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Geschrieben von Stefan Steinmetz am 29.07.2017 um 18:36:

Das Lehm(10)

Themas schaute seinen Eltern hinterher, als sie zur wöchentlichen Bürgerversammlung gingen. Er wartete, bis kein Erwachsener mehr draußen zu sehen war, dann besuchte er seinen Zwilling unter der Treppe. Er hatte einen Apfel, zwei Möhren und ein paar Bonbons dabei.
„Danke“, sagte „das-unter-der-Treppe“ und nahm die Lebensmittel an. Die beiden Möhren waren zuerst an der Reihe. „Den Apfel hebe ich mir auf. Den esse ich morgen früh, bevor die Leute aufwachen“, sagte Themas´ Bruder. Er schaute Themas durchs Gitter an: „Du warst im Draußen? Wie war es?“
Themas begann zu erzählen. Sein Bruder wollte alles ganz genau wissen. Oft fragte er nach Einzelheiten. Selbst Kleinigkeiten interessierten ihn. Themas wurde ganz komisch zumute. Sein Zwilling war Zeit seines Lebens in das kleine Verlies unter der Treppe eingesperrt gewesen. Er kannte die Welt im Draußen nicht. Er wusste nicht einmal genau, wie das Lehm aussah. Das merkte er, als er davon erzählte, dass demnächst das große Sommerfest im Zentrum des Lehms stattfinden würde.
„Mittensee?“, fragte der Gefangene. „Was ist das?“
„Ein See, der genau in der Mitte des Lehms liegt“, antwortete Themas.
„Was ist ein See?“
„Ein See halt ...“ Themas überlegte. „Du hast bestimmt schon Pfützen vor deinem Gitter gesehen, wenn es geregnet hat. Das passiert selten, aber manchmal fallen Wassertropfen vom Himmel.“
„Ja“, sagte sein Bruder.
„Gut. Nun stelle dir eine sehr große Pfütze vor. Sie beginnt vor deinem Gitter und reicht bis dort hinten hin, ans Haus der Riebers und sie ist so tief, dass dir das Wasser bis zur Brust reicht, wenn du hineinläufst“, verlangte Themas.
Sein Zwilling schaute nach draußen: „Ich kann es mir vorstellen. Das ist ein See?“
Themas schüttelte den Kopf: „Das ist ein Tümpel, bestenfalls ein Teich. Ein See ist riesiggroß. Man kann das jenseitige Ufer fast nicht sehen. Boote können darauf herumfahren.“
„Boote?“
Themas sprang auf: „Ich bin gleich zurück.“ Er rannte ins Haus. Nach zwei Minuten kam er zurück. Er hatte einen Zeichenblock dabei und ein loses Blatt Papier. Das Blatt reichte er seinem Bruder durchs Gitter: „Das ist eine Karte des Lehms. So würde es aussehen, wenn ein Vogel sehr hoch oben am Himmel fliegen und hinabschauen würde.“
Sein Bruder schaute die Karte andächtig an: „Ich kann den Mittensee erkennen.“
„Das Lehm hat einen Durchmesser von ungefähr fünfzig Kilometern“, erklärte Themas. Als sein Zwilling die Kilometerangabe nicht verstand, nahm er wieder kleine Entfernungen zu Hilfe: „Von hier bis zum Gartenzaun der Banbirks sind es zwanzig Meter. Fünfmal diese Entfernung sind hundert Meter. Das Ganze zehnmal genommen ergibt einen Kilometer.“ Er sah, wie sein Bruder sich anstrengte, um sich die Entfernungen vorzustellen. Er blickte auf das Blatt mit der Zeichnung: „Die Dörfer sind sehr winzig. So sieht der hoch fliegende Vogel unser Dorf?“
„Ja“, sagte Themas. „Genau so.“
„Es ist so winzig! Und in Wirklichkeit ist es so groß!“ Andächtig ließ der eingesperrte Junge die Fingerspitzen über die Zeichnung gleiten. „Dann muss dieser See in der Mitte ein gewaltiges Wasser sein. Jetzt kann ich es mir ungefähr vorstellen.“ Er zeigte auf die Ortsbezeichnungen unter dem See und unter den Dörfern: „Was sind das für Zeichen? Bedeuten sie etwas?“
Themas starrte seinen Bruder mit offenem Mund an: „Das sind Buchstaben. Das ist Schrift.“ Plötzlich wurde ihm klar, dass die unter den Treppen eingesperrten Kinder zwar durch Abhören die menschliche Sprache erlernt hatten, aber niemand hatte ihnen Lesen und Schreiben beigebracht. „Es … wie soll ich das erklären? Wenn man es versteht, spricht es zu einem.“
Sein Bruder hob das Blatt an sein linkes Ohr: „Ich kann nichts hören.“
Es hätte komisch sein können, etwas zum Lachen, aber Themas wurde ganz anders, als er seinem Zwilling zusah. Er musste mit Gewalt die Tränen zurückhalten.
„Nicht so“, sagte er mit belegter Stimme. „Es ist ein Sprechen, dass man im Kopf hört, wenn die Augen die Zeichen ablesen.“ Er nahm den Zeichenblock und warf mit dem Bleistift ein paar Buchstaben aufs Papier. Das hielt er seinem Bruder hin: „Du schaust die Zeichen an, aber sie sprechen nicht mit dir. Zu mir sprechen sie und zu jedem anderen Menschen, der Lesen und Schreiben kann.“ Er fuhr die Reihe der Buchstaben entlang und las langsam: „Mein Na-me ist The-mas Irr-lucht. Ich le-be in Lehm-born und bin vier-zehn Jah-re alt.“
Sein Zwilling starrte das Papier an: „Du kannst Papier sprechen lassen!“
„Ja“, sagte Themas. Er deutete auf die Karte und las die Namen der Ortschaften vor.
„Aus sechsundzwanzig Zeichen kannst du alle Wörter unserer Sprache bilden“, erklärte er. „Es kommt darauf an, wie man sie kombiniert.“ Er zeigte auf seinen Namen: „TH-E-M-A-S“, las er ab. „Das Tee ist ein stimmloser Buchstabe. Man liest ihn T. Das E ist stimmhaft, genau wie das A.“
„Aa“, machte sein Bruder. Er suchte die Landkarte des Lehms ab: „Hier ist ein E!“ Er lächelte: „Das muss auch dort sein, denn es ist Lehmborn.“ Er betonte den Vokal E.
Plötzlich kam er ganz nahe ans Gitter und fasste die Hand von Themas. Er schaute ihn flehend an: „Themas! Bitte! Kannst du mir die Buchstaben beibringen? Kannst du mich lesen lehren? Bitte!“
Themas fühlte einen dicken Kloß im Hals aufsteigen. Er wusste, dass sein Bruder nicht mehr lange zu leben hatte und doch wollte er Lesen lernen.
„Ja“, würgte er hervor. „Ich machs. Ich bringe es dir bei, ...“ Am Ende des Satzes herrschte Leere.
Sein Bruder schaute ihn durch die Gitterstäbe an. Er sagte keinen Ton. Er schaute nur.
„Du ...“, begann Themas. „Du … ich … du … du hast keinen Namen! Ich weiß nicht, wie ich dich ansprechen soll.“ Jetzt kamen die Tränen doch noch. Er konnte sie nicht zurückhalten. „Sie haben dir nicht einmal einen Namen gegeben. Du bist nur ein Etwas. Ein eingesperrtes Nichts.“ Themas begann zu weinen. „Ich kann dich nicht mal beim Namen nennen“, schluchzte er. „Mein Bruder hat keinen Namen!“
Sein Zwilling schwieg, bis Themas sich beruhigt hatte.
Eine blasse Hand kam durchs Gitter und fasste Themas am Arm. „Für euch haben wir keine Namen“, sagte die zu helle und zu leisen Stimme aus dem Verlies, „aber untereinander benutzen wir Namen. Deine Freundin Trischa kennt den Namen ihrer Schwester.“
„Ihr gebt euch selbst Namen?“, fragte Themas.
Sein Zwilling nickte. Er sah unendlich traurig aus. „Unsere Mütter geben uns keine Namen. Darum müssen wir uns selbst Namen geben. Wie sonst sollten wir uns untereinander verständigen? Wir nehmen Namen an, die denen unserer frei lebenden Zwillinge ähneln. Die Schwester von Trischa heißt Truschka.“
„Und du?“, fragte Themas.
Sein Bruder schaute ihn an: „Du bist Themas und ich werde von „denen-unter-den-Treppen“ Thimas genannt.“ Er zeigte auf das Blatt Papier, das Themas beschrieben hatte und ließ den Finger unter Themas´ Namen entlang laufen: „TH-E-M-A-S. Wenn man das E wegnimmt und ein I hinschreibt, ist es dann mein Name?“
Themas nickte. Er reichte seinem Zwillingsbruder den Bleistift: „Versuche es!“
Thimas nahm den Bleistift ungeschickt zwischen die Finger. Konzentriert malte er die Buchstaben ab. Wo das E hingehörte, ließ er eine Lücke.
„Jetzt kommt das I“, sagte Themas. „Einfach einen geraden Strich von oben nach unten, nur halb so hoch wie das T am Anfang!“
Sein Bruder malte den Strich auf.
„Und jetzt ein kleines Stückchen über dem Strich ein Punkt“, verlangte Themas.
Sein Bruder malte das I-Tüpfelchen aufs Papier. Dann kontrollierte er die Karte des Lehms. Er hatte sich alle Orte gemerkt. Er konnte sie auswendig aufsagen. „Rötelheim“, sagte er und betonte das I besonders laut. Er lachte Themas an: „Das ist das gleiche Zeichen, das ich in meinen Namen gemalt habe.“
„Geschrieben“, berichtigte Themas. „Man nennt es Schreiben.“
Sein Bruder suchte alle Ortsnamen ab, in den ein I vorkam und zeigte auf die Buchstaben: „Lehmweiler, Südlehmingen, Lehmingen, Mittensee, Landsweiler.“ Dann zeigte er auf den Ort oben links auf der Karte: „Das ist Lehmtal. Ich kann das E in dem Wort erkennen. Es ist das gleiche E wie in deinem Namen Themas.“
„Ja“, sagte Themas. „Man kann alle Worte der Welt aus ein paar Buchstaben zusammensetzen. Ich werde dir beibringen, wie es geht.“ Er musste sich Mühe geben, nicht gleich wieder in Tränen auszubrechen.
„Du musst jetzt gehen, Themas“, sagte sein Bruder. Es ist Zeit. Sie werden bald zurückkommen.“ Er umklammerte die eisernen Gitterstäbe mit den Händen und schaute zu Themas hinaus: „Danke, dass du mir Lesen und Schreiben beibringst, Zwillingsbruder.“
„Schon in Ordnung“, nuschelte Themas. Er stand auf. „Bis demnächst.“ Er ging fort.
„Bis demnächst, Themas“, rief es hinter ihm her.
Abends wollte Themas wach bleiben, um zuzuhören, wie „die-unter-den-Treppen“ die Nachricht verbreiteten, dass der Bruder von Thimas ihm Lesen und Schreiben beibringen wollte. Doch kaum lag er im Bett, fielen ihm die Augen zu.
Er bekam nicht mit, wie der Bericht über seinen Besuch im Draußen die Runde durchs Dorf machte, ebenso wie eine genaue Beschreibung der Landkarte, die er vom Lehm gezeichnet hatte. Auch nicht, wie von Haus zu Haus weitergegeben wurde, dass Thimas Lesen und Schreiben erlernen würde.
Über Letzteres waren die eingesperrten Kinder erfreut und traurig zugleich. Denn Thimas konnte sein Wissen nicht an sie weitergeben. Um Lesen und Schreiben zu lernen reichte es nicht, sich Gehörtes zu merken. Man musste die gemalten Krakel auf dem Papier ansehen können, um zu lernen, sie sprechen zu hören.
Eine neue Frage kam vom anderen Ende des Dorfes: „Kann man die Buchstaben auch in Sand ritzen?“
Als Thimas bejahte, kam kurz darauf die Antwort durch den gesamten Ring von Kerkerkinder zu ihm zurück: „Wenn du zur Gabe für das Lehm wirst, kratze das in den Sand: 'Lehm! Du bist grausam und böse! Du bist ein Kinder mordendes Monster! Alle Kinder unter der Treppe haben ihr Leben lang deinetwegen Todesangst! Du bist ein ekelhaftes Mord-Lehm!' Schreibe es in den Sand! Das dumme Lehm wird es nicht verstehen, aber all die Eltern von eingesperrten Kinder werden es erkennen. Sie werden hören, wie die Buchstaben zu ihnen sprechen. Sie werden hören, wie ihre eigenen, eingesperrten Kinder weinend nach ihnen rufen! Vielleicht laufen dann noch mehr Eltern mit ihren Zwillingen fort, um sie vor dem Tod im Lehm zu retten, anstatt zuzuschauen, wie sie umgebracht werden. Unsere Eltern sollen wissen, dass wir nicht getötet werden wollen. Sie sollen wissen, dass wir in Freiheit leben wollen und uns danach sehen, geliebt zu werden wie alle Kinder auf der Welt. Sie sollen wissen, dass wir ein Leben lang Todesangst haben“
„Ich werde es tun“, gab Thimas zurück. „Ich verspreche es euch! Wenn sie mich holen und ins Lehm treiben, werde ich diese Worte vor den Augen der Menschen in den Sand ritzen.“ Er lehnte am Gitter, dass ihn von der Welt ausschloss und weinte lautlos. Er wusste, dass er sich beeilen musste, die geheimnisvollen Buchstaben zu erlernen. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Bald würde das Lehm ihn als Gabe verlangen. Thimas hatte Angst, schreckliche Angst. Er hatte Angst wie sein ganzes Leben lang. Noch nie hatte er sich so sehr gewünscht, von einer liebevollen Mutter in die Arme genommen zu werden, wie in diesem Moment.

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