. Draußen war es kalt. Bitterkalt. So kalt, dass der Dieselmotor immer wilder nagelte. Sie spürte, wie die irrsinnige Kälte sich in den Innenraum fraß.
Plötzlich war da etwas Gigantisches direkt vor ihnen.
"Scheiße!" Martin fluchte und legte die Maschine auf die Seite. Der Boden kippte unter ihnen weg. Es sah aus als stünde das Flugzeug auf seiner rechten Flügelspitze. Caros Magen wurde in ihre Kniekehlen hinunter gezogen. Sie schossen an etwas Riesigem vorbei.
"Wieder so ein dämlicher Saurier oder wie die Viecher heißen", sagte die Eule. Er klang verdrießlich. "Noch einer! Fuck!" Wieder ein wildes Flugmanöver.
Caro war starr vor Entsetzen. Saurier? Das waren keine Saurier! Gegen diese gigantischen Dinger war ein Saurier etwas wie ein Bauernhoftier auf einer Modelleisenbahnanlage.
Sie fegten an einer dunkelgrauen Säule vorbei. Durchmesser gut zwanzig Meter und himmelhoch.
Ist das ein Bein? Himmel nochmal! Das ist ein Bein! Das Bein eines Wesens!
Martin lenkte das Flugzeug höher hinauf. "Es werden bei jedem Durchflug mehr", sprach er in sein Mikrofon. Er klang völlig gelassen, als ob sie eine Sonntagstour machten. "Der Alte hat es gesagt. Weil sich das hier bald schließt. Dreckbiester!"
Vor ihnen erschien etwas Fliegendes. Es war riesig.
Was ist das? Ein Segelschiff?
Das Flugzeug ruckte. Caro hörte rhythmisches Klopfen. Tock-o-tock-o-tock! Vier leuchtende Spuren sausten aus den Flügelvorderkanten vorwärts. Martin schoss mit den Elektrokanonen. Das riesige fliegende Ungeheuer leuchtete für einen Moment hell auf. Caro sah eine dämonische Drachenfratze. Dann zerrissen mehrere lautlose Explosionen das Flugwesen. Martin drehte zur Seite ab. "Gut, dass die Kanonen geladen sind."
Er schaute kurz über die Schulter zu ihr: "Wir sind gleich durch. Hab keine Angst. Gleich haben wir es überstanden. Ist halt ein bisschen eklig, weil wir im negativen Sturzflug rauskommen. Auf dem Rücken liegend. Brauchst dir keine Gedanken machen. Ich habe über sechshundert Flugstunden auf der Kaffeemühle."
Schon legte sich das Flugzeug auf den Rücken. Abschwung. Die bleigraue Dunkelheit gab den Blick auf bleigrauen Boden frei. Sie rasten darauf zu.
Nicht schon wieder!, konnte Caro noch denken. Dann schlugen sie auf.
Wieder platschte es, nur dass es diesmal irgendwie rückwärts platschte.
Gleißend helles Licht blendete Caros Augen. Da war Blau, ganz viel Blau. Und Grün, ganz viel Grün. Das Blau war der Himmel und der war definitiv auf der falschen Seite des Flugzeugs. Direkt vor ihren Augen raste der grünbewachsene Erdboden auf die Kanzel des Flugzeugs zu.
Caro stieß einen Schrei aus.
Negativer Sturzflug. Wir sind irgendwo in Rückenlage raus gekommen. Wir stürzen ab!
Aber sie stürzten nicht ab, auch wenn es so aussah, als wolle die Luftschraube die unter ihnen dahin rasenden Baumwipfel absägen. Ein Ruck und alles drehte sich. Das Flugzeug flog richtig herum und schraubte sich mit orgelndem Dieselmotor in einer langgezogenen Kurze aufwärts. Drunten blieben Wiesen und Waldstücke zurück. Ein knallblauer Himmel war über ihnen, ein Himmel so hoch wie Caro noch nie einen Himmel gesehen hatte.
Knallblau? Wo hatte sie das gleich nochmal gehört? Der Himmel war ... er war nicht himmelblau ... nicht azurblau ... dieses Blau war anders, irgendwie ...
Kobaltblau. Sie hatte es gelesen, irgendwo ...
Das Flugzeug machte irgendetwas. Caros Magen versuchte in ihre Kehle hinauf zu wandern. Dann begriff sie: sie befanden sich im Sinkflug. Unter sich sah sie einen breiten Fluss, der durch eine weitläufige Landschaft mäanderte. Weit in der Ferne erblickte sie einen See von riesigen Ausmaßen. Drunten sah sie kleine Dörfchen inmitten von Äckern und Wiesen.
Das Flugzeug hielt auf eine riesenhafte Grünfläche zu. Hallen standen dort, Hallen so groß dass man Dinosaurier in ihnen hätte unterbringen können.
Caro fiel die Kinnlade herunter. Aus einer der Hallen wurde gerade ein Dinosaurier hervorgeholt. Es war eine Art Ichtyosaurus, ein Schwimmsaurier mit dem Körper eines Orcas. Er glitzerte silbergolden im Licht der hochstehenden Sonne.
Ein Luftschiff! Ein Zeppelin! Und was für einer!
Noch nie hatte Caro ein dermaßen riesiges Luftschiff erblickt; höchstens in alten Filmen aus den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Das Schiff dort unten war so groß wie die Hindenburg.
Sie sanken tiefer. Mit leisem Klacken klappte das Fahrwerk aus.
Ich bin im falschen Film, dachte Caro. Ich bin wirklich und wahrhaftig im falschen Film!
Mit einem sanften Ruck setzte die FW 190 auf und rollte über ebenen Grasboden auf eine der Hallen zu. Direkt davor kam sie zum Stehen. Der Motor erstarb mit einem letzten Gurgeln. Die Schraube ruckte noch einmal ein Stückchen von links nach rechts, dann blieb sie stehen.
Martin entriegelte die Plexiglaskanzel und schob sie nach hinten. Er löste seine Sicherheitsgurte und stand auf: "Willkommen im Königreich Bayern. Wir haben vierzehn Tage zur Verfügung." Er half Caro beim Aufstehen: "Komm putzige Lady. Stürzen wir uns ins Vergnügen."
Sie ließ sich von ihm auf die Tragfläche lotsen und sprang ihm hinterher auf den Grasboden. Ihr wurden die Knie weich. Sie stand total neben sich. Sie war wirklich im falschen Film. Das konnte doch nicht wahr sein! Unmöglich!
Martin reichte ihr ein paar kleine Silbermünzen: "Hier. Für die Leihgebühr. Wir holen uns Leihklamotten. Die gibts an jedem Lufthafen. Komm!" Er fasste sie an der Hand und zog sie hinter sich her.
Caro warf einen Blick nach links. Das große Luftschiff war jetzt aus der Halle heraus. Sie sah eine Rauchfahne aus seinem Rücken aufsteigen. Sie hörte im Innern des Schiffs eine Dampfmaschine wummern und zischen.
Ein Gefühl von totaler Unwirklichkeit ergriff sie.
Martin führte sie zu einem kleinen Gebäude neben der Luftschiffhalle. Dort gab es zwei Türen. Er schubste sie nach links: "Du gehst da rein und ich rechts. Such dir aus, was dir gefällt. Später kümmern wir uns um bessere Klamotten. Für den Anfang wird es reichen."
Er wandte sich nach rechts und öffnete die Tür.
Caro lief nach links. Sie bewegte sich wie in Trance. Sie stakste dahin wie eine Aufziehpuppe.
Ich bin im falschen Film! Das hier kann nicht wahr sein. Sie öffnete die linke Tür und betrat den Raum dahinter. Dort fand sie jede Menge unterschiedlicher Kleidungsstücke in allen Konfektionsgrößen, die man gegen eine kleine Gebühr ausleihen konnte. Martin hatte sie in die Damenabteilung geschickt.

31.10.2014 15:21 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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