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Stefan Steinmetz
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Dabei seit: 10.02.2006
Beiträge: 1737

Der Auszug aus Heimstadt(5) Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       IP Information Zum Anfang der Seite springen

14.
Schorsch, der Dorfschulze von Seeweiler saß an seinem Schreibtisch und trug etwas in die Chronik des Dorfes ein. Dazu benutzte er die große Majuskelschrift.

Schorsch, der Dorfschulze von Seeweiler:

GUT, DASS DER FRUEHLING ENDLICH GEKOMMEN IST; DER LETZTE WINTER WAR HART UND HAT EIN PAAR ALTE LEUTE UND KINDER DAS LEBEN GEKOSTET. DOCH NUN GRUENT UND BLUEHT ALLES UND DIE NATUR ZEIGT SICH VON IHRER SCHOENSTEN SEITE. WIR ARBEITEN DEN GANZEN TAG AUF DEN FELDERN; DIE ERNTE WIRD GUT WERDEN DIESES JAHR.
UNSER DORF SEEWEILER AM GROSSEN SEE MIT DEM MAHLSTROM ZAEHLT NUN DREIHUNDERTEINUNFUENFZIG EINWOHNER. LANGSAM ERREICHEN WIR EINEN BESCHEIDENEN WOHLSTAND.
WENN MAN BEDENKT, WIE SCHWER ES UNSERE VORFAHREN HATTEN, DIE VOR FAST ZWEIHUNDERT JAHREN HIERHERKAMEN!!!
DAMALS GLAUBTE MAN NOCH VIELERORTS, DIE STRAHLUNG UM DIE RUINENSTAETTE HOMBOURCK SEI ZU HOCH, UM EINE BESIEDLUNG ZUZULASSEN, ABER UNSERE VORFAHREN HATTEN BLOSS GEGEN DIE RAUHE NATUR ZU KAEMPFEN.
AUS DEM HEISSEN GEBIET IM OSTEN KOMMEN OFT MUTIERTE RAUBTIERFORMEN HERVOR UND DRINGEN IN UNSER SIEDLUNGSBEGIET EIN. WIR MUESSEN SIE DANN VERTREIBEN MIT UNSEREN PRIMITIVEN MITTELN.
TROTZDEM GIBT ES JETZT MEHRERE KLEINE SIEDLUNGEN IN DER UMGEBUNG.
IM SUEDEN LIEGEN DIE GRENZLANDHOEFE SCHWARZACKER UND WEBERHEIM, IM NORDEN LIEGT NOINKIRSCHEN, VON WO AUS MAN INS PIONIERLAND AM HUNDSRUECKEN GELANGT.
DAS BESTE, WAS SEEWEILER PASSIEREN KONNTE, WAR DIE EROEFFNUNG DER INGENIEURSGILDE AUS LUTVIGSHAVEN: NACH DER STRECKE LUTVIGSHAVEN SAHRBROCKEN SOLL NUN EINE WEITERE BAHNLINIE GEBAUT WERDEN. VON LANTSTUUL AUS SOLL EINE SOLARBAHNLINIE DIREKT AN SEEWEILER VORBEI UEBER BIERMASENS NACH KARLSRUNE FUEHREN, DER HAUPTSTADT DER LIGA, ZU DER SEEWEILER SEIT DREI MONATEN GEHOERT.
DIE BAHN WIRD SEEWEILERS BESCHEIDENEN WOHLSTAND SCHLAGARTIG ERHOEHEN.
NICHT ZU VERGESSEN DIE SACHEN, DIE MAN MIT DER SOLARBAHN HIERHER TRANSPORTIEREN KANN!
ZUM BEISPIEL SOLARTRAKTOREN, WINDGENERATOREN, SOLARZELLENBETRIEBENE ARBEITSGERAETE, BATTERIEN UND VIELES MEHR.
DANN SIND WIR NICHT LAENGER AUF DIE BESCHEIDENEN ELEKTRIZITAETSLIEFERUNGEN DER BLEICHEN LEUTE ANGEWIESEN, DIE UNTER DEM MAHLSTROM IN GROSSEN UNTERIRDISCHEN HOEHLEN LEBEN. BISLANG MUSSTEN WIR FUER EIN BISSCHEN HEIZUNGSENERGIE UNMENGEN AN METALLERZEN FUER DIE UNTERIRDISCHEN HERANSCHAFFEN.
DAS WIRD BALD EIN ENDE HABEN!
DANN SOLLEN DIE MAL ZUSEHEN, WOHER SIE IHRE ROHSTOFFE BEKOMMEN!
ICH HABE MANCHMAL DEN VERDACHT, DAS DIE LEUTE DA UNTEN NICHT FREIWILLIG BLEIBEN, SONDERN VON IHREN ANFUEHRERN DAZU VERLEITET WERDEN, INDEM SIE IHNEN LUEGEN AUFTISCHEN. ICH VERSTEHE NICHT, WARUM SIE NICHT GEGEN DIESE SELTSAME PRIESTERSCHAFT REVOLTIEREN! WIE KANN MAN NUR FREIWILLIG IN DUESTEREN HOEHLEN LEBEN! UNSERE VORFAHREN VERLIESSEN SCHON VOR VIERHUNDERT JAHREN DIE WOHNKAVERNEN IN DEN VOSGESBERGEN ACHTZIG MEILEN SUEDLICH VON HIER UND WANDERTEN STUECK FUER STUECK WEITER NACH NORDEN.
IN SAHRBROCKEN STIESSEN SIE AUF DEN VORPOSTEN DER LEUTE DER LIGA, DIE VON LUTVIGSHAVEN AUS DORTHIN KAMEN. SEITDEM HERRSCHT REGER HANDELSVERKEHR. DAS LAND IM SUEDEN IST REICH AN EISENERZ UND STEINSALZ. ZUR BEFOERDERUNG DIESER STOFFE HAT MAN DEN URALTEN KANAL DER VON SAHRBROCKEN AUS BIS ZUM RAINFLUSS FUEHRT, WIEDER RESTAURIERT UND HEUTE VERKEHREN SOLARSCHIFFE UND DAMPFBOOTE DARAUF.
SEIT SICH DIE BEIDEN SIEDLUNGSMITTELPUNKTE ZUR LIGA ZUSAMMENSCHLOSSEN, WERDEN DIE KLEINEN PIONIERSIEDLUNGEN MIT STRASSEN, SOLARBAHNEN UND SCHIFFFAHRTWEGEN ERSCHLOSSEN UND DER WOHLSTAND DER MENSCHEN STEIGT.
WIR SIND MITTLERWEILE EIN VOLLWERTIGES MITGLIED DER LIGA GEWORDEN UND UNSERE AELTEREN KINDER STUDIEREN AUF DEN GILDENSCHULEN IN LUTVIGSHAVEN, KARLRUNE UND SAVERNE.
ES IST SCHOEN, HIER DRAUSSEN SO NAHE AN DER WILDNIS ZU LEBEN.
DAS LEBEN IST HART ABER ES GIBT EINEM AUCH VIEL. DESHALB KANN ICH DIE LEUTE AUS DEN HOEHLEN NICHT VERSTEHEN. NA JA, VIELLEICHT KOMMEN SIE JA EINES SCHOENEN TAGES UNTER DER ERDE HERVOR. MAN WIRD SEHEN, WAS DIE ZEIT BRINGT.




15.

Schon früh am Morgen brachen Derk, Timo und Sanja zu ihrem Frühlingspicknick auf. Sie verließen das Wohndorf in südwestlicher Richtung auf der Hauptstraße.
Schon zu dieser frühen Stunde es war erst neun Uhr herrschte Leben im Dorf. Im großen Tanzgarten bei der Papiermühle spielten Drugar, Marb und Brett auf ihren Tröten, Zimbeln und Trommeln und an die dreißig Leute saßen an langen Tischen und tranken Gerstenbier. Dazu aßen sie fette Würste mit Gemüse. Ein paar junge Leute tanzten. Auch in den Gärten kleinerer Häuser wurde bereits feste gefeiert. Die Erwachsenen winkten den aus dem Wohndorf laufenden Kindern und Jugendlichen fröhliche Gr?e zu und steckten ihnen Würste, Brote, gebackene Fische in Dosen und süßes Gebäck zu .
Hinter dem Dorfrand bogen die drei Freunde auf Nebenwege ab in Richtung Sektorrand. Sie wollten zur Südwestwiese, wo der Menhir stand, ein kristalliner Monolith, den die Bauingenieure damals beim Bau von Sektor 7 wegen seines schönen Aussehens hatten stehen lassen.
Timo und Sanja merkten schnell, daß etwas nicht stimmte mit Derk. Sie sprachen ihn darauf an.
"Nicht hier!" raunte er leise. "Wartet, bis wir am Sektorrand sind. Dann erzähle ich euch alles." Immer wieder blickte er sich mißtrauisch um, ob ihnen keine Leute folgten. Er konnte keine Zuhörer gebrauchen, bei dem, was er seinen beiden Freunden mitteilen wollte.
Sie kamen an den Sonnenblumenfeldern vorbei. Die Sonnenblumen dienten zur Herstellung von Öl. Aus dem Öl entstanden Speiseöl und Margarine aber auch Schmieröl für die Lager der Maschinen im Inkomp. Außerdem stellte man daraus Kunststoff her.
Rechterhand lagen die Gemüsefelder, auf denen verschiedene Kohlarten und Bohnen angebaut wurden.
Am zweiten Rundkanal lagerte eine größere Gruppe Kinder am Wasser und vergnügte sich. Einige lagen faul auf den mitgebrachten Decken, andere schlugen sich den Bauch mit Leckerbissen voll. Ein paar spielten Wurfball.
Sanjas neunjährige Schwester Ynette und Reeps, der achtjährige Bruder von Timo waren bei der Gruppe. Sie winkten Sanja, Timo und Derk frohgelaunt zu.
Hinter dem zweiten Ringkanal kamen die unteren Viehweiden und rechts vom Weg hinter dem Verbindungskanal der Flickenteppich aus Mais , Weizen , Roggen und Gerstefeldern.
Schließlich endete der breite Weg am äußeren Ringkanal und mündete in die Südwestwiese.
Zu Derks Befriedigung war um diese frühe.Zeit noch niemand hier, um zu picknicken. Sie schritten über den weichen, nachfedernden Boden der Wiese gelangten zum Menhir. Der drei Meter hohe Sandsteinbrocken mit den schillernden Kristalleinschlüssen stand verlassen im warmen, weichen Licht der Sonnenlampen.
Die drei Freunde machten es sich bequem. Sie breiteten die mitgebrachte flauschige Wolldecke mit dem braungelben Karomuster am Boden aus und fielen über das Essen her.
"Was wolltest du uns denn so Wichtiges erzählen, daß du dich im Wohndorf nicht getraut hast, damit herauszurücken?" wollte Timo wissen. Er zog seine gelben Stoffschuhe aus und warf sie in hohem Bogen hinter sich.
"Lasst uns erst was essen", nuschelte Derk mit vollem Mund. Er kaute an einem Brötchen mit geräucherter Forelle.
Sanja und Timo bezähmten ihre Neugier und aßen in Ruhe fertig. Nach dem Essen legte Derk sich auf den Bauch und starrte mit steinernem Gesicht ins Gras. Sanja kniete sich neben ihn und legte ihm die Hand auf den Arm.
"Derk, was ist denn los mit dir?" fragte sie besorgt.
Derk hob den Kopf und sah ihr in die Augen. "Es gibt keine Hölle!" sagte er leise.
"Was sagst du?"
Derk griff in seine Hemdtasche und nahm Oberpriester Voltas Geheimbericht heraus. "Die Priester betrügen uns! Genau wie wir drei früher angenommen haben!" stieß er hervor. "Sie halten die Bewohner Heimstadts in den Sektoren gefangen, obwohl es bereits seit Jahrhunderten(!) keine Hölle mehr gibt! An der Oberfläche der Erde ist kein totes heißes Land mehr. Die Oberfläche ist seit Generationen wieder bewohnbar!"
"Derk! Ist das wahr?" fragte Sanja mit ersterbender Stimme.
Derk reichte ihr das Blatt hinüber: "Da lies selbst! Oberpriesterschwein Volta hat es geschrieben. Es soll geheim sein, nehme ich an, ist aber irgendwie unters Altpapier des Inkomp gelandet. Als Lehrpriester Munz gestern seinen Schubkarren umkippte, fiel es heraus. Weil die Unterschrift von Oberpriester Volta drunter stand, wurde ich neugierig und steckte die Note ein."
Timo und Sanja lasen das Dokument und während sie lasen, wich alle Farbe aus ihren Gesichtern. Als sie mit Lesen fertig war, schaute Sanja Derk durch einen Tränenschleier an.
"Das darf doch nicht wahr sein!" sagte sie mit erstickter Stimme. "Oh Gott! Das kann doch nicht wahr sein!" "Diese Teufel!" zischte Timo. "Man müsste sie umbringen!" Er kochte vor Zorn. "Was sollen wir jetzt anfangen?"
"Wir müssen es allen Leuten sagen", schlug Sanja sofort vor.
Derk schüttelte niedergeschlagen den Kopf und sagte: "Das würde nicht viel bringen Sanja. Du weißt doch, wie die meisten Leute sind: Genau wie meine Mutter! Sie würden es garnicht wahrhaben wollen. Diese Menschen halten so sehr am Althergebrachten fest, daß die Möglichkeit, Heimstadt zu verlassen sie nicht erfreuen sondern zu Tode verängstigen würde.
Sie würden sich weigern es zu glauben und die Polits auf uns loshetzen! Die Polits würden uns und die wenigen anderen, die an die Bewohnbarkeit der Oberfläche glauben, kaltstellen damit wir nicht weiterhin Rersetzend“ auf die Bevölkerung einwirken können.
Es ist sinnlos und lebensgefährlich obendrein. Schon so mancher, der seine Meinung frei und offen sagte, wurde von den Polits in den Inkomp gebracht und kam nie mehr heraus.
Nicht zu vergessen die suggestive Kraft der Priesterschaft. Die würden alles abstreiten und wie ich schon sagte: Die meisten Menschen würden ihnen glauben!"
"Aber Derk! Wir müssen etwas tun!" rief Sanja mit hochroten Wangen vor Aufregung. "Wir können doch nicht so weiterleben, nachdem wir wissen, daß die Heimpriester uns gefangen halten, um sich an ihrer Macht über unser Wohlergehen zu erfreuen!"
"Richtig! Ich kann nicht länger so weiterleben, nachdem ich das hier erfahren habe", sagte Timo.
"Ich habe einen Plan", erklärte Derk. "Wenn ihr beide mitmachen würdet, würde ich mich sehr freuen. Aber ich werde es notfalls auch allein versuchen. Hört zu: Sanjas Vater ist Gildeningenieur. Das bedeutet, daß er einen Gildenschlüssel für den Seiteneingang des Inkomp hat. Sanja soll ihn stehlen. Beim Wachwechsel, wenn die Tür des Inkomp für eine Minute nicht bewacht ist, schlüpfen wir in den Inkomp und fahren im Hauptfahrstuhl nach oben, dem Lift, der bis nach Sektor 1 führt. Auf diese Weise entkommen wir der Priesterschaft. Na was meint ihr dazu?"
Timo schüttelte den Kopf. "Das hört sich alles ein wenig zu einfach an", meinte er zweifelnd. "Und was wird aus unseren Eltern und Geschwistern?"
"Meine Eltern sind typische Heimstädter", antwortete Derk. "Die würden nie im Leben mitgehen. Deine schon eher Sanja. Wisst ihr was? Wir hinterlassen einen Brief, in dem wir alles erklären. Und dazu das Schriftstück von Oberpriester Volta, das auch Zweifler überzeugen wird. Vielleicht kommen Sanjas Eltern ja nach"
Timo und Sanja sahen jetzt ein wenig überzeugter aus.
"Natürlich ist es gefährlich", fing Derk noch einmal an. "Weiß Gott, was für Sicherheitseinrichtungen es im Inkomp gibt. Aber ohne Wagnis kein Gewinn! Ich bin bereit, das Risiko auf mich zu nehmen."
Sanja blickte ihn mit ihren ruhigen, dunklen Augen an.
"Ich auch!" sagte sie fest.
"Ich bin dabei!" meldete sich Timo zu Wort. "Wann gehen wir?"
"Wie wäre es mit heute?" schlug Derk vor.
"Was? Ist das nicht ein wenig überstürzt?"
"Nein ist es nicht", warf Sanja dazwischen. Sie seufzte. "Derk hat Recht, Timo! Der Zeitpunkt ist perfekt, weil heute Feiertag ist. Da läuft alles viel lascher als sonst; auch der Wachdienst der Polits. Die meisten von ihnen sitzen doch selber in den Gärten und trinken Getreidebier. Einen besseren Tag als heute könnte es gar nicht geben."
Sie fühlte einen scharfen Stich in ihrem Herzen. Sie dachte an ihre Eltern, die sie so sehr liebte. Anders als die Angehörigen von Timo oder gar Derk waren Sanjas Vater und Mutter sehr liberal in ihrer Erziehung. Sanja hatte stets über alles mit ihnen reden können. Sie dachte an ihre drei Geschwister, an ihre achtzehnjährige Schwester Clery, die Mibus den Sohn des Pumpenmeisters Walker heiraten wollte. Sie würde noch vor Weihnachten in dem schmucken kleinen Pumpenwärterhäuschen am mittleren Ringkanal wohnen draußen bei den oberen Viehweiden.
Da war der zehnjährige Joons, der unbedingt Viehzüchter werden wollte, weil ihn nichts auf der Welt so sehr interessierte wie Biologie. Er liebte die Tiere und Pflanzen.
Und Ynette, die kecke kleine Ynette. Mit ihren neun Jahren war sie schon sehr aufgeweckt. Sie strengte sich mächtig für die Heimschule an. Der Grund: Mit achtzehn wollte sie in die Fuqtapfen ihres Vaters treten und im Inkomp arbeiten.
Sanja liebte ihre Familie über alles. Sie fühlte sich zuhause geborgen und beschützt und jetzt sollte dies alles mit einem Mal aufgeben für eine überstürzte Flucht ins Ungewisse.
Timo nahm sie in die Arme.
"Ich weiß, was du jetzt denkst Sanja", sagte er tröstend. "Mir fällt es auch nicht leicht, meine Familie so einfach sang und klanglos zu verlassen. Aber sieh mal: Wenn wir heute nicht gehen, dann ist die nächste Gelegenheit erst wieder am Endsommerfest oder gar zu Weihnachten. Bis dahin trauen wir uns vieleicht nicht mehr.
Zeit kann Furcht erzeugen. Noch schlimmer: Es wird uns nicht gelingen, geheim zu halten, was wir erfahren haben. Oder glaubst du im Ernst, daß wir das Theater mit der Gläubigkeit noch lange weiterspielen können, jetzt nachdem wir wissen, daß alles aber auch absolut alles erlogen ist?
Die Priester werden unsere Verachtung bemerken, die wir nicht vor ihnen verstecken können. Fragen werden gestellt werden; unangenehme Fragen. Dann landen wir irgendwann auch im Inkomp, aber abgeführt von Polits!"
Derk stellte sich neben die beiden.
"Timo spricht die Wahrheit Sanja", sagte er. "Wenn wir zu lange warten, verlässt uns der Mut. Sicher fällt es mir leichter, mein Elternhaus zu verlassen, denn ich kam noch nie besonders gut mit meinem Vater und noch weniger mit meiner Mutter aus. Wir vertrugen uns in letzer Zeit nur deshalb so gut, weil ich nach dem Film im Inkomp zu einem besseren Gläubigen wurde. Es tut mir weh, Giber, Sonnika, Rood und Luhny zu verlassen. Ich mag meine Geschwister wirklich gerne." Er machte eine Pause: "Und noch etwas: Ich verlasse auch meinen allergrößten Traum! Gestern Abend eröffnete mir mein Vater, daß die Heimkirche mich endlich zur Ingenieursgilde zulassen will!"
"Ach Gott, Derk!" sagte Timo betroffen. "Dein größter Wunsch!"
"Tut nichts", wehrte Derk ab. "Wie könnte ich jemals glücklich werden mit dem Wissen um die Betrügereien der Heimkirche!"
Sanja richtete sich auf. "Ist gut", sagte sie. "Ich hole den Inkompschlüssel meines Vaters."
Derk und Timo klopften ihr anerkennend auf die Schulter.
"Ich schlage vor, danach unser Picknick auf die Wiese rund um den Inkomp zu verlegen", sagte Timo. "Sowieso", stimmte Derk zu. "Und wenn der Nebeneingang beim Wachwechsel eine Weile unbewacht ist, schleichen wir uns rein. Dann sehen wir weiter."
Sie besprachen die Sache mit den Abschiedsbriefen. Timo machte den berechtigten Einwand, daß es unklug sei, seinen und Derks Eltern einen solchen zu hinterlassen. Allein schon weil sie gläubige Mitglieder der Heimkirche waren. Das erste was sie tun würden, wenn sie die Briefe fanden, war, ihnen die Polits hinterher zu hetzen und sei es bloß, um ihre Kinder nicht zu verlieren. Sie würden nicht so weit denken, daß dies fatale Folgen für die drei Ausreißer haben mußte
Sie einigten sich darauf, nur einen einzigen Brief zu schreiben und zwar an Sanjas Vater. Der Brief sollte in seiner Arbeitstasche versteckt werden, so daß er ihn erst fand, wenn seine Tochter und ihre beiden Freunde längst über alle Berge waren. So träfe ihn in den Augen der Heimkirche auch keine Mitschuld an ihrer Flucht. Man konnte ihm nichts anlasten.
Die drei packten ihre Picknickutensilien zusammen und begaben sich zum Wohndorf in der Sektormitte.
Bei Sanja war niemand zuhause. Ihre Eltern feierten bei Nachbarn, die Geschwister waren draußen auf den Wiesen beim Picknicken. So störte niemand sie bei den letzten Vorbereitungen zu ihrer Flucht.
Sie verstauten einen Teil ihres Essens in kleine, bequeme Rucksäcke. Das war Derks Idee gewesen.
"Wer weiß, ob wir nicht darauf angewiesen sind, uns eine Weile selbst zu versorgen", begründete er seine Forderung nach Proviant.
"Wieso? Ich denke, die Leute in dem Dorf an der Oberfläche seien freundlich", hielt Sanja dagegen.
"Darum geht es nicht", sagte Derk . "Wer weiß, wie lange wir in Heimstadt unterwegs sind. Stell dir mal vor, wir müssen uns ein paar Tage lang irgendwo verstecken. Dann sind wir froh, wenn wir was zu beißen haben."
Damit hatte er Recht, fanden sie. Sanja setzte sich hin und schrieb den Abschiedsbrief an ihren Vater.

Hallo Paps
Wenn du diese Zeilen liest, bin ich entweder tot oder nicht mehr in Heimstadt sondern in Freiheit. Es tut mir leid, dass ich dich, Mutti, Clery, Joons und Ynette verlassen muss, doch nachdem du das Schriftstück gelesen hast, dass diesem Brief beiliegt, wirst du mich sicher verstehen.
Oberpriester Volta hat es geschrieben.
Vielleicht hast du schon die ganze Zeit, in der du im Inkomp gearbeitet hast, etwas geahnt. Nun hast du Gewissheit! Die Heimpriester betrügen uns!
Ich werde mit meinen Freunden Timo und Derk im Inkompfahrstuhl noch oben fahren, denn wir ertragen es nicht länger, von diesen korrupten Menschen in den Sektoren Heimstadts eingesperrt zu werden. Der Bevölkerungsdruck wird immer schlimmer. Bald gibt es nicht mehr genug Essen für alle. Die Priester wissen das, und trotzdem tun sie nichts dagegen. Ich möchte, dass meine Kinder einmal ohne Not und Betrug aufwachsen!
Aus diesem Grunde gehe ich weg. Wir werden uns den Leuten anschließen, die am Stausee leben. Bitte versuche, mich zu verstehen.
Es wäre schön, wenn du und andere nachkommen könntet; überhaupt wäre es herrlich, wenn die Tore Heimstadts für jeden offen stünden und jeder Bewohner selbst wählen könnte, ob er bleiben will oder nicht.
Ich bin mir jedoch absolut sicher, dass die Heimpriester so etwas niemals zulassen werden. Es würde sie ihrer unumschränkten Macht über die Menschen in den Sektoren berauben.
Deswegen werden sie alles tun, um auch weiterhin geheim zu halten, dass es keine Hölle mehr gibt und sie werden diejenigen, die die Wahrheit kennen, erbarmungslos verfolgen und töten. Schon mancher ist in den Inkomp gebracht worden und nie mehr von dort zurück gekehrt.
Es kann passieren, dass die Polits uns erwischen, aber wir wollen dieses Wagnis eingehen, um ein Leben in Freiheit zu führen.
Bitte teile den Eltern und Geschwistern von Derk und Timo mit, wohin wir gegangen sind. Wir haben nicht gewagt, ihnen einen Brief zu schreiben, aus Angst, sie würden uns bei den Heimpriestern denunzieren.
Leb wohl und alles Gute für dich, Mami, Clery, Joons und Ynette.
Deine Tochter Sanja
Sanja las ihren Brief noch einmal laut vor. Sie war mit dem Ergebnis zufrieden.
"So kann ich es lassen", sagte sie. Sie steckte den Brief zusammen mit dem Schriftstück von Oberpriester Volta in einen Schutzumschlag aus Pappe.
"Ich gehe jetzt runter und verstecke den Brief in der Arbeitstasche meines Vaters, damit er ihn erst morgen findet, wenn wir schon weg sind. Den Inkompschlüssel bringe ich gleich mit und denn gehts los."
Derk schaute sie fasziniert an. Sanja ging ganz in ihrer neuen Rolle auf. Plötzlich sah er sie mit ganz anderen Augen. Sie waren Freunde seit ihrer Zeit im Kinderhort von Sektor 7. Sie hatten zusammen Mobiles und Tonvasen gebastelt und erste ungelenke Bilder gemalt. Dann kamen sie zusammen in die Schule. Auch privat waren sie seit jeher unzertrennlich gewesen.
Derk hatte Sanja eigentlich immer nur als eine gleichberechtigte Spielkameradin angesehen.
Nun stellte er fest, daß ein neues ihm bislang unbekanntes Gefühl dazu gekommen war. Er betrachtete Sanjas schmales Gesicht mit den weichen Zügen, er versank für einen Moment völlig in ihren dunklen mandelförmigen Augen und entdeckte, daß er mit einem Mal viel mehr für sie empfand als nur Freundschaft. Unvermittelt fielen ihm die kleinen, runden Hügelchen unter ihrem blau schwarz kariertem Flanellhemd auf.
Das Gefühl war für einen Augenblick so stark, daß ihm schwindlig wurde. Dann brach Sanja den Zauber, indem sie sich umdrehte und das Zimmer verließ. Er hörte, wie sie leichtf?ig die Treppe hinunterlief.
Derk blieb mit einem warmen Pulsieren im Bauch und einer angenehmen Leere im Kopf zurück.
÷echzehn! Sie ist sechzehn geworden, fiel ihm ein. Genau wie ich selbst. Sie ist kein Kind mehr. Sie wird zur Frau.“
Schließlich wußte er, was mit ihm los war: Er hatte sich in Sanja verliebt. Bei diesem Gedanken stieg ihm eine heiße Röte ins Gesicht. Rasch sah er sich nach Timo um, doch der hatte nichts bemerkt.
Sanja kam zurück. Sie schwenkte den Inkompschlüssel in der Hand. Eigentlich war es gar kein Schlüssel; jedenfalls keiner der gewöhnlichen Bartschlüssel, wie die Menschen sie zum Verschließen von Scheunentoren und Viehgattern benutzten. Es handelte sich vielmehr um eine kleine stabile Plastikkarte mit zwei schwarzen Magnetstreifen auf der unteren Hälfte. Die Karte war himmelblau: Die Farbe der Klimaleute in der Ingenieursgilde. Das Wappen der Gilde prangte groß auf der rechten Seite; eine Art symbolisierter Ventilator, fand Frank.
Sanjas Vater hatte ihr einmal erklärt, daß es ein sehr altes Warnzeichen sei.
"Dort wo dieses Zeichen aufgedruckt ist, besteht die Gefahr, mit der Hölle in Kontakt zu geraten", hatte er gesagt. "Gleichzeitig ist es das Hoheitszeichen der Gilde."
Auf der linken Seite der Karte stand der Leitspruch der Ingenieursgilde: ELEKTRA AERA LUX. Es waren die lateinischen Worte für ELEKTRIZITa LUFT LICHT.
"Lasst uns gehen, bevor wir es uns im letzten Moment noch anders überlegen", sagte Sanja.
"Was hast du denn da?" fragte Timo und zeigte auf einen kleinen zylindrischen Metallkörper, den Sanja in der Hand trug.
"Das ist eine Handlampe mit Akkumulator", antwortete sie und knipste die Lampe an.
"Donnerwetter! Eine kleine Sonnenlampe!" entfuhr es Timo. "Wozu soll die gut sein? Wir haben doch das Licht der Sonnenlampen? Selbst nachts leuchten welche; genug jedenfalls, daß man sich orientieren kann."
"Kann sein, daß wir sie brauchen", sagte Sanja geheimnisvoll. "Kommt jetzt endlich!"
Sie brachen auf.

01.04.2013 17:20 Stefan Steinmetz ist offline Email an Stefan Steinmetz senden Beiträge von Stefan Steinmetz suchen Nehmen Sie Stefan Steinmetz in Ihre Freundesliste auf
 
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