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Geschrieben von Stefan Steinmetz am 11.11.2014 um 11:03:

Die großen Steine(9)

Die großen Steine - Kapitel 9

Nelly balancierte das kleine Tablett auf der linken Hand nach draußen. In der Tür musste sie einen Bogen um eine graugetigerte Katze machen.
„Moritz!“ rief sie lachend. „Du musst aufpassen. Du darfst mir nicht vor die Beine laufen, wenn ich ein Tablett trage. Wenn ich über dich stolpere, fällt der Kaffee für unsere Gäste auf den Boden.“
„Mauu“, sprach der Kater. Es klang wie eine Entschuldigung.
Caro schaute Nelly hinterher, wie sie leichten Schrittes das Tablett nach draußen in die Gartenwirtschaft trug. Sie servierte dem alten Förster Brinkmann ein Kännchen Kaffee mit Zucker und Milch und zwei Stück Kuchen. Wie immer hatte Brinkmann Käsekuchen und Früchtekuchen bestellt. Diesmal mit Erdbeeren. „Ihr Kaffee und ihr Kuchen, Herr Förster.“ Nelly sprach mit britischem Akzent.
Die Erdbeeren stammten aus dem Garten, den Caro zusammen mit Peter hinterm Haus angelegt hatte.
Brinkmann sah kurz von seiner Zeitung auf und lächelte der Bedienung zu: „Dankeschön Nelly.“ Er nahm einen Schluck Kaffee: „Aah! Uganda Spezial. Sehr kräftig. Wunderbar.“
Nelly holte einen Lappen aus ihrer Schürze und wischte über den Tisch neben dem des pensionierten Försters.
Caro betrachtete das junge Mädchen mit dem rotblonden Haar und den Sommersprossen versonnen. Nelly Smith war im Winter zu ihr gekommen, ein dünnes ausgehungertes Ding, das sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Nelly stammte aus London. Sie war der drangvollen Enge und Armut in der übervölkerten britannischen Hauptstadt entflohen und auf einem Transportkahn in den Deutschen Länderbund eingereist. Mit dem bisschen Geld das sie hatte, war sie ein Stück weit mit der Eisenbahn in der Dritten Classe gefahren und dann zu Fuß weiter nach Südwestdeutschland gezogen ins Königreich Bayern.
Sie wusste nicht, was aus ihr werden sollte, aber sie hatte ein Ziel vor Augen: Saarbrücken-Nassau am Saarsee. Von dort stammte ihre Großmutter und die hatte Nelly, als sie noch ein Kind war, immer vom Leben im schönen Saarland vorgeschwärmt.
Sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser haltend war das junge Mädchen im tiefsten Winter quer durch den Deutschen Länderbund immer weiter nach Süden gewandert, bis sie nach Lisdorf kam, einem Dorf nördlich von Saarbrücken-Nassau ganz in der Nähe von Caros Haus. Dort war ihre Großmama aufgewachsen. So hatte Nelly eines schönen Tages hungrig und frierend vor „Kaffeetante Caros Pension“ gestanden und um einen Job gebettelt.
Allein schon aus Mitleid hatte Caro das arme Ding bei sich aufgenommen. Dies erwies sich als Glücksfall. Nelly entwickelte sich in kurzer Zeit zu einer echten Perle. Sie half im Haushalt und in der Wirtschaft mit. Sie kümmerte sich um den Garten und alle anfallenden Arbeiten. Sie unterstützte Caro überall. Caro war froh, das Mädchen zu haben und mit gerade mal fünfzehn Jahren würde Nelly ihr wahrscheinlich noch eine ganze Weile erhalten bleiben. Caro war es recht. Das Mädchen war eine große Hilfe.
Kaffeetante Caros Pension war schnell bekannt geworden an der Saar. Anfangs waren Fischer und Kahnfahrer ihre ersten Gäste, die im Winter natürlich drinnen in der geheizten Gaststube Kaffee und Kuchen bestellten oder eine deftige Brotzeit. Mittags gab es immer Fischgerichte. Dazu servierte sie Gemüse und Salate aus dem eigenen Garten. Der alte Backofen im Haus war gegen einen nagelneuen ausgetauscht worden. Das ganze Haus war vom Dachboden bis zum Keller renoviert worden und strahlte eine Mischung aus modernem Chic und urdeutscher Gemütlichkeit aus.
Besonders beliebt war Caros Kaffee.
Caro hatte eine innige Geschäftsbeziehung zu „Meyer & Söhne“ in Saarbrücken-Nassau aufgebaut und bezog die unterschiedlichsten Kaffeebohnensorten bei den Importeuren, aber auch den allseits beliebten Rotbuschtee aus dem südlichen Africa und britannischen Tee, der direkt aus Indien kam.
Mit einer Röstmaschine der Firma Dillinger Stahl röstete Caro die Kaffeebohnen selbst. Bald hatte sie den Bogen raus und war für ihre hervorragenden Bohnenkaffees berühmt. Beliebt waren auch auch ihre „Gemischten“. Das war Bohnenkaffee, der mit den verschiedenen Ersatzkaffees gemischt wurde; entweder mit Malzkaffee aus gerösteter Gerste oder mit Dinkelkaffee oder Zichorie. Je nach Mischungsverhältnis konnten sogar Kinder einen Gemischten trinken. Den Gemischten, der halbe-halbe aus Bohnenkaffee aus Äthiopien und Zichorie bestand, hatte sie „Emmakaffee“ genannt und der war der Renner bei Jung und Alt.
Mindestens ebenso beliebt wie Caros Kaffee wurde ihr selbstgebackener Früchtekuchen, für den sie Früchte aus dem eigenen Garten oder aus der Region verwandte.
Nach den Fischern und Schiffsleuten kamen Handlungsreisende, Wanderer und Sonntagsgäste. Ihnen folgten die Sommerfrischler, die auf eine oder zwei Wochen in der Pension zu Gast waren. Die Autoren von Reiseführern erwähnten Caros kleines Lokal lobend in Büchern und Zeitschriften. „Kaffeetante Caros Pension“ lief prima.
Jetzt, direkt nach der Mittagszeit, war es etwas ruhiger. Das war jeden Tag so. Dann saß nur der alte Förster an seinem Tisch und las zu Kaffee und Kuchen die Zeitung. Gelegentlich fanden sich Durchreisende, die ihre Fahrräder in die Ständer abstellten und sich eine Pause im Gartenlokal gönnten.
Die Bäume waren sauber geschnitten worden. Alles wirkte aufgeräumt und heiter. Rings um die niedrige Mauer, die die Gartenwirtschaft umgab standen neue Laternen auf Masten aus Gusseisen, die abends einen heimeligen Schein verbreiteten. Es waren welche von den ganz neumodischen elektrischen Laternen. Dazu stellte Caro abends noch eine Öllampe auf jeden Tisch.
Die Pension ging gut und wenn Caro Nelly nicht gehabt hätte und Peter nicht mitgeholfen hätte, wäre sie mit der Arbeit nicht hinterher gekommen. Sie war baff, wie gut das Geschäft lief.
Und es machte ihr Spaß. Sie hatte ihre helle Freude am Umgang mit den Menschen, die sie besuchten. Sie hatte ihren Traumberuf gefunden.
Und ihren Traummann. Sie und Peter waren ein Paar geworden. Im Herbst des vergangenen Jahres hatten sie geheiratet und waren in die Pension eingezogen. Peters kleines Fischerhäuschen war seither vermietet und brachte etwas zusätzliches Geld ein. Nicht dass sie es gebraucht hätten.
Peter ging wie eh und je jeden Morgen auf Fischfang und ein Teil des Fanges wurde in Kaffeetante Caros Pension zum Mittag serviert.
Manchmal stand Caro da und konnte ihr Glück nicht fassen. Sie und Peter waren zusammen. Sie waren ein Paar. Sie waren glücklich. Das Schönste war, dass sie gelegentlich kleine Spielchen mit Stricken spielten.
Förster Brinkmann hob die Hand. Er wollte zahlen. Caro ging zu ihm und nahm die Bezahlung in Empfang: „Hat es geschmeckt Herr Förster?“
Er schaute sie aus blitzenden Augen an. Er hatte hunderte Lachfältchen im wettergegerbten Gesicht: „Geschmeckt? Das reicht nicht, um es zu beschreiben. Der Himmel hat Sie gesandt, liebe Caro. Ich kann mir ein Leben ohne meine Zeitung bei Kaffee und Kuchen in Ihrem feinen Lokal überhaupt nicht mehr vorstellen. Nirgends ist es gemütlicher, als unter den Bäumen in Ihrem Gartenlokal.“ Er wedelte mit der Zeitung: „Die letzte Seite noch.“
Caro lächelte den Mann an: „Aber gerne, Herr Förster. Nehmen Sie sich die Zeit.“
Sie ging an den Tischen vorbei und schaute, ob alles sauber war, ob kein Blatt auf eine der Tischdecken gefallen war. Das Lokal war leer, aber in einer Stunde würden die nächsten Gäste kommen und die Gartenwirtschaft würde sich füllen. Dann würden sie und Nelly alle Hände voll zu tun haben.
Sowieso war es mit der beschaulichen Ruhe demnächst vorbei. In drei Wochen stand das Fest des Heiligen Alfons an. Fast alle Zimmer der Pension waren im Voraus per Winkertelegraph gebucht.
Der Heilige Alfons. Caro lächelte in sich hinein. Ein Jahr zuvor waren Peter und sie sich auf dem Fest des Heiligen Alfons näher gekommen und kurz danach waren sie ein Paar geworden. Peter war die Liebe ihres Lebens.
Caro seufzte leise. Es wäre alles so schön gewesen, wenn nur die Eule nicht gefehlt hätte. Das war der Wermutstropfen in ihrem Glück. Immer wieder musste sie daran denken, dass der Mann vielleicht hier sein könnte, wenn sie damals nicht in sein Flugzeug gestiegen wäre.
Würde Martin in zwanzig Jahren wiederkommen? Dauerten die zwanzig Jahre im Draußen denn hier in Bayern auch so lange? Oder waren es „nur“ fünf oder sieben Jahre? Caro wusste es nicht. Aber sie klammerte sich an die Hoffnung, dass er es schaffen würde.
Nur dass da immer das schreckliche Szenario in ihrem Kopf herumspukte, in dem Martins Flugzeug in der eisigen Düsternis im Sumpf abstürzte und die grauenhaften Kreaturen der Zwischenwelt auf ihn zu krochen …
Die Zwischenwelt …
Er hatte ihr davon erzählt. Den Erzählungen des alten Mannes nach, führten alle Durchgänge ein Stück weit durch die Zwischenwelt. Allerdings lagen die porösen Stellen der Weltenblasen normalerweise so dicht zusammen, dass sie aneinander rieben wie die Hüllen von Luftballons, die man gegeneinander drückte. Es war ein Leichtes, durch eine dieser Öffnungen zu schlüpfen – wenn sie einen denn durchließen. Wie hatte er so schön gesagt: „Wenn es dich nicht durchgelassen hätte, wären wir im Sturzflug runtergekommen und es hätte WUPP gemacht und wir wären wieder in der Luft gewesen - zurückgeworfen. Einfach so. Es soll wie die Reaktion zweier gleicher Magnetpole sein. Die lassen sich nicht zusammendrücken; die stoßen sich ab.“
Die meisten Durchgänge waren nichts als kleine Löcher im Gewebe der Welten. Manche führten über eine längere Strecke. Martin hatte einen Durchgang passiert, der durch einen fremdartigen Pflanzentunnel führte.
„Am Rand der Zwischenwelt gibt es noch normales Leben, Caro.“ Das hatte er gesagt und sie dabei ernst angeschaut: „Der Alte hat es mir erklärt. Es ist wie eine Wüste. Wenn du drauf zugehst, sieht alles noch relativ normal aus. Dann werden die Bäume weniger, es gibt nur noch Sträucher und zum Schluss nur noch verdorrtes Gras. Dann stehst du mitten in einer riesigen Einöde aus Steinen und Sand. So muss man sich die Zwischenwelt vorstellen: Zuerst hat es noch Pflanzen, die im Licht gedeihen, dann wird es immer dämmriger und kälter und schließlich stehst du in fast absoluter Finsternis in einer Eiswelt voller dämonischer Lebensformen. Es soll Wege geben, die direkt in diese Dämonenwelt hineinführen und auch von dort wieder hinaus. Aber die Durchgänge, die ich kenne, waren bis auf einen ganz normal. Einmal bin ich bis an den Rand dieser eisigen Welt geraten, damals als Dreizehnjähriger. Mir ist ganz schön der Stift gegangen, das kann ich dir sagen. Kein Wunder, dass Leute aus dem Königreich diese Wege normalerweise nie benutzen.“
Drei Monate nach Martin Welters Verschwinden war Caro per testamentarischer Verfügung zur Verwalterin seines Hofgutes eingesetzt worden. Sie hatte vollen Zugriff auf Martins gesamtes Vermögen erhalten und wurde im Testament gebeten, den Hof herzurichten, wie Martin es geplant hatte und ihn „bereitzuhalten für den Fall der Fälle“.
Das tat Caro gewissenhaft. Sie hatte Martins Hof komplett fertig machen lassen. Peters Cousin Alex hatte die Bauarbeiten beaufsichtigt. Nur die Möbel fehlten noch. Die hatte Martin nicht bestellt. Die Räume waren, bis auf die Küche, kahl.
Caro hatte auch die alten Obstbäume auf Martins Hof schneiden lassen. Diesen Sommer hatte sie Zwetschgen und Kirschen von dort geholt und Kuchen davon gebacken. Warum das gute Obst verkommen lassen?
„Ich werde dir deinen Hof erhalten, Martin!“, murmelte sie. „Mach dir keine Sorgen. Caro passt auf. Ich warte auf dich und wenn es zwanzig Jahre dauern sollte.“
Sie ließ den Blick über ihre Gartenwirtschaft schweifen, betrachtete zufrieden die grün gebeizten Klapptische aus Holz und die dazu passenden Klappstühle. Unter den Bäumen herrschte leichter Schatten, von den Kronen gespendet, und doch fanden immer wieder Sonnenstrahlen ihren Weg durchs Blattwerk und malten goldene Kringel auf Tische, Stühle und den Boden.
Linkerhand befand der neu angelegte Kinderspielplatz, auf den Caro besonders stolz war und der ihr, ganz wie geplant, so manchen Familienbesuch einbrachte. Es gab Wippen und Schaukeln, eine kleine und eine große Rutschbahn, einen ausgedehnten Sandkasten und ein Drehkarussell. Dazu noch ein Klettergerüst, auf dem die Kinder gerne herumturnten.
Die größte Attraktion aber waren die zwei großen, flachen Teiche. Das Wasser war gerade mal knietief. Auf dem einen dümpelten flache Holzflöße, deren Oberfläche mit grünem Filz überzogen war. Die Kinder liebten es, auf diesen Flößen mit Stangen über den Teich zu staken und die kleine Insel in der Teichmitte zu besuchen oder das große hölzerne Piratenschiff mitten im Wasser, auf dem man herrlich spielen und klettern konnte.
Der zweite Teich diente dazu, kleine Schiffchen auf dem Wasser schwimmen zu lassen. Diese brachten die Kinder entweder selber mit, oder sie konnten sich ein Schiffchen bei Caro ausleihen, sei es ein Boot mit Aufziehwerk oder ein kleines hölzernes Segelschiff.
Wie oft mochten Kindermünder in den vergangenen Monaten die immer gleiche Bitte vorgebracht haben: Mama? Papa? Gehen wir am Sonntag zu Kaffeetante Caro? Dann können wir Schiffchen schwimmen lassen und Floß fahren.
Caro lächelte in sich hinein. Das war eine gute Idee gewesen mit den Teichen, wirklich gut.
Sie sah beim Klettergerüst ein kleines Mädchen stehen. Die Kleine mochte sechs Jahre alt sein. Moritz stolzierte mit aufgerichtetem Schweif auf sie zu. Das Mädchen lief dem Kater entgegen. Caro sah, dass es hinkte. Es zog ein Bein nach.
Als Moritz bei ihr ankam, bückte die Kleine sich und streichelte ihn. Caro konnte selbst auf diese Entfernung sehen, dass der Kerl vor Behagen schnurrte. Das kleine Mädchen lachte. Sie hatte dunkles, beinahe aschefarbenes Haar und war ziemlich dünn. Sie trug ein hübsches Blaudruckkleidchen und schwarze Schuhe mit Knöchelspangen zu weißen Söckchen.
Das Kind schien allein zu sein. Niemand war zu sehen. Caro kannte das Mädchen nicht. Aus den umliegenden Ortschaften stammte sie nicht. Vielleicht das Kind einer Schifferfamilie. Im Königreich Bayern nahmen die Eltern ihre Kinder oft auf den Schiffen mit und erteilten ihnen selber Unterricht in Lesen und Schreiben und Rechnen. Am Anleger weiter flussabwärts lag kein Schiff, aber vielleicht weiter droben am Anleger beim Luftschiffhafen.
„You are a nice cat“, sprach das Mädchen mit glockenheller Stimme zu Moritz. Aha! Eine kleine Britannierin. Besuch von der Insel.
„Liebe Katze! Brave Katze!“ sagte das Mädchen und kraulte Moritz das Fell.
Na was denn nun? Deutsch oder Englisch?
Caro machte einen Schritt in Richtung Gartenwirtschaft. Ein Mann saß an einem der Tische ganz außen direkt bei der Mauer aus roten Ziegelsteinen. Er wandte ihr den Rücken zu und beobachtete das kleine Mädchen. Das musste der Vater sein.
Caro ging zu dem Tisch. „Guten Tag mein Herr. Darf ich Ihnen etwas bringen?“
„Gerne“, sprach der Mann. „Einen Emmakaffee bitte und für die Kleine eine Waldmeisterlimonade.“ Er drehte sich um: „Tach Caro.“
Caro schnappte nach Luft. Es war die Waldohreule. Martin Welter.
„Martin!“ rief sie. „Du?“ Sie war vor Überraschung ganz verdattert: „Ja wo kommst du denn her?“
Er grinste sie an und zeigte zum Treifelpfad: „Von da drüben.“
Caro musste lachen. Er hatte sich kein bisschen verändert.
Martin stand auf und umarmte sie: „Hi du.“ Er nahm Abstand: „Gut, dich zu sehen.“
Er sah keinen Tag älter aus als beim letzten Mal ein Jahr zuvor. Sie blickte in seine Augen und sah darin die Erfahrung von Jahren. Wie lange war er fort gewesen? Nur ein Jahr? Oder länger?
„Was ist geschehen, Martin? Wie bist du wieder gekommen?“
Er setzte sich: „Das ist eine lange Geschichte.“
Sie setzte sich ihm gegenüber: „Ich liebe Geschichten.“ Sie winkte Nelly, die gerade den Tisch abräumte, den Förster Brinkmann freigemacht hatte. Wie üblich hatte der Gute eine Münze als Trinkgeld hinterlassen. Das war eine Marotte des pensionierten Försters. Er gab das Trinkgeld nie beim Bezahlen, sondern ließ es auf dem Tisch zurück, wenn er ging.
Nelly kam herüber. „Bitte bring uns eine Kanne Emmakaffee und zwei Tassen“, bat Caro. „Für das Kind eine Waldmeisterlimonade. Dazu ein paar Stücke Kuchen.“ Nelly lief los.
Caro schaute Martin an: „Erzähl! Wieso bist du letztes Jahr nicht gekommen? Schieß los?“
„Letztes Jahr ...“ Er blickte versonnen zur Saar hinüber. „Bei dir ist es nur ein Jahr gewesen.“ Er schaute sie an: „Für mich waren es drei, Caro ,und eins war beschissener als das andere. Drei lange, beschissene Jahre.“
Nelly brachte den Kaffee und den Kuchen. Sie tranken. Martin mampfte ein Stück Apfelkuchen: „Mmm! Geil! So was gibt’s drüben nicht.“
„Mit deinen Äpfel gebacken“, sagte Caro. Sie erzählte Martin in kurzen Sätzen, wie sie seinen Hof hatte herrichten lassen und dann von dem Obst genommen hatte. „Ich wollte nicht, dass es verkommt.“
„Recht so“, meinte Martin.
Caro konnte es nicht fassen. Er war da. Er hatte es geschafft. Keine zwanzig Jahre Wartezeit Kein schrecklicher Tod in der Zwischenwelt. Martin lebte. Martin war hier.
Er begann zu erzählen.
„Beim ersten Mal konnte ich nicht fliegen. Ich habe mir eine Rotz eingefangen, eine Sommererkältung und die sind die schlimmsten. Seit ich Diabetes habe … ähm … hatte … wie auch immer … war es noch übler. Jede simple Erkältung hat mich umgehauen. Es hat mich hingeschlagen wie einen Ochsen auf dem Schlachthof. An Fliegen war nicht zu denken. Tja, dann halt das nächste Mal, dachte ich.
Von wegen! Erstens kommt es, zweitens anders als man denkt. Als ich beim letzten Mal durch wollte, herrschte in dem Eisloch so was wie der Dritte Weltkrieg. Alles wimmelte von fliegendem Viehzeug. Kleine Viecher in riesigen Schwärmen und Biester so groß wie Segelschiffe. Kaum war ich drinnen, ging die ganze Kavalkade auf mich los. Ich schaffte es nicht, durchzukommen. Keine Chance. Auf halber Strecke musste ich kehrt machen und mir den Rückweg frei schießen. Ich schaffte es mit knapper Not. Ich kam gerade noch raus.“
Martin machte eine hilflose Geste: „Da war ich dann am Arsch. Päng! Klappe zu, Affe tot!“
Er vertilgte ein zweites Stück Kuchen.
„Ich war ganz schön fertig, das kannst du dir denken. Dann fiel mir der Alte ein. Vielleicht kannte der noch andere Durchgänge. Ich wusste, wo er wohnte und fuhr hin.“ Wieder die gleiche Geste: „Satz mit X. War wohl nix. Ich hatte dir ja erzählt, dass er zurückgegangen war, um in Heimaterde begraben zu werden. Das war inzwischen geschehen. Der gute Mann war verstorben.“
Martin holte einen Packen aus der Tasche, die er auf den freien Stuhl neben seinem abgestellt hatte: „Ich habe dich damals übrigens überall abgemeldet. Da drin findest du die Ausdrucke von www.seilerei.de. Habe sie auch auf CD gespeichert.“ Er holte einen zugeklappten Laptop aus der Tasche: „Hier. Habe ich dir mitgebracht, Ladegerät inklusive. Sie haben sich alle nett von dir verabschiedet. Heute nach drei Jahren bist du immer noch eine Forenlegende. Man spricht noch immer über dich. Caro, wir vermissen dich, schreiben sie hier und da. Du warst halt sehr beliebt.“
Caro trank einen Schluck Kaffee. „Und wie bist du dann nach Bayern zurückgekommen? Hast du einen neuen Durchgang entdeckt?“
Martin grinste: „Eher einen alten. Erinnerst du dich an meinen Traum, von dem ich nicht wusste: war es ein Traum oder eine Erinnerung an meine frühe Kindheit?“
„Die großen Steine!“
Er nickte: „Die großen Steine. Ein Erlebnis meiner Mutter, als sie zehn Jahre alt war. Ich habe diesen Durchgang gesucht. In meinem Roman „Der Durchgang“ habe ich ja geschrieben, dass sie auf der Papiermühle bei Bous aufwuchs und die Familie erst nach Neunkirchen zog, als meine Mutter zehn Jahre alt war. Ich habe das Bild online gestellt, das ihr Vater aufgenommen hat. Es war wohl eine Art Abschiedsbild. Man sieht sie und ihre beiden jüngeren Schwestern auf einer Wiese und unten im Tal die Siedlung.

[IMG]http://Papiermühle2 by kibitzel, on Flickr[/IMG]

Meine Mutter muss den Durchgang also in jenem Sommer als sie zehn wurde, entdeckt haben. Das war im Jahr 1951.
Ich fing an, in der Gegend rund um die Papiermühle Radtouren zu machen und suchte alles ab.“ Er zuckte die Achseln. „Leider vergeblich. Ich konnte machen was ich wollte, ich fand nichts. Ich dachte mir, es war wohl doch nur ein Traum. Oder vielleicht war das Ding zu.
Dann geriet ich eines Tages an diese CD. „Das Saarland in den Fünfzigern – Karten und Luftbilder“.

[IMG]http://SaarlandCD by kibitzel, on Flickr[/IMG]

Die Luftbilder stammten aus dem Jahr 1953. Ich habe mir die Papiermühle angeschaut und sie sah noch genauso aus wie zwei Jahre zuvor, als die Familie meiner Mutter dort wegging. Die kleine Nebenstraße mit den neuen Häusern wurde erst Jahre später gebaut. Noch war das Gelände am Hang unterm Waldrand frei. Es gab Wiesenstücke und Gemüsebeete und was weiß ich. Genau erkannte man das nicht. Aber das Gesamtbild, die komplette Luftaufnahme, brachte mich auf Ideen. Ich überlegte: was unternimmt ein zehnjähriges Mädchen, dass im Sommer allein ist? Wo stromert dieses Mädchen herum? Wie konnte es zwischen zwei Hügeln hindurch in eine kalte, neblige Welt zwischen den großen Steinen gelangen?

[IMG]PapiermühleLuftaufnahme1953 by kibitzel, on Flickr[/IMG]

Ich ließ das Fahrrad zuhause und begann zu wandern. Immer mit einem dicken Rucksack auf dem Buckel mit einem Beutel voller Silber, meinem Kontobuch, mit drei Laptops, zig Kameras und dem ganzen Geraffel halt.
Ich durchlief das gesamte Luftbild, folgte Feldwegen und den kleinsten Fußpfaden und tappte an Stellen herum, wo heutzutage keine Wege mehr sind, damals aber welche waren. Besonders genau nahm ich es mit den Waldstücken.“
Martin lehnte sich zurück. Er nahm einen großen Schluck Kaffee: „Und dann eines schönen Tages mitten im Vorfrühling bei richtigem Sauwetter, fand ich den Durchgang. Ich bin in Regenklamotten durch den Wald getappt. Eigentlich hatte ich an dem Tag nicht losgehen wollen, weil echtes Scheißwetter herrschte, aber dann juckte es mich, dieses eine Stück Wald zu untersuchen, in dem ich zuvor nur einmal mit dem Rad durchgefahren war.
Ich latschte den Fußweg entlang und musste plötzlich für Königstiger. Das war mein Glück, möchte ich behaupten. Da ich nicht wollte, dass man mir bei der Verrichtung meiner Verflüssigung zuschaute, verdrückte ich mich ins Unterholz. Dort verpasste ich einer unschuldigen Eiche eine Nitratvergiftung. Anschließend dreh ich mich um und seh die Hügel direkt vor mir.“
Martin lachte: „Na ja, Hügel … es waren zwei kleine Buckel im Wald. Aber für eine Zehnjährige sahen wie wohl wie Hügel aus.“
„Dann bist du zwischen ihnen hindurchgegangen“, sagte Caro.
„Ja.“ Martin lachte. „Ich habe mich sogar extra gebückt für den Fall, dass der Durchgang vielleicht etwas niedrig ausfallen würde. Aber ehrlich gesagt habe ich nicht damit gerechnet, dass er noch funktionierte. Ich glaubte nicht recht daran.
Aber er war noch da und er stand offen. Ich landete zwischen den großen Steinen.“
„Im Nebel“, sagte Caro.
„Kein Nebel“, entgegnete Martin. „Es war stürmisch und die Wolken hingen so tief, dass ich Angst hatte, mir an ihnen den Kopf zu stoßen.“
„Aber du bist zwischen den großen Steinen raus gekommen?“ bohrte Caro nach.
„Klar doch.“ Martin nickte. „Du glaubst nicht, wo das ist!“ Er grinste übers ganze Gesicht.
„Sag es mir“, bat Caro.
Martin grinste jetzt wie ein Honigkuchenpferd: „Stonehenge!“
„Was? Das ist nicht dein Ernst!“
„Doch“, sagte er. „Ich bin mitten in Stonehenge gelandet. „Nur gut, dass nicht gerade Besucher dort waren, oder ...“ Er kicherte: „...oder dass da eine Gruppe Leutchen irgendeine naturreligiöse Zeremonie abgehalten haben. Stell dir vor, die beten einen keltischen Gott an ...“
Caro lachte hellauf: „Und die Eule erscheint in farbig eher auffälligen Goretexklamotten!“ Jetzt lachten sie beide.
„Ja eben“, meinte Martin. Er trank einen Schluck: „Der ist echt gut, dein Emmakaffee. Drüben kriegte ich ihn nicht so hin.“
„Übung“, sagte sie. Sie fühlte sich geschmeichelt. Er war immer noch der alte Charmeur.
„Wie ging es weiter?“ wollte sie wissen.
„Ich wusste nicht, wo ich wirklich gelandet war“, erzählte Martin. „Konnte ja sein, dass ich im England meiner Zeit raus gekommen war oder in einer ganz und gar anderen Zeit. Ich marschierte los und im ersten Dorf fragte ich nach. Ich war richtig. Da ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Mit meinem Silber bin ich dann schnell nach London gelangt. Und dort saß ich erst mal fest.“
Er verdrehte die Augen. „Der Sturm war schlimmer geworden. Eine Luftschiffspassage nach Deutschland war nicht zu bekommen; nicht mal eine Überfahrt per normalem Seeschiff. Also logierte ich in einem gemütlichen Hotel und schaute mir London im Regen an.“
Caro schaute Martin an. Er war da. Leibhaftig. Er hatte es geschafft. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. All die Monate hatte es sie bedrückt. Immer wieder hatte sie daran denken müssen, dass er seine Sachen nach Bayern geschafft hätte, wenn er sie nicht kurzentschlossen mitgenommen hätte.
Dann wäre ich nie so geworden, wie ich jetzt bin. Jetzt, wo die Schuldgefühle fort waren, fühlte sie Dankbarkeit und pure Freude. Es war schön, ihn wiederzusehen. Er besaß noch immer sein ansteckendes Lachen.
Ob ich ihm von meinem Schuldgefühlen erzählen soll?
Nein, beschloss sie. Ihre weibliche Intuition riet ihr, zu schweigen. Vielleicht in ein paar Jahren. Aber nicht heute. Auf keinen Fall. Sie beschränkte sich darauf, sich zu freuen, dass er da war. Ein kleines Wunder war es schon.
Martin erzählte weiter: „Weißt du, Caro, ich habe die drei Jahre ziemlich geflucht. Ich habe gelitten wie ein Hund. Es war furchtbar. Ich dachte, ich komme nie wieder nach Bayern. Aber heute denke ich, es war Schicksal.“ Er zeigte zum Himmel: „Es kam von oben. Du glaubst nicht an so was. Ich schon.“
Er trank Kaffee. „Ich bin also kreuz und quer durch London getappt und habe mir alles angeschaut. Geknipst habe ich auch. Wozu hab ich denn die Digitalkameras mitgeschleift?!
Du weißt ja, dass ich als Kind geschworen habe, später Kinder aus dem Waisenhaus aufzunehmen. Wir hatten da ein paar PNs nach meinem Roman „Adoptivkind Stefanie“. Ja, diese Kinderschwüre … als ich erwachsen wurde, gab es erstens keine Waisenhäuser mehr und kaum noch Kinder zum Adoptieren, was ich echt klasse fand, und zweitens braucht mal schon ein gutes Stück Kohle, um das durchzuziehen. Als Alleinstehender ist es eh schwierig.
Hier in Bayern wiederum sind Kinder selten und begehrt. Kein Mensch würde zulassen, dass ein Kind, das seine Eltern verloren hat, in ein Waisenhaus gesteckt wird.“
Er wedelte mit der Hand: „In England ist das anders. Dort funktioniert diese natürliche Bevölkerungsregulierung irgendwie nicht richtig. London ist eine überfüllte Stadt und es gibt ganze Heerscharen von Armen.“ Er lehnte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch: „Und es gibt Waisenhäuser.“
Eines schönes Tages stand ich in einer Nebenstraße vor so einem Gebäude. „Orphan-House“ stand auf einem großen Schild über der Tür. Ich hatte mich verlaufen. Eigentlich wollte ich an die Themse und mir den Big Ben anschauen. Stattdessen geriet ich in diese komische Nebenstraße und landete vor dem Waisenhaus. Ich bin reingegangen. Ich hatte das Gefühl, ich sollte es tun.
Drinnen in einer Vorhalle standen ein paar Kinder, die mich anstarrten wie das Achte Weltwunder. Eins davon war die Kleine.“ Er zeigte auf das Kind, dass immer noch mit Moritz spielte.
„Stakt da auf ihrem Holzbein und mit Augenklappe rum wie eine Miniaturausgabe von Käptn Ahab auf der Jagd nach Moby Dick. Bloß, dass sie nicht so finster dreinblickte. Stattdessen stand im Auge dieses Kindes eine Einsamkeit, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte.“
Martin räusperte sich: „Ja. Das hat reingehauen, Caro. Erst das Holzbein und dann die Augenklappe. Als ich dann noch ihren Namen erfuhr ...“
Caro schaute das Kind an. Deshalb hinkte die Kleine. Ihr fehlte das rechte Bein. Sie trug eine Prothese. Aber das Auge?
„Ich habe mich bei der Leitung des Waisenhauses ausgewiesen und gefragt, ob ich mich um das Mädchen kümmern darf. Die waren sofort einverstanden. Wenn die in Britannien riechen, dass jemand ein Waisenkind bei sich aufnehmen will, legen die demjenigen keinerlei Steine in den Weg. Man war sehr entgegenkommend. Ich durfte das Kind jeden Tag besuchen, sie mit zu Spaziergängen nehmen und als das Wetter besser wurde, machten wir eine Bootsfahrt und besuchten den Zoo.“
Martin blickte versonnen zu dem kleinen Mädchen hin, dass die Katze streichelte.
„Ich habe mit der Leiterin des Orphan-House geredet. Ich sagte, ich könne mir vorstellen, die Kleine zu adoptieren, aber ich wunderte mich, dass sie nicht fragte „Darf ich bei dir bleiben?“ oder was in der Art.
Die Leiterin hat mich ziemlich traurig angeschaut. „Das tun diese Kinder nie“, erzählte sie mir. „Sie haben zu viel Angst, die Leute zu verschrecken, die sie manchmal mitnehmen. Die Kinder klammern sich an die wenigen Stunden, in denen sie Zuwendung erhalten, mal umarmt werden und in eine Familie hinein schmecken dürfen.“ Das hat sie mir gesagt.
Da wurde mir ganz anders. Ich dachte: Das machst du! Das ist wie ein Fingerzeig Gottes. Das ist deine Rosi. Jetzt kannst du deinen Kinderschwur erfüllen.“
Martin nickte: „Genau das habe ich getan. Das Kind ist die Tochter eines britannischen Luftschiffers und einer deutschen Luftschifferin. Darum ist das Mädel zweisprachig. Ganz praktisch. Als ich sie nach zwei Wochen fragte, ob sie meine Tochter werden möchte, sagte sie sofort ja. Ihre Mutter stammt hier aus der Gegend und hat dem Kind viel erzählt. Als es hörte, wo mein Hof liegt, gab es kein Halten mehr.
Wir sind dann nach Aachen rüber und von dort aus per Luftschiff nach München. Dort hat es die besten Prothesenmacher, hat man mir gesagt. Tatsächlich hatten die fertige Beine in allen Größen vorrätig. Alles aus leichtem Metall mit Spannfedern und Dämpfern. Caro, die haben bessere Prothesen als wir sie drüben haben! Dort bekam sie auch ihr künstliches Auge.“
Moritz kam mit hochgestelltem Schwanz angelaufen. Das Mädchen hinterdrein.
Am Tisch blieb sie stehen. Sie schaute Caro mit leichtem Silberblick an.
„Hallo“, sagte sie mit glockenheller Stimme. Sie hatte einen entzückenden britischen Akzent. „Guten Tag.“ Sie deutete einen Knicks an. „Bist du die Caro?“
Caro ging es durch und durch. Man sah auf den ersten Blick, dass das linke Auge des Mädchens künstlich war. Sie sah einen goldfarbigen Rand um die dunkelblaue Iris und im Innern der Pupille bewegte sich ein Linsensystem. Dass die Kleine ein künstliches Bein hatte, erkannte man nur am leichten Hinken. Die Kautschukhülle der Prothese wirkte verblüffend echt.
„Hallo Liebes“, sagte Caro. Ihr Herz schmolz. „Ja, ich bin die Caro. Dein neuer Papa und ich sind gute Freunde. Wie heißt du denn?“
„Emma“, sagte das Mädchen.
Caro starrte Martin an: „Das gibt’s ja nicht!“
Er nickte: „Ich sag doch: Ein Fingerzeig Gottes. Als ich den Namen hörte, wusste ich: ich bin nicht zufällig vom Weg abgekommen und in dieser Nebenstraße gelandet.“
Emma trank von ihrer Limonade. Dann hopste sie davon in Richtung Spielplatz. Moritz sauste hinterdrein.
„Können wir bei dir ein Zimmer bekommen?“ fragte Martin. „Wenn nicht, logieren wir am Lufthafen. Oder hast du den Hof komplett einrichten lassen?“
Caro schüttelte den Kopf: „Es wurde nur das gemacht, was du schriftlich bestellt hast. Möbel sind noch keine im Haus, außer die Einrichtung der Küche. Ich gebe euch das Eckzimmer. Das ist unser Schönstes.“ Sie schaute zu, wie die kleine Emma schaukelte. Moritz hatte sich getrollt, um den Garten zu inspizieren. „Die Eule hat ein Kind adoptiert.“ Sie schaute Martin an: „Ist das nicht ein gewisses Hindernis? Ich meine, wenn du eine Frau kennenlernst.“
Er lachte: „Im Gegenteil. In einem Land, in dem viele Leute überhaupt keine Kinder bekommen, ist das eher was Positives.“
„Heute Nachmittag kommen Gäste vom Lufthafen“, sagte Caro. „Die „Frankfurt“ liegt im Hangar zur jährlichen Überholung. Die Mannschaft kommt mit ein paar befreundeten Leuten her. Sie wollen ein bisschen feiern.“ Sie lächelte Martin an: „Ulrike ist auch dabei.“
Martin kratzte sich am Kinn: „Gertrud auch?“
Caro unterdrückte ein Grinsen: „Ja. Gertrud kommt auch.“
„Fein“, sagte Martin. „Dann kann ich ihr mein Kind vorstellen.“
Caro saß ganz still.
Mein Kind.
Das Königreich Bayern war eine geradezu paradiesische Welt im Vergleich zu ihrer alten Heimat. Aber nicht alle Menschen durften Kinder haben. Kinder waren ein Geschenk Gottes und Gott beschenkte nicht alle. Sie war in der vorigen Woche bei Doktor Hoppstätter gewesen und hatte die Frohe Botschaft empfangen.
Martin schaute sie an: „Du siehst so zufrieden aus. So glücklich. Dir geht’s richtig gut hier, was?“
„Ja“, antwortete Caro. Sie legte die Hände auf ihren Bauch: „Ich war beim Doktor. Ich bin im vierten Monat.“
Martin riss die Augen auf: „Wow! Stark!“ Er grinste freundlich: „Glückwunsch! Du hast den Jackpot! Darf ich Patenonkel werden?“
Caro lachte ihn an: „Ja. Aber nur, wenn ich bei Emma Patentante werden darf.“
Er nickte lachend: „Ist gebongt.“

*

Es war Abend. Caros Gartenwirtschaft war gut besucht. Die Luftschiffer feierten ausgelassen. Nachmittags hatte es Kaffee und Kuchen gegeben. Zum Abendessen gab es Fischgerichte und Apfelwein. Caro, Peter und Nelly hatten alle Hände voll zu tun. Caro war froh, dass sie im Dorf noch zwei Hilfskräfte organisiert hatte.
Die Laternen auf den gusseisernen Ständern brannten und verbreiteten ein heimeliges Licht. An den Tischen saßen Leute und unterhielten sich. Auf der kurzgemähten Wiese vor dem Gartenlokal tanzten Paare. Caro sah ihr Patenkind Emma mit Florian dem Sohn des Bäckers tanzen. Trotz ihrer Behinderung tanzte die Kleine erstaunlich flink. Martin hatte den ganzen Nachmittag mit Gertrud Naumann von der „Frankfurt“ getanzt. Im Moment spielte er auf seiner Mundharmonika zur Musik eines Akkordeonspielers von den Luftschiffern. Jemand schlug einen Tambourin.
Zwischendurch hatte Caro die Ausdrucke gelesen, die Martin mitgebracht hatte, die Grüße der Leute auf Sellerie. Sie hatten Caro rührend verabschiedet.
Zwei Hände legten sich auf Caros Schultern. Es war Peter. Er küsste sie auf die Wange. Dann schob er sie sanft vorwärts: „Komm, Liebes. Gönnen wir uns zwei oder drei Tänzchen. Im Moment haben alle Gäste zu Trinken.“
Nur zu gerne folgte sie ihm zum Tanzplatz. In Peters Armen drehte sie sich zu einem Walzer.
Als das Lied zu Ende war, spielte Martin ein Intro auf seiner Mundharmonika. Der Akkordeonspieler fiel ein und dann erklang der flotte Ländler, den Martin am Bahnhof der Schmalspurbahn zum Besten gegeben hatte; damals als Peter zum ersten Mal mit Caro getanzt hatte. Ein warmes Gefühl rieselte durch ihr Herz. Sie kuschelte sich in die Arme ihres Liebsten. Unser Lied. Sie spielen unser Lied.
Im Westen ging die Sonne unter und überzog den Himmel mit flammenden Orangetönen. Das Wasser der Saar leuchtete im Abendlicht und der Widerschein ließ die Bäume am anderen Ufer aufglühen. Ein vorbeifahrender Dampfer ließ zum Gruß sein Schiffshorn ertönen. Die elektrischen Laternen tauchten das Gartenlokal in eine Anzahl gemütlicher Lichthöfe. Die Menschen lachten und tanzten.
Caro war zufrieden. Sie fühlte sich wohl, wie noch nie. Sie und Peter waren ein Paar. Sie wurde eine Mutter. Martin war zurück.
Alles war gut.
Sie hatte viel zurückgelassen, aber sie hatte auch viel dazugewonnen. Ihr neues Leben war besser als das alte – viel besser. Caro war glücklich.
Sie drehte sich mit Peter zur Musik im Kreis und ließ sich fallen. Sie war ganz Glück und Zufriedenheit.
Caro war bereit für ihr neues Leben.

E N D E


Geschrieben von Zaunkönig am 11.11.2014 um 18:54:

Sooo schön, und sooo nass
(die Geschichte, und das Taschentuch nach dem Lesen) smile

Dank auch für die Entstehungsgeschichte der Erzählung.

Viele Grüße
der Zaunkönig


Geschrieben von Stefan Steinmetz am 11.11.2014 um 21:01:

Vielen Dank für die Rückmeldung, Zaunkönig.
Es ist für einen Schriftsteller wirklich schön, zu erfahren, wie die Leser empfunden haben, als sie die Geschichte lasen.
Danke für deinen emotionalen Kommentar.

Ich wünschte, auch andere Leser würden gelegentlich einen solchen Kommentar da lassen.


Geschrieben von carolne1960 am 12.11.2014 um 01:35:

Bin ich niemand? traurig
Oder sieht man meine Komentare nicht??
Egal. Hab mich in meine Ecke verkrümelt und gehäult. Aber nicht aus Frust sondern weils so schön war zu lesen.
Wundervoll. dass sich alles noch zum Guten gewendet hat und Caro sogar ein Kind erwartet. Drück
Hätt mir nur gewünscht, das die Geschichte ein bisschen länger währ.

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Was ist der Mensch - nur ein flüchtiger Gedanke - nicht zu greifen - nicht zu fassen. Stets schweigend mit sich im Gespräch vertieft durforsch er sich und findet sich nie.
Der Traum ist die wahre Wirklichkeit. großes Grinsen


Geschrieben von Stefan Steinmetz am 12.11.2014 um 18:44:

Hallo Caroline
Ich denke doch, dass du weißt, dass ich die eher stummen Leser meine. Augenzwinkern


Geschrieben von carolne1960 am 13.11.2014 um 00:21:

Weis ich ja eh. Kann einen so guten Geschichtenschreiber ja nicht böse sein! Drück

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Was ist der Mensch - nur ein flüchtiger Gedanke - nicht zu greifen - nicht zu fassen. Stets schweigend mit sich im Gespräch vertieft durforsch er sich und findet sich nie.
Der Traum ist die wahre Wirklichkeit. großes Grinsen


Geschrieben von Timi07 am 13.11.2014 um 20:49:

Schön! Schluchz! traurig traurig traurig

Und Emma ist auch wieder da!

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann....

Ja was dann? verwirrt

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