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Das Lehm(4)
Sie kamen beim Steilkliff an. Die Glocken von Lehmberg dröhnten übers Land. Die Gläubigen kamen von allen Seiten. Ihr Ziel war die heilige Höhle im Kliff.
Die Leute begrüßten einander. Man unterhielt sich über dem Lärm der Glocken. Viel Zeit blieb nicht. Die Messe würde bald beginnen. Danach war noch genügend Zeit für Gespräche. Alle würden gemeinsam auf der Festwiese bei Lehmberg essen, bevor man schließlich aufbrach, um abends wieder in seinem Dorf zu sein.
Irgendwann schwiegen die Glocken. Alle versammelten sich vor der heiligen Höhle. Es war Zeit für die Messe. Die Menschen stellten sich in halbkreisförmigen Reihen mit dem Gesicht zur Höhle in den Sand.
Vorne im Eingang der Höhle stand auf einer Erhöhung im Gelände der oberste Lehmpriester Mook Orpek mit den Dorfpriestern Bruff Geffel, Fradrich Keplack, Ulaf Tricht, Dathluf Sulter, Gerk Khullrich, Nelder Borkruther und Jindrich Bicker. Direkt bei Mook stand Grutie Umpfbeetl, die junge Lehma.
Mook hob die Arme. Die Höhle bewirkte dass die Stimme des Priesters so verstärkt wurde, dass alle Anwesenden ihn gut verstanden: „Liebe Gemeinde. Wir haben uns versammelt zur vierzehntägigen Messfeier zu Ehren des Lehms. Lasset uns beten!“
Es folgten drei Minuten Stillschweigen, in denen ein jeder sein persönliches Gebet zum Lehm sprechen sollte. Themas betete nicht. Das tat er schon lange nicht mehr. Er war der Meinung, dass das Lehm seine Gedanken nicht hören konnte. Mochte das Lehm ein riesiger lebendiger Organismus sein, der genau spüren konnte, wo auf seiner Oberfläche Menschen sich bewegten, aber Gedanken lesen konnte es nicht. Sonst hätte es gewiss noch viel mehr Leute verschlungen. Das hatten ihm Onkel Jidler und Tante Brilla erzählt.
Er warf einen hastigen Blick nach unten auf seine Schuhe. Dort unten rührte sich nichts. Gut so. Es kam bisweilen vor, dass das Lehm seine Fühler ausstreckte. Dann kroch eine dünne, nasse Schicht Lehm an den Beinen hoch. Themas hatte es mehrfach erlebt und er ekelte sich unbeschreiblich davor. Es war grässlich, die kalte schleimige Berührung zu spüren. Es war, als kröche das Lehm an einem hoch, um in die Seele einzudringen und alles auszuforschen.
Aber es war noch nie vorgekommen, dass ein Gemeindemitglied während einer Messe in die Tiefe gezogen worden war.
Mook Orpek begann seine Predigt. Er erinnerte die Gemeinde an die guten Zeiten, die sie dem Lehm zu verdanken hatte.
„Das Lehm schützt uns“, verkündigte er. „So gehet hin und achtet die Regeln des Lehms. Wer gegen die Regeln des Lehms verstößt, der fällt dem Lehm anheim.“
Es folgte die Geschichte des Auszugs der Gemeinde aus dem bösen Draußen. Themas hörte kaum zu, wie der Priester den Einzug ins Lehm vortrug.
„Die Gemeinschaft des Lehms entstand vor vielen Jahren“, sprach Mook Orpek mit weit tragender Stimme. „Menschen kamen zusammen, um ein besseres Leben im Glauben zu führen. Und es begab sich, dass unsere Gemeinschaft im Draußen in große Not geriet. Die Gemeinde wurde bösen Verleumdungen ausgesetzt und erlitt Verfolgungen.
Da zogen sie aus, eine neue Heimat zu finden, wo sie nicht verfolgt würden von den Schlechten und den Boshaften, wo sie leben konnten in Einfachheit und ohne Hochmut, wie ihr Glaube es verlangte. Sie zogen endlos lange dahin und sie fanden kein Zuhause. Wohin sie auch kamen, wies man sie ab. Niemand wollte ihnen Heimstatt gewähren. So wanderten sie weiter und sie kamen in die tiefen Wälder des Ostens. Dort fanden sie das Lehm.
Einst kam ein fliegender Bote aus dem Himmel herab. Er legte die Wälder nieder und öffnete die Erde. Ein Same ging aus dem fliegenden Himmelsboten hervor und er wuchs und gedieh und siehe, das Lehm entstand.
Und die Heilige Lehma trat vor und sie bat das Lehm um Erbarmen für die Gläubigen. Und das Lehm erhörte die Lehma.
Das Lehm nahm die Gläubigen auf in seiner Gnädigkeit. Das Lehm gab ihnen eine neue Heimat. Das Lehm schützte sie vor den Schlechten und vor den Boshaften, die sie verfolgten und das Lehm ließ nicht zu, dass die Häscher die Gläubigen verfolgten, sondern es ging hin und es verschlang die Schlechten und die Boshaften, wenn sie die Grenze überschritten.
So wurde das Lehm den Gläubigen zur Heimat.
Sie gingen hin und weideten ihre Herden und sie bestellten ihre Gärten und Äcker. Sie änderten ihre Namen, auf dass sie nicht mehr klangen wie die der Sünder im Draußen, denn sie wollten nicht sein wie diese. Sie legten alles Alte ab und sie wurden neue Menschen mit neuen Namen.
Das Lehm kühlte sie im Sommer und wärmte sie im Winter. Es spendete ihren Schafen und Kamelen Weide. Es schenkte den Gläubigen die Inseln für ihre Dörfer. Im Mittensee gediehen Plattfische und die großen blauen Krebse, wie es sie sonst nirgends gibt auf der Welt. Es gab den Gläubigen Ton für Ziegelsteine. Es schuf den Gläubigen Wege durchs Lehm, welche die Ungläubigen nicht gehen können. Das Lehm schenkte den Menschen Kupfer und Zinn für den Bronzeguss.
Kein Ungläubiger kann ins Lehm eindringen. Versucht er es, verschlingt ihn das Lehm.
Nur Lehmgeborene können die Wege des Lehms gehen.
Das Lehm schützt uns.
Und weil das Lehm uns schützt, so wollen wir ihm unsere Gaben darbringen in Demut und Liebe, denn es gebührt dem Lehm, dass man ihm opfert und dient.
Denkt immer daran:
Wer das Lehm nicht ehrt, ist des Lehms nicht wert.
Das Lehm ist alles. Du bist nichts.
Diene dem Lehm, denn das Lehm dient dir.
Das Lehm schützt uns. Das Lehm bewahrt uns. So war es immer. So wird es immer sein.“
So, so, dachte Themas. Er fühlte sich rebellisch wie lange nicht mehr. Kupfer und Zinn bekommen wir also vom Lehm, damit wir Gebrauchsgegenstände aus Bronze herstellen können. Aber Eisen dürfen wir nicht haben. Dabei ist Stahl viel besser als Bronze. Draußen ist alles aus Eisen, was bei uns aus Bronze ist. Eisen ist ein viel besseres Metall. Onkel Jidler hat es mir gesagt.
Sein Onkel hatte ihm auch gesagt, dass das Lehm kein Eisen vertrug. Eisen war schädlich für das Lehm. Es mied Eisen. Umso seltsamer fand Themas die Tatsache, dass die Priester und die Lehma Arm- und Knöchelketten aus Eisengliedern trugen. Auch die Gitter unter den Treppen waren aus Eisen gemacht.
Er musste an den Damm denken, den die Menschen von draußen im Jahre 1906 errichtet hatten. Allen Warnungen der Lehmleute zum Trotz hatten die Holzfäller von draußen angefangen, einen Damm aufzuschütten. Sie waren beinahe dreihundert Meter weit ins Gebiet des Lehms vorgedrungen, ohne dass etwas geschah.
Themas war damals noch klein gewesen und er hatte nicht viel mitbekommen. Aber die Erwachsenen waren in heller Aufregung. Da kamen Menschen vom Draußen und sie drangen ins Lehm ein. Warum tat das Lehm nichts dagegen? Schützte es seine Gemeinde nicht länger vor den schlechten Menschen des Draußen?
Als er älter war, hatte Tante Brilla es ihm erzählt: „Das Lehm lag still und ließ die Außenstehenden ihren Damm bauen. Es rührte sich nicht, bis die Leute von draußen eiserne Eisenbahnschienen auf dem Damm verlegen wollten. Da öffnete sich die Erde und verschlang alles: Den Damm, die darauf ausgelegten Eisenbahnschwellen aus Holz und die Leute, die auf dem Damm arbeiteten. Brodelnd ging alles im Lehm unter. Nur die Werkzeuge spie das Lehm wieder aus, die Pickel und Schaufeln aus Eisen. Noch heute ist dort die Erde verbrannt und kahl, wo das Lehm mit dem Eisen in Kontakt kam. Das Lehm verträgt kein Eisen. Es meidet Eisen, wo es kann.“
Themas schaute die Priester und die junge Lehma an. Alle trugen an den Knöcheln schwere Ketten aus Eisengliedern, ebenso an den Handgelenken.
Schützen sie sich damit vor dem Lehm?, überlegte er. Wer solche Ketten trägt, der kann nicht im Lehm einsinken. Das Lehm meidet Eisen. Ganz schön schlau von diesen Leutchen, Eisen als Schmuck zu tragen.
Mook Orpek trat hinter die junge Lehma. Er legte dem Mädchen die Hände auf die Schultern: „Seht, liebe Gemeinde, unsere ehrwürdige Lehma. Sie wird nun vortreten und in Kontakt mit dem Lehm treten und uns den Willen des allumspannenden und allwissenden Lehms mitteilen.“
Die Lehma trat von dem Sockel herunter in den Sand vor der still wartenden Gemeinde. Themas hatte ein spöttisches Grinsen unterdrückt, als Mook Orpek sie ehrwürdig nannte. Man nannte alte Leute ehrwürdig. Die alte Lehma Bescha Birkendruff war ehrwürdig gewesen, sogar altehrwürdig. Bescha war über neunzig Jahre alt, als sie im Bett sanft entschlief.
Grutie Umpfbeetl, die neue Lehma, vor fünf Jahren erwählt, war ein dünnes kleines Mädchen von gerade mal elf Jahren. Mit sechs Jahren war sie zur Nachfolgerin der alten Lehma bestimmt worden und lebte seither mit den Priestern in der heiligen Höhle. Grutie war ein eingebildetes, herrschsüchtiges Ding. Sie war unduldsam und wollte immerzu bestimmen. Die Priester verehrten sie. Sie katzbuckelten vor der neuen Lehma, wohlwissend, dass sie ihnen jederzeit ihre Gunst entziehen konnte, wenn es ihr einfiel.
Es hieß natürlich, dass es der Wille des Lehms sei, wenn die Lehma einen Urteilsspruch fällte, aber Themas dachte sich seinen Teil. Onkel Jidler und Tante Brilla hatten ihm viel erzählt.
Er beobachtete wie Grutie vor die Gemeinde trat. Mit kleinen zierlichen Schritten tapste sie über den Sand. Sie trug keine Schuhe. Sie war barfuß. Das war so, damit sie stets in direktem Kontakt mit dem Lehm sein konnte. So sagten die Priester.
Grutie blieb stehen. Themas schaute genau hin. Er sah, wie die Füße des Mädchens im Boden einsanken. Langsam saugte das Lehm sie in sich ein. Die kleine Lehma sank in den sumpfigen Grund, bis zu ihren eisernen Knöchelketten. Mit geschlossenen Augen stand sie da. Es sah aus, als lausche sie angestrengt. Themas hätte nicht sagen können, ob es nur Schau war oder ob Grutie tatsächlich Botschaften vom Lehm empfing. Es kam ihm oft so vor, als ob Grutie einfach nach Belieben Sprüche aufsagte. Sie liebte es, Befehle zu erteilen und Menschen herum zu hetzen.
Die jungen Lehma wurde erwählt, wenn die alte Lehma starb. Dann mussten alle Mädchen im Alter von sechs Jahren in Lehmberg vor der heiligen Höhle zusammenkommen. In einfachen Leinentunikas standen sie dann barfuß im Sand und das Lehm wählte eine Nachfolgerin für die verstorbene Lehma.
Themas erinnerte sich noch gut an Gruties Erwählung. Sie hatte im Sand gestanden und blanke Angst hatte aus ihren aufgerissenen Augen geleuchtet. Sie hatte Angst wie alle anderen Mädchen auch. Denn das Lehm holte sich bei der Wahl der neuen Lehma manchmal einige von den Mädchen als Gabe. Die Priester sagten, diese Mädchen hätten unreine Gedanken gehabt und ihre Seele sei voller Sünde gewesen. Darum habe das Lehm sie verschlungen. Niemand konnte sagen, wen es treffen würde.
Es ging blitzschnell. Der eben noch feste Bodengrund unter den Füßen eines Mädchens verwandelte sich in Sumpf und er verschlang das arme Kind in wenigen Sekunden.
Bevor Grutie als neue Lehma ausgewählt wurde, verschlang das Lehm zwei Mädchen dicht neben ihr. Dann sank Grutie in den Boden ein. Sie gab einen erschrockenen Laut von sich und dann machte sie sich ins Höschen. Der Urin lief an ihren dünnen Beinen hinunter und Grutie öffnete den Mund zu einem Entsetzensschrei.
Dann wurde der Boden fest. Das Mädchen stand bis zu den Waden im Lehm, die Augen aufgerissen, mit sperrangelweit offenstehendem Mund.
„Sie hat dem Lehm geopfert“, rief einer der Priester. Damals hatte Themas das noch geglaubt. Später war ihm klargeworden, dass Grutie sich vor lauter Angst eingepisst hatte.
Das Mädchen hatte angefangen, am ganzen Leib zu zittern. Dann waren kaum verständliche Worte aus seinem Mund gekommen.
„Das Lehm spricht!“, rief der oberste Priester Mook Orpek. „Das Lehm spricht durch den Mund unserer Lehma zu uns! Das Lehm hat seine neue Lehma gewählt.“
So war Grutie Umpfbeetl zur Lehma geworden. Sie lebte fortan bei den Priestern in der heiligen Höhle und sie reiste mit ihnen durchs Lehm und besuchte die Dörfer. Dort erteilte sie den Dorfbewohnern Ratschläge und sprach zu ihnen mit der Stimme des Lehms. Sie verkündete den Willen des Lehms. Und sie ließ sich hinten und vorne bedienen.
Grutie öffnete die Augen. Sie hob die Arme und rief: „Das Lehm spricht zu mir. Höret, was das Lehm zu sagen hat!“
Völlige Stille herrschte auf dem weiten Platz. Rund zweitausend Menschen lauschten. Themas sah Furcht in so manchem Gesicht. Rallie Hoekker hatte sich gegen das Lehm versündigt. Was, wenn das Lehm Gaben zu seiner Besänftigung verlangte?
„Eine von uns ging fehl!“ Die dünne hohe Kinderstimme der Lehma trug erstaunlich weit. „Eine ging in die Irre! Eine hat die Gesetze gebrochen! Sie ist des Lehms! Das Lehm nahm sie und es schickte nur ihre Kleider zurück an den Rand der Straße. Das Lehm ist zutiefst traurig. Das Lehm ist entsetzt. Warum ging diese Frau fehl? Warum trat sie die Güte des Lehms mit Füßen?“
Weil sie verhindern wollte, dass einer ihrer Zwillinge unter der Treppe eingesperrt und eines Tages dem Lehm geopfert wird, du Zicke!, dachte Themas. Er musste sich beherrschen. Er gab sich alle Mühe, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen. Rallie Hoekker wollte nicht, dass eins ihrer Kinder zur Gabe an das Lehm wurde. Das wussten alle! Aber niemand sagte ein Wort. Themas sah nichts als Furcht in den Gesichtern um sich herum. Alle hatten sie Angst.
Er sah die Lehma an. Grutie Umpfbeetl hatte keine Angst. Sie schien die Situation zu genießen. Sie hatte in diesem Moment Macht über zweitausend Seelen. Alle schauten sie an und hofften, sie möge keine Strafen verkünden.
„Das Lehm ist entsetzt“, rief Grutie. „Das Lehm leidet. Das Lehm ist tieftraurig.“
Hatten wir schon, dachte Themas. Los! Sag deinen Spruch auf! Fordere ein Opfer, du Zicke!
Dann fiel ihm ein, dass es seinen Zwilling unter der Treppe treffen könnte. Genau in diesem Moment starrte die Lehma ihn an. Themas erschrak. Konnte das Mädchen fühlen, dass er rebellische Gedanken hatte? Hatte er für einen Moment sein Gesicht nicht unter Kontrolle gehabt? Er schaute möglichst neutral zurück. Grutie wandte den Blick ab. Sie starrte andere Leute an. Minutenlang tat sie nichts anderes.
Sie will, dass alle vor Angst zittern, dachte Themas. Sie liebt das! Was für ein gemeines kleines Ding! Ekelhafte, herrschsüchtige Suse!
Aber ihm war angst und bange, wenn er daran dachte, dass das Lehm seinen Bruder als Gabe erwählen konnte.
Bitte nicht!, dachte er. Oh, bitte nicht!
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