Stefans Geschichten (http://www.stefans-geschichten.de/wbblite/index.php)
- Willkommen auf der Homepage von Stefan Steinmetz (http://www.stefans-geschichten.de/wbblite/board.php?boardid=31)
--- Die kleine Privat-Ecke (http://www.stefans-geschichten.de/wbblite/board.php?boardid=86)
---- Der Elfenmacher (http://www.stefans-geschichten.de/wbblite/board.php?boardid=83)
----- Der Elfenmacher(2) (http://www.stefans-geschichten.de/wbblite/threadid.php?threadid=1299)


Geschrieben von Stefan Steinmetz am 10.02.2015 um 06:05:

Der Elfenmacher(2)

Arne Ellerbrok, Runsach:

In Runsach geht es um. Was sich hier seit einem Jahr abspielt, ist nicht mehr normal.
Nun ist Jacqueline Pfeifer verschwunden. Seit gestern fehlt jede Spur von ihr. Sie kam vom Musikunterricht in ihrer Schule in Achen nicht zurück. Man sah sie im Bus nach Runsach. Sie stieg an der Haltestelle am Ortsrand aus. Danach verliert sich ihre Spur.
Adam und Maria Pfeifer sind vor Sorge außer sich. Das ist verständlich; mehr als verständlich. Jacqueline ist nicht die Erste. Vor ihr verschwanden sechs andere Mädchen und keine tauchte je wieder auf.
Was stattdessen nach sechs bis zehn Tagen auftauchte, war ein Paket, das mit der Post kam. Drinnen lag die linke Hand des vermissten Mädchens, am Handgelenk sauber abgesägt.
Ganz Runsach steht Kopf. Wilde Gerüchte machen die Runde und Siegfried Kowak will diesmal seine Idee von der Bürgerwehr durchsetzen, auch gegen den Rat der Polizei.
Vor einer Stunde standen sie auf dem Dorfplatz vor der Marienkapelle und debattierten lautstark. Siegfried war der Wortführer und seine Verwandtschaft unterstützte ihn nach Kräften.
„Schon wieder ist ein Kind aus unserem Dorf verschwunden“, hat Siegfried gebrüllt. Seine Stimme war so laut, dass man sie noch im Oberdorf hören konnte. „Und was tut die Polizei? Nichts! Überhaupt nichts! Die Herren in Grün sehen tatenlos zu, wie unsere Kinder geraubt werden! Nein, meine Herrn! Nicht mit uns! Wir werden noch heute eine Bürgerwehr organisieren und von jetzt an selbst für die Sicherheit in Runsach sorgen.
Es geht ein perverser Kindermörder um, der unsere Kinder entführt! Wir müssen uns schützen!“
Gleich haben sie sich zusammengesetzt und Wachpläne entworfen. Dazu sind sie in den Weißen Hirsch gegangen, weil es draußen zu kühl war. Die wollen das wirklich durchziehen. Achim hat mich gerade angerufen. Er hat das noch mitbekommen, bevor er Schichtwechsel hatte.
Achim ist bei der Polizei in Achen und er steckt mir ab und zu Informationen zu, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Achim Meese ist mein Freund und mein geheimer Informant. Er weiß, dass ich privat eine Art Dorfchronik führe und unterstützt das.
Bisher habe ich aufgeschrieben, wer wann geheiratet hat, wo die Kinder zur Schule gingen und wer fortzog oder neu hinzukam. Ich schrieb auf, wenn eine Straße neu geteert wurde oder ein Haus renoviert wurde. Ich habe notiert, wenn ein Landwirt einige seiner Äcker abstieß oder neue hinzu kaufte, und als fast alle Bauern von Runsdorf auf den Zug der grünen Stromerzeugung aufsprangen und anfingen, Energiepflanzen wie Mais in großem Stil anzubauen, habe ich auch das aufgeschrieben.
Seit etwas mehr als einem Jahr führe ich nun auch Buch über verschwundene Mädchen. Ich wünschte, das müsste ich nicht.

Lenya Kowak, zehn Jahre alt
Chantal Kowak, elf Jahre alt
Mandy Schulz, zehn Jahre alt
Chirara Kowak, zehn Jahre alt
Erika Wendel, elf Jahre alt
Julia Kowak, zehn Jahre alt
und jetzt auch noch Jacqueline Pfeifer, zehn Jahre alt

Die Polizei geht von einem perversen Kindermörder aus. Dass die Kinder ermordet wurden, sagt sie aber nicht laut. Man fand nie eine Leiche. Nur die abgesägten Hände kamen mit der Post. Laut Polizeibericht hat man herausgefunden, dass die Mädchen noch lebten, als ihre linke Hand abgetrennt wurde. Also geht man davon aus, dass die entführten Kinder eventuell noch leben.
Im Dorf glaubt das keiner. Alle sind sicher, dass die Mädchen tot sind, umgebracht von einem geistesgestörten Kindermörder. Nur die Eltern der Mädchen klammern sich an die Hoffnung, dass ihre Töchter noch leben, obwohl sie es eigentlich besser wissen.
Ich gehe davon aus, dass die vermissten Mädchen tot sind.
Irgendein Perverser hat sie sich geholt und dann … ja was dann? Die Feder sträubt sich dagegen, die Worte zu Papier zu bringen. Aber einer, der einer Zehnjährigen bei lebendigem Leib eine Hand absägt, so einer ist zu allem fähig. All die Berichte von solchen Unmenschen. Alle paar Jahre liest man von solch einem irren Mörder.
„Totgefoltert!“ Ich weiß nicht mehr, wer das sagte. Judith hat es mir erzählt, und meine Frau ist nicht gut auf die Kowak-Sippe zu sprechen.
„Es war eine von denen“, sagte sie, als sie vor einem halben Jahr vom Einkaufen zurückkam. Sie hatte Leoni dabeigehabt, als sie in Achen einkaufen war; unsere liebe kleine Leoni, die damals noch keine zehn war. Inzwischen ist sie es und seit ihrem zehnten Geburtstag sind Judith und ich in heller Sorge. Obwohl es zumindest so aussieht, als träfe es nur die Töchter des Kowak-Clans.
Die ganz Alten haben ihre eigene Theorie.
„Der Schratzl!“ rief die alte Lieselotte Kowak damals, als Mandy verschwand. „Der Schratzl hat sie geholt! Der Schratzl ist aus seinem Schratzlloch hervorgekommen und hat die Mädchen geholt! Geschickt vom Schicksal! Das Schicksal lässt sich nicht ewig alles gefallen! Irgendwann ist das Maß voll! Dann folgt die Strafe auf dem Fuße! Dann kommt der Schratzl!“
Und tatsächlich sah es so aus, als ob eine Strafe von höherer Warte auf die Kowak-Sippe hernieder kam. Es fing damit an, dass die CERENA in Achen schloss. Von einem Tag auf den anderen waren eintausendzweihundert Menschen arbeitslos und das in einer Gegend, in der es wenig Industrie gibt und die Arbeitsplätze knapp sind. Praktisch der gesamte Kowak-Clan arbeitete in der CERENA.
Und dann verschwanden die Mädchen; eins nach dem anderen.
„Der Schratzl wars!“ Lieselotte Kowaks keifende Altweiberstimme mitten auf dem Dorfplatz am Samstagvormittag, als der Wochenmarkt stattfand. „Der Schratzl ist aus seinem Schratzlloch hervorgekommen und hat unsere Mädchen verschleppt. Er bringt sie in seinen Erdstall und tut ihnen Unaussprechliches an! Es sind nur Kowak-Mädchen geraubt worden! Nur Kowak-Mädchen! Zuviel ist in den letzten Jahren geschehen! Jetzt kommt die Strafe über uns!“
Damit hat Lieselotte ganz recht. Alle Mädchen stammen aus der Kowak-Sippe. Nicht nur die, die mit Nachnamen Kowak heißen. Mandy Schulz, Erika Wendel und jetzt Jacqueline Pfeifer, die gehören auch zu der Sippe. Ihre Mütter sind geborene Kowaks.
Der Schratzl …
Das ist natürlich Käse. Es gibt keinen Schratzl. Und in Runsach gibt es nicht mal ein Schratzlloch. Gemeint sind damit die so genannten Erdställe, im Volksmund Geheimgang oder Schratzlloch genannt. Ein Erdstall ist ein unterirdischer Gang, oft winklig angeordnet, etwa sechzig Zentimeter breit und ein bis eineinhalb Meter hoch. Es gibt oft Engstellen, die nur kriechend passiert werden können. Die nennt man Schlupf.
Es gibt diese Erdställe überall in Süddeutschland. Entstanden sind sie alle im Mittelalter während der Rodungszeit. Zwischen 1000 und 1200 nach Christus wurden sie angelegt.
Es gibt eine Theorie, dass es sich um mittelalterliche Kultstätten handelt, in denen heimlich heidnische Zeremonien abgehalten wurden.
Die zweite Theorie, und die ist die wahrscheinlichste, sagt dass die Erdställe als Zufluchtsstätten angelegt wurden. Wurde ein Dorf überfallen, konnten die Bewohner verschwinden „wie vom Erdboden verschluckt“. In den hautengen Gängen und vor allem an den engen Schlupfen konnte ein einzelner Mensch eine Übermacht von Feinden leicht aufhalten. Falls man denn den Erdstall überhaupt entdeckte. Die Eingänge lagen gut versteckt.
Der Volksmund hat aus diesen mittelalterlichen Zufluchtsstätten das Schratzlloch gemacht, in dem ein bösartiger buckliger Zwerg haust, der nachts herauskommt und Kinder raubt. Das ist Fuppes.
Außerdem gibt es in Runsdorf und Umgebung keinen Erdstall. Man muss fast fünfzig Kilometer weit fahren, um einen zu finden. Ist eigentlich schade. So ein unterirdisches Gangsystem wäre gut für den Tourismus. Tourismus ist im Moment das Einzige, was bleibt, nachdem die CERENA dicht gemacht hat. Hier und da tut sich was. Im Weißen Hirsch gab es ja schon immer Zimmer für Sommerfrischler, Leute die zum Wandern in unsere schöne Gegend kamen.
Nun haben auch die Bauern teilweise Gästezimmer hergerichtet. Urlaub auf dem Bauernhof für die ganze Familie. Damit lässt sich Geld verdienen. Dann noch die Energiepflanzen. Aber es geht doch arg schleppend.
Und nun diese böse Sache mit den verschwundenen Mädchen. Alles Mädchen aus der Kowak-Sippe. Es muss ein geistesgestörter Kindermörder sein. Irgendwie wirkt das Ganze wie etwas Rituelles. Für mich sieht das beinahe wie Rache aus; Rache am Kowak-Clan.
Vielleicht kommt ja beides zusammen. Jemand, der schon lange nicht mehr richtig im Oberstübchen ist, rächt sich an den Kowaks und entführt dazu die kleinen Mädchen.
Es gibt wahrlich genug Leute in Runsach, die nicht gut auf die Kowak-Sippe zu sprechen sind. Die Kowaks haben zusammen mit der Huber-Schulz-Connection so manchen übers Ohr gehauen. Sie haben den Leuten das Land abgeluchst, als sie die Zeichen der Zeit erkannten. Allerorten flüstert man hinter vorgehaltener Hand von illegalen Geschäften und geheimen Mauscheleien. Die CERENA war ja geradezu von Kowaken unterwandert. Die haben sich da gegenseitig die Pöstchen zugeschoben. Da war stets Vitamin B im Spiel, klar doch.
Dazu noch der Warmabriss der Kowakschen Lederwarenfabrik damals. Dort haben viele Runsacher gearbeitet, die nicht zum Kowak-Clan oder zur Huber-Schulz-Connection gehören. Die wurden über Nacht arbeitslos, als die Fabrik bis auf die Grundmauern niederbrannte.
Es gibt in Runsach eine Menge Leute, die Gründe hätten, sich an den Kowaks zu rächen.
Ich wüsste aber niemanden, dem ich den Mord an kleinen Mädchen zutrauen würde. Aber das will nichts heißen. Man liest es ja immer wieder. Diese Typen sind unauffällig. Es sind ganz normale Nachbarn, freundlich und aufgeschlossen. Sie sitzen mit dir im Garten und grillen. Sie gehen mit dir in den örtlichen Schützenverein oder sind im Angelclub. Man sieht diesen Gestörten den Irrsinn nicht an. Sie tarnen sich perfekt.
Ich wünschte, ich müsste die Sache mit den Mädchen nicht aufschreiben. Aber ich komme nicht darum herum. Das Schlimmste ist, dass ich sicher bin, dass es weitergehen wird. Schon bald wird ein anderes Kowakmädchen verschwinden, ein Kind von zehn oder elf Jahren.
Eiskalt wird einem bei dem Gedanken.
Die Bürgerwehr ist wohl doch keine so schlechte Idee. Sollen sie ruhig nachts auf Streife gehen. Schaden kann es nicht.


Geschrieben von carolne1960 am 10.02.2015 um 13:47:

Kanns ja schon wieder nicht lassen und muss ein Kapitel sofort lesen wenns da is.
So ein Chronist (oder Chronologe) is gar nicht so schlecht. Ich glaub mit dem werden wir noch einiges zu tun bekommen.großes Grinsen
So - jetzt aber in die Heia und schlafen. Um 20:00 Uhr is meine "Nacht" vorbei.
Bis so gegen Mitternacht. Drück

__________________
Was ist der Mensch - nur ein flüchtiger Gedanke - nicht zu greifen - nicht zu fassen. Stets schweigend mit sich im Gespräch vertieft durforsch er sich und findet sich nie.
Der Traum ist die wahre Wirklichkeit. großes Grinsen


Geschrieben von Hans_D_Bell am 10.02.2015 um 21:32:

Morgenstund hat Gold im Mund...

Ich werde morgen extra früh aufstehen und schauen ob es was zum lesen gibt.

Powered by: Burning Board Lite 1.0.2 © 2001-2004 WoltLab GmbH