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Geschrieben von Stefan Steinmetz am 08.07.2017 um 17:26:

Das Lehm(2)

Themas Irrlucht streifte durchs Lehm. Er hatte außerhalb von Lehmborn nach Rötel gegraben, an der Stelle, die er zwei Wochen zuvor entdeckt hatte, ganz hinten, jenseits der letzten Getreidebeete, wo das knorrige Gebüsch wuchs, das die Tonbrenner schnitten, um ihre Brennöfen zu heizen, in denen sie aus Lehm irdene Gefäße herstellten.
Themas hielt Ausschau nach Kräutern und er gab acht auf freie sandige Stellen. Sah er eine sanfte Delle im Sand, suchten seine Augen nach einem kleinen Hügel dort in der kleinen Senke und nach etwas, das wie Grashalme aussah. An solchen Stellen konnte sich ein Horro verbergen. Man musste aufpassen im Lehm. Man musste ständig aufmerksam sein.
Themas strich sich das Haar aus dem Gesicht. Er behielt die Umgebung im Auge.
Themas war vierzehn Jahre alt, ein schlaksiger hochaufgeschossener Junge mit schwarzem Haar und hellbraunen Augen. Er wusste genau, wie er aussah – wie „das-unter-der-Treppe“. Wie der Zweitling, über den nicht gesprochen wurde.
Nein, über „die-unter-der-Treppe“ sprach man nicht. Sie waren da und wurden notdürftig versorgt, aber sie gehörten nicht zur Gemeinschaft der Menschen. „Die-unter-der-Treppe“ waren des Lehms. Sie gehörten dem Lehm.
Themas kam zu einem Bach, einem flachen Rinnsal, das Richtung Inneres Lehm floss. Immer floss das Wasser nach innen. Die Bäche waren wie oberirdische Adern des Lehms. Es pumpte das Wasser unterirdisch vom Mittensee aus nach außen und es floss in kleinen Rinnsalen durch die Sandlandschaft mäandernd ins Zentrum des Lehms zurück.
Die kleinen Rinnsale plätscherten überall durch Sandfelder, Heidekrautflächen und Wiesen. Sie veränderten ihren Lauf manchmal täglich und selbst die größeren Bäche, zu denen sich die Rinnsale vereinigten, waren nicht unveränderlich. Wie die Wege. Nichts im Lehm war unveränderlich.
Themas sprang über das Bächlein, das keine zwei Zentimeter tief war, und setzte auf der anderen Seite seinen Weg fort nach Lehmborn, wo er lebte. Er lief durch eine Sandlandschaft in der überall Heidekrautpolster wuchsen. Während er weiter lehmeinwärts lief, verwandelte sich das Land allmählich in eine Graswiese.
Themas kam zum Lehmbach, einem größeren und tieferen Bach, der an seinem Heimatdorf vorbei floss. Er folgte dem Wasserlauf nach Norden und stieß hinter einer Bachbiegung auf eine Herde Schafe und ihre Hirten. Es waren Mork und Preta Ärlemon mit ihren Kindern Kethrin, Teele, Jieny und Dathluf. Kethrin war so alt wie Themas, Teele war elf, Jieny sieben und der kleine Dathluf fünf.
Themas warf der siebenjährigen Jieny einen scheuen Blick zu. Das Mädchen war wie er. Es hatte einen Zweitling, ein „unter-der Treppe“, gehabt. Gehabt. Denn beim Winterlehmfest war Jienys Zweitling als Wintergabe ausgewählt worden. Grutie Umpfbeetl, die derzeitige Lehma, hatte eine Vision gehabt und verkündet, dass Jienys Zweitling vom Lehm erkoren worden war.
Themas dachte nicht gerne an das Lehmfest zurück. Er dachte an keines der Feste gerne zurück, bei denen Zweitlinge dem Lehm übergeben wurden.
Er schob sich zwischen den Schafen hindurch, die das kurze Gras abweideten. Einige Kamele waren bei den Tieren. Ihr Fell war rötlichbraun. Die Schafe hatten Wolle von beige bis dunkelbraun. Themas grüßte den Schäfer Mork und seine Frau Preta.
Mork grüßte freundlich zurück: „Das Lehm schütze dich, Themas Irrlucht.“
Themas schaute die Kinder der Schäferfamilie mit leisem Neid an. Kethrin, Teele, Jieny und Dathluf lebten mit ihren Eltern frei und ungebunden. Sie zogen kreuz und quer durchs Lehm, immer auf der Suche nach guten Weiden für ihre Tiere. Nur zu den Schultagen begaben sich die Kinder in eins der Dörfer des Lehms. Die vier Kinder sahen viel in ihrem Leben. Sie wanderten mit ihren Eltern und der Herde überall durchs Lehm. Sie kamen sogar bis weit in den Norden, jenseits von Rötelheim. Themas wäre gerne mit ihnen gezogen. Als Kind hatte er den Wunsch geäußert, Schäfer zu werden. Seine Eltern hatten ihm versprochen, seinen Wunsch den Priestern zu melden. Vielleicht würde das Lehm ihn zum Schäfer erwählen, wenn der Tag der Erwachsenenweihe gekommen war.
Jienys Zweitling hatte bei fremden Leuten unter der Treppe gelebt.
„Sei vorsichtig“, warnte Mork, „dort hinten, nicht weit vom Bachlauf, liegt ein Horro in einer Senke auf der Lauer. Es ist vielleicht besser, wenn du dich weiter vom Bach entfernst.“
„Danke für den Hinweis“, sagte Themas. „Ich werde die Richtung ändern. Ich habe keine Lust auf eine Begegnung mit einem Horro.“
„Das Lehm schütze dich, Junge“, sprach Mork Ärlemon. „Das Lehm schützt uns. Das Lehm ist gut. Bald ist der Tag der Frühlingsgabe.“
Themas sah, wie die kleine Jieny die Augen senkte und den Boden anstarrte. Ihre Mutter Preta presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Themas erkannte den Schmerz in den Augen der Frau.
Die also auch, dachte er bei sich, während er weiterlief. Viele sind wie Preta. Sie schaffen es nicht, „das-unter-der-Treppe“ als nicht zur Familie gehörig anzusehen.
Ein Kamel kam aus einem dichten Gestrüpp hervor und trabte grunzend an Themas vorbei zu seine Herde. Er musste ausweichen, damit das Tier ihn nicht umrannte. Es war in Panik, weil es zu weit von seiner Herde entfernt gewesen war. Themas sah das rötlich-braune Tier zur Herde laufen.
Die Schafe und Kamele blieben stets dicht bei ihren Menschen. Sonderte sich ein Tier ab, konnte es passieren, dass es den festen Boden unter den Hufen verlor und vom Lehm verschlungen wurde. Nur Menschen konnten erkennen, ob der Untergrund sicher war.
Einen halben Kilometer weiter erkannte Themas nahe beim Bach einen verräterischen kleinen Hügel mit einigen vereinzelten Grasbüscheln inmitten einer sandigen Senke. Er machte einen großen Bogen um die Stelle, an der der Horro unter dem Sand vergraben auf Beute lauerte.
Nach einer halben Stunde kam er zum Dorf. Lehmborn erhob sich auf mehreren flachen Hügeln, die einen Meter aus dem Lehm aufragten. Die flachen, einstöckigen Ziegelhäuser duckten sich auf dem roten Sand. Sie waren mit Tonziegeln gedeckt. Die Häuser waren von fruchtbaren Gärten umgeben. Rings um das Dorf lagen kleine Felder mit Getreide, Kartoffeln und Rüben.
Lehmborn war eins von acht Dörfern im Lehm. An die dreihundert Seelen lebten hier.
Themas kam am Bürgermeisterhaus vorbei, dem einzigen zweistöckigen Gebäude. Die Bürgermeisterfamilie lebte im ersten Stock. Unten gab es den großen Gemeinschaftsraum, wo die Dorfgemeinde sich für Versammlungen und Feiern traf.
Themas sah das kleine Eisengitter unter der Doppeltreppe. Er wandte den Blick ab und lief nach rechts zu seinem Elternhaus. Auch dort gab es die doppelte Treppe mit dem kleinen Raum darunter. Die Öffnung war mit einem Eisengitter verschlossen. Themas erkannte einen Schemen im Dunkel dort unter der Treppe, wo „das-unter-der-Treppe“ lebte, sein Zweitling. Immer wenn er die vergitterte Öffnung sah, hatte Themas ein flaues Gefühl im Unterleib.
Jedes Haus im Dorf hatte eine solche Doppeltreppe mit einem kleinen Verlies darunter. Nicht alle kleinen Räume unter den Treppen waren besetzt.
Im Dorf herrschte Aufregung. Leute rannten hin und her. Sie gestikulierten wild und sie redeten durcheinander.
Fitchell Derber, der Freund von Themas, kam zu ihm gerannt: „Themas! Jemand hat sich verirrt! Sie bilden eine Suchmannschaft!“
Themas bemühte sich, eine möglichst betroffene Miene aufzusetzen. „Tatsächlich? Wie furchtbar! Weiß man schon, wer es ist?“
„Es ist Rallie Hoekker aus Lehmkaul.“
Themas wunderte sich nicht im mindesten. Rallie Hoekker also; Mutter von Zwillingen. Waren es nicht fast immer die Eltern von Zwillingen, die sich „verirrten“? Er erinnerte sich, dass die zwei Kleinen von Rallie kurz vorm Abstillen gewesen waren.
Wie bei Onkel Jidler und Tante Brilla! Die haben sich auch „verirrt“. Ich bin gespannt, ob Rallie es schafft.
Jidler und Brilla Lerong waren ein Jahr zuvor verschwunden. Sie wurden nie wieder gesehen und seitdem durfte man nicht mehr über sie sprechen. Sie hatten sich „verirrt“ und waren weg; im Gegensatz zu Leuten, die sich „verirrten“ und „im Lehm umkamen“. Von denen fand man dann eines Morgens die Kleider, die das Lehm an einen der Dammwege angespült hatte.
Ihr könnt mir viel erzählen!, dachte Themas. Er sah zu, wie eine Suchmannschaft gebildet wurde und in Richtung Lehmkaul abrückte. Von wegen verirrt!
Er wusste ganz genau, dass Rallie Hoekker geflohen war; mitsamt ihren beiden kleinen Zwillingen. Themas wünschte ihr, dass sie es geschafft hatte. Er lief die Treppe hinauf und ging in die Küche. Dort präsentierte er den kleinen Henkelkorb mit Rötel seiner Mutter: „Sieh Mutter, ich habe am Rand allerbesten Rötel gegraben. Die Qualität ist so gut, dass ich ihn verkaufen kann, denke ich. Beim nächsten Mal darf ich ja mit ins Draußen gehen.“
Seine Mutter putzte Löwenzahn am Küchentisch. Sie machte ein verkniffenes Gesicht. Gewiss hatte sie mitbekommen, dass jemand sich „verirrt“ hatte. Dann sah sie immer so aus.
Themas stellte den Rötelkorb ins Regal und half beim Putzen des Löwenzahns. Aus den gezahnten Blättern würde die Mutter einen schmackhaften Salat bereiten. Die Wurzeln wurden beiseite gelegt. Die wurden getrocknet und geröstet und ergaben mit kochendem Wasser übergossen ein wohlschmeckendes Heißgetränk.
Nach dem Salatputzen gab seine Mutter ihm das Körbchen mit dem Gemüseabfall: „Da, bring es ins Lehm.“ Themas nahm den Korb. Im Gehen verneigte er sich vor der Lehmastatue in der Küchenecke: „Lehma, schütze mich. Schütze meine Familie und schütze dieses Haus.“ Dann lief er nach draußen.
Nachdem er die Treppe hinunter gestiegen war, zögerte er. Er schaute sich um, ob ihn jemand beobachtete. Dann bückte er sich und reichte die Möhre durch das Gitter, die er heimlich in der Küche stiebitzt hatte: „Nimm! Rasch!“ Eine bleiche Hand griff nach der kleinen Rübe. Themas ging weiter, als wäre nichts gewesen. Sein Herz klopfte wild.
Er hatte es wieder getan. Er hatte „dem-unter-der-Treppe“ etwas zu Essen gereicht. Vor einem Monat hatte er damit angefangen, dem Zweitling im Verlies gelegentlich einen Happen zuzustecken. Das war strengstens verboten. Nur die Mutter durfte „es“ füttern. Wenn sie Themas erwischte, würde sie ihm die Hammelbeine langziehen. Es war ihm nicht erlaubt, mit „dem-unter-der-Treppe“ Kontakt aufzunehmen.
Wenn er früher, als er noch jünger war, Interesse an seinem Zweitling gezeigt hatte, hatte ihn seine Mutter schimpfend davongejagt. Er musste aus einiger Entfernung zuschauen, wie sie „es“ einmal pro Woche aus dem Verlies holte und von Kopf bis Fuß abwusch und „ihm“ neue Lumpenkleidung überzog. Das alte Zeug wurde hinterm Haus in einem Bronzekessel ausgekocht.
Bevor Themas in die nächste Gasse einbog, schaute er zum Haus zurück. Er sah ein Augenpaar zwischen den Gitterstäben hindurch herausschauen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Nur gut, dass „es-unter-der-Treppe“ nicht sprechen konnte, sonst hätte „es“ womöglich der Mutter erzählt, dass Themas ihm Essen zusteckte.
Themas bog um die Ecke. Er stieß beinahe mit Trischa Banbirk zusammen, der Tochter des Windmüllers von Lehmborn. Die Mühle der Banbirks stand auf dem höchsten Hügel des Dorfes und ihre großen Flügel drehten sich träge im sanften Wind, wenn das Getreide der Dörfler gemahlen wurde.
„Hallo Trischa“, sagte Themas. „Ich bringe Küchenabfälle ins Lehm.“
„Ich komme mit“, sagte das Mädchen und gesellte sich zu ihm.
Themas war es recht. Seit einiger Zeit stellte sich ein Gefühl von Freude ein, wenn er Trischa begegnete. Er konnte es sich nicht recht erklären. Früher war sie eins von vielen Kindern im Dorf gewesen, aber seit ein paar Wochen bekam er Herzklopfen, wenn er Trischa sah. Sie war ein Jahr jünger als er, hatte dichtes braunes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte und honigfarbene Augen. Wenn sie ihn mit diesen Augen ansah, wurde es Themas ganz anders.
„Hast du gehört?“, fing Trischa an. „Jemand hat sich verirrt.“
„Ja, ich habe es gerade erfahren, als ich vom Rötelsammeln kam. Es ist Rallie Hoekker aus Lehmkaul.“
Trischa schlug eine Hand vor ihren Mund: „Rallie Hoekker?“ Ihre Augen wurden groß. „Die hat doch ...“ Sie stockte. Hastig sah sie sich um. „Zwillinge!“, wisperte sie.
„Ja“, sagte Themas. „Hat sie.“ Deswegen ist sie ja abgehauen, dachte er, aber das durfte er nicht laut sagen. Wahrscheinlich wusste Trischa nicht Bescheid. Wie denn auch? Sie kannte nur die Version, die die Priester ihr vorgesetzt hatten.
Themas hingegen hatte spezielle Informationen. Seine Tante Brilla hatte ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit so einiges erzählt, bevor sie mit ihrem Mann und den Zwillingen das Lehm verlassen hatte.
Sie kamen zum Dorfrand und schritten hinaus in die Felder und Beete bis zu der Senke mitten im Lehm. Es war eine kreisrunde Vertiefung im Sand, außen von niedrigen Heidekrautpflanzen eingerahmt. Themas warf die Küchenabfälle in hohem Bogen in den Kreis. Wo immer sie landeten, verschwanden sie schnell unter dem Sand. Das Lehm nahm die Gabe an. Es verschlang alles.
Die Dörfler warfen alle Abfälle in die kreisrunde Senke. Auch die Toten wurden hier dem Lehm übergeben. Denn der Mensch kam aus dem Lehm, wenn er geboren wurde und er ging zum Lehm zurück, wenn sein Leben endete. So stand es im Buch des Lehms.
„Ich mache mir Sorgen um Rallie Hoekker“, sagte Trischa. Sie sah elend aus. „Es ist schrecklich, wenn sich jemand verirrt. Es kann so viel geschehen. Sie könnte einem Horro zum Opfer fallen oder in eine sumpfige Stelle geraten. Es ist gefährlich für einen Menschen, wenn er sich verirrt hat. Wir werden morgen während der Messe für Rallie beten.“
Von weit draußen näherte sich der Suchtrupp.
„Sieh nur!“, sagte Trischa. „Sie sind zurück. So früh schon! Komm! Lass uns ihnen entgegen gehen. Vielleicht haben sie Rallie gefunden.“ Sie lief los. Themas folgte ihr. Sie rannten über den Sand.
„Habt ihr sie gefunden?“, rief Trischa, als sie bei dem Trupp ankamen.
Otleff Stuffke, der Stellvertreter des Bürgermeisters, der die Leute anführte, schüttelte den Kopf: „Sie hat sich verrirrt und ist umgekommen. Sie ist des Lehms. Man fand ihre Kleider angeschwemmt am Dammweg nach Lehmkaul. Rallie Hoekker lebt nicht mehr. Es ist ein großes Unglück für uns alle. Morgen wird der Priester während der Messe darüber sprechen. Rallie Hoekker ist fehlgegangen. Wir werden das Lehm um Vergebung bitten.“
„Wie schrecklich!“, sagte Trischa. „Rallie Hoekker ist tot. Sie hat sich verirrt und ist umgekommen.“
Von wegen!, dachte Themas. Nicht umgekommen. Das Lehm hat sie getötet! Weil sie fortgehen wollte! Das lässt das Lehm nicht zu! Ich weiß es von Tante Brilla.
Er ging nach Hause. Er wollte nichts mehr hören.

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